Schriftlichkeit

Schrift und Schriftlichkeit

Forschungsgeschichte der Schriftwissenschaft - Glossar zur Schriftlinguistik - Schriftgeschichte - Regeln der Rechtschreibung - Prinzipien der Orthographie - Orthographiegeschichte - Modell des kindlichen Schriftspracherwerbs - Modell des Leselehrens im Kindesalter - Modell des Leselehrens im Erwachsenenalter

Orthographiegeschichte

1927

Gründung der Prager Schule: Josef Vachek u. a. wenden sich gegen die Abhängigkeitsthese: Schrift ist eine eigenständige Verwirklichung von Sprache

1974

Gründung der Forschungsgruppe Orthographie an der Akademie der Wissenschaften (DDR), federführend: Dieter Nerius

1981

Gründung der Studiengruppe Geschriebene Sprache in Bad Homburg

1985

Einrichtung des Sonderforschungsbereichs Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Wolfgang Raible); Schriftenreihe: ScriptOralia

1994

Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft in Freiburg: Thema Sprache & Schrift; Erster Halbband des Handbuchs Schrift und Schriftlichkeit

1996

Zweiter Halbband des Handbuchs Schrift und Schriftlichkeit

Glossar zur Schriftlinguistik

Allographen

Schreibtechnische Varianten eines Graphems (a, a, a)

Allophone

Unterschiedliche lautliche Verwirklichungen eines Phonems (Zäpfchen-r, Rachen-r, Zungen-r)

Binnengroßschreibung

Großschreibung eines Buchstabens in der Wortmitte (ScriptOralia)

Bustrophedon

Wechsel der Schriftrichtung beim Zeilenwechsel (von rechts nach links - von links nach rechts, nach der Art des namengebenden Ochsenpflugs)

Determinativum

bedeutungstragender Teil eines Schriftzeichens

dextrograd

Laufrichtung der Schrift von rechts nach links

diakritisches Zeichen

graphischer Zusatz zu einem Schriftzeichen, das der weiteren Differenzierung dient (é, è, ê)

Digraph

Buchstabenverbindung aus zwei Buchstaben, die einen Laut vorstellen (ck)

Futhark

Schriftzeichen der nordischen Runenschrift, benannt nach den ersten Buchstaben des Alphabets

Gemination

Verdopplung von Konsonanten oder Konsonantenbuchstaben

Glottographie

Verbindung von Laut- und Bedeutungsebene

GPK-Regeln

siehe: Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln

Graph

Kleinste segmentale Einheit des Schriftsystems (<s> ist ein Graph im Graphem sch)

Graphem

Kleinste bedeutungstragende Einheit des Schriftsystems

Graphematik

Wissenschaft von den unterscheidenden Merkmalen des Schriftsystems

Grapheminenventar

Gesamtheit aller Grapheme einer Einzelsprache abzüglich der nur in Fremdworten vorkommenden Grapheme (im Deutschen: c, y)

Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln

Regeln für die wechselseitige Zuordnung von Graphem und Phonemen

Graphostilistik

Einsatz schreibtechnischer Mittel zur Gestaltung von Texten (Binnengroßschreibung, Kleinschreibung der Nomina)

Hangul

Koreanisches Schriftzeichen

Hanzi

chinesische Schriftzeichen

Hieroglyphen

Ägyptische Schriftzeichen, zunächst Piktogramme, später Konsonantenzeichen

Hilfszeichen

Zeichen, die an oder in Wortformen stehen (er hab' / d. h.)

Hiragana

Japanische Silbenschrift

Homographie

identische Schreibung bedeutungsverschiedener Wörter (úmfahren / umfáhren)

Homonymie

identische Schreibung und Lautung bedeutungsverschiedener Wörter (Schloss = feste Behausung / Schloss = Türschloss)

Ideogramm

Zeichen, das einen Bedeutungskomplex anzeigt ("  = Tod)

Ikon

Zeichen, das in einer Ähnlichkeitsbeziehung zum Bezeichneten steht (` = Quader)

Inkorporation

Einbinden eines frei vorkommenden Worts in eine feste Wortverbindung (schilaufen)

Interpunktion

Setzung von Satzzeichen und Hilfszeichen

IPA

International Phonetic Alphabet: allgemeine Transkriptionshilfe für gesprochene Sprache

Kalligraphie

Kunst der Schriftgestaltung nach ästhetischen Gesichtspunkten

Kana

Überbegriff für das Hiragana und Katakana umfassende japanische Schriftsystem

Kanji

die im japanischen Schriftsystem gebrauchten chinesischen Schriftzeichen

karolingische Minuskel

Minuskelschrift, üblich vom Karolingerreich bis ins Hochmittelalter (8.-12. Jh.)

Katakana

japanische Silbenschrift

Keilschrift

altmesopotamisches Schriftsystem, dessen Zeichen in Tontäfeln geritzt oder eingeprägt wurden

Kurzwort

aus den Bestandteilen von Basislexemen gebildetes Wort (Kripo, Vopo, Schupo)

Lautschrift

Zeichensystem, das der graphischen Umsetzung von Gesprochenem dient

Legasthenie, auch: LRS

Lese- und Rechtschreibschwäche, oft entwicklungsbedingt

Leseforschung

Bereich der Sprachwissenschaft, der sich mit den kognitiven und neurologischen Vorgängen beim Lesen befasst

Lesesozialisation

Erwerb der Fähigkeit, Texte lesen zu können

Linear A

Kretische Schrift im 2. Jt. v. u. Z.

Linear B

Kretische und festlandgriechische Schrift des 2. Jt. v. u. Z.

Logogramm

Schriftzeichen, das für ein ganzes Wort steht

logographische Schrift

Schrift, die sich vorrangig auf Wörter bezieht

Majuskel

Großbuchstabe

Majuskelschrift

Schrift, in der alle Buchstaben dieselbe Länge haben (SCHRIFT)

Mehrgraph

Graphem, das aus mehreren Buchstaben besteht (sch, ch)

Minuskel

Kleinbuchstabe

Minuskelschrift

Schriftsystem, in dem die Buchstaben Ober- und Unterlängen aufweisen

Morphemkonstanz

Eigenschaft eines geschriebenen Worts, trotz sich verändernder Lautung seine Schreibung beizubehalten (Liebe, lieblich)

Oberlänge

Teile des Buchstabens, die im Vierliniensystem ins obere Feld hineinreichen (t, h, i, l, k)

Orthographie

Teilgebiet der Graphematik, das sich mit der (amtlichen) Normierung von Schriftsystemen befasst

Phonem

Kleinste bedeutungstragende Einheit des Lautsystems

Phonologisches Bewusstsein

Wissen um die Gliederbarkeit schriftlicher und mündlicher Äußerungen und um die Zuordnung von Laut und Zeichen

Piktogramm

Zeichen, das in einer unmittelbahr wahrnehmbaren Beziehung zum Bezeichneten steht

Pinyin

Alphabetische Umschrift der chinesischen Silbenschrift

Radikal

Teil eines chinesischen Schriftzeichens

Rebus

Verwendung der Lautung eines Zeichens für ein homphones Wort oder Wortbestandteil (meet u 8r 2nite)

Romanisierung

Schreibung einer Nicht-Alphabetschrift mit den Zeichen des lateinischen Alphabets

Runenschrift

alphabetische Schrift der Germanen, möglicherweise vom phönizischen Alphabet abstammend

Satzmittezeichen

Zeichen, die inmitten eines Satzes stehen ( , / ; / : )

Satzschlusszeichen

Zeichen, die am Ende einen Satzes stehen ( ! /? / . )

Satzzeichen

Zeichen, die Sätze und Satzteile von einander abgrenzen ( ! / ? )

Schärfungsschreibung

Doppelung von Konsonanten nach kurzen Vokalen (Butter, Hass) = Konsonantengemination

Schriftspracherwerb

Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit

Schrifttypologie

Lehre von der Einteilung der schriftsysteme nach ihren vorherrschenden Bezugsgrößen

scriptio continua

Zusammenschreibung aller Wörter eines Satzes

Silbengelenk

Konsonant, der sowohl zur vorhergehenden als auch zur nachfolgenden Silbe gehört ([t] in Mutter) und deshalb auch als ambisyllabisch bezeichnet wird

sinistrograd

Laufrichtung der Schrift von links nach rechts

Spatium

Leerraum zwischen zwei Wörtern

Syllabar

Inventar von Schriftzeichen einer Silbenschrift

syllabischer Schrifttyp

Schrift, deren vorherrschende Bezugsgröße die Silbe ist

Syllabogramm

Schriftzeichen, das für eine Silbe steht

syntaktische Sollbruchstellen

Stellen im Satz, an denen die Möglichkeit besteht, im selben oder im anderen Muster fortzufahren (Das - Haus - ist - ...)

Transliteration

Umschrift eines Schriftsystem in ein anderes

Univerbierung

Zusammenwachsen mehrgliedriger syntaktischer Konstruktionen zu einem einzigen (mit Hilfe, mithilfe)

Unterlänge

Teile des Buchstabens, die im Vierliniensystem ins untere Feld hineinreichen (p, q, g)

Schriftgeschichte

ca. 6000 v. u. Z.

alteuropäische Schrift der Vinca-Kultur

ca. 3000 v. u. Z.

akkadische und sumerische Keilschrift, ägyptische Hieroglyphen

ca. 1500 v. u. Z.

phönizisches Alphabet

ca. 1000 v. u. Z.

griechisches und etruskisches Alphabet

ca. 900 v. u. Z.

lateinisches Alphabet

Regeln der Rechtschreibung

  • Phonologisches Prinzip: Die Schreibung folgt im Regelfall der Lautung im Rahmen der Phonem-Graphem-Zuordnung.

  • Morphologisches Prinzip, I: Bei der Konsonantenverdopplung am Wortende wird ebenfalls gedoppelt: (schallen > Schall, nicht: schal)

  • Morphologisches Prinzip, II: Beim Aufeinandertreffen gleichlautender Konsonanten an der Morphemgrenze bleiben beide erhalten (Schraubbügel, nicht: Schraubügel)

  • Morphologisches Prinzip, III: Im Auslaut folgt die Schreibung stimmloser Konsonanten dem Stamm (lieben > lieblich, nicht: lieplich)

  • Morphologisches Prinzip, IV: Bei der Bildung von Umlauten wird in der Regel die Stammform des Worts vorausgesetzt (Haus > Häuser, nicht: Heuser)

  • Groß- und Kleinschreibung: der Kern jeder nominalen Gruppe im Satz wird mit einem Großbuchstaben am Wortanfang angezeigt. Als Kern gelten nominale Elemente, die erweiterbar sind.

  • Getrennt- und Zusammenschreibung: Wo keine syntaktische Sollbruchstelle vorliegt, wird zusammengeschrieben.

  • Kommasetzung, I: Kommas werden nicht gesetzt, wenn Satzglieder auf der selben Ebene kombiniert werden und diese Kombination durch und, oder etc. zum Ausdruck kommt.

  • Kommasetzung, II: Kommas werden nicht gesetzt, wenn nicht satzwertige Satzglieder auf der selben Ebene kombiniert werden.

Prinzipen der Rechtschreibung

  • Phonologisches Prinzip. Die Schreibung folgt der Aussprache.

  • Grammatisches Prinzip. Die Schreibung folgt der Grammatik (besonders: Getrenntschreibung, Groß- und Kleinschreibung).

  • Syntaktisches Prinzip. Die Schreibung folgt dem Satzbau (Zeichensetzung, Großschreibung am Satzanfang).

  • Pragmatisches Prinzip. Die Schreibung folgt den Aussagebestimmungen des Sprechers (Zitate, Anrede).

  • Semantisches Prinzip. Die Schreibung folgt der Bedeutung (Getrenntschreibung: wieder sehen vs. wiedersehen).

  • Morphologisches Prinzip. Die Schreibung folgt der Stammform (Hand > behände).

  • Etymologisches Prinzip. Die Schreibung folgt der überlieferten Stammform (Gams > Gämse).

  • Homonymieprinzip. Die Schreibung folgt der Regel, dass bei gleicher Lautung das Schriftbild zu differenzieren hilft (Lid vs. Lied).

  • Historisches Prinzip. Die Schreibung folgt der Überlieferung (lieb, histor. Diphth. lieb).

  • Ästhetisches Prinzip. Die Schreibung folgt der ästhetischen Bewertung des Schriftbilds durch die Sprechergemeinschaft (ck statt kk, obsolet <ff> statt <fff> in Schiffahrt).

Orthographiegeschichte

1872

Konrad Duden verfasst das Regelwerk Die deutsche Rechtschreibung

1876, 4.-15.1.

I. Orthographische Konferenz in Berlin; die Reichsgerierung in Berlin beauftragt Rudolf von Raumer mit der Ausarbeitung eines orthographischen Regelwerks

1879

Einführung einer Schulortographie in Bayern

1880

Preußen gibt eine Schulorthographie vor; Konrad Dudens Vollständiges Ortographisches Wörterbuch der deutschen Sprache erscheint

1901

II. Orthographische Konferenz in Berlin: einheitliche Rechtschreibung für den gesamten deutschen Sprachraum

1902

Die Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis erscheinen

1903

Einführung der neuen Regeln in Behörden, an Schulen und Universitäten

1954

Plan der Einführung einer gemäßigten Kleinschreibung in Übereinstimmung mit den Stuttgarter Empfehlungen

scheitert am Widerstand der Kultusministerkonferenz

1955

Der Duden wird kraft Beschluss der Kultusministerkonferenz zur Kontrollinstanz der deutschen Rechtschreibung

1977

Kommission für Rechschreibfragen am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim gegründet

1979

Tagung des IDS in Mannheim mit dem Thema Rechtschreibreform in der Diskussion

1980

Gründung des Internationalen Arbeitskreises für Orthographie (Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Deutschland, Italien, Österreich, Dänemark, Frankreich, Rumänien, Ungarn, Belgien)

1986

Sog. III. Orthographische Konferenz in Wien (1. Wiener Gespräche): Erarbeitung eines neuen Regelwerks

1990

2. Wiener Gespräche

1994

3. Wiener Gespräche: Beschluss der neuen Regelung

1995

Die Beschlüsse aus den Wiener Gesprächen werden von Narr in Tübingen als Deutsche Rechtschreibung - Regeln und Wörterverzeichnis. Vorlage für die amtliche Regelung veröffentlicht; Zustimmung der Kultusministerkonferenz am 1.12.1995

1996, 1. 7.

Gemeinsame Absichtserklärung zur Neurelegung der deutschen Rechtschreibung; Rechtschreibgegner um den Weilheimer Studiendirektor Friedrich Denk verfassen die Frankfurter Erklärungen, gegen die sich die Dresdner Erklärungen der Reformbefürworter wendet

1998

Inkrafttreten der neuen amtlichen Regelung

1999

Nachrichtenagenturen stellen auf die neue Schreibung um

2000

Die FAZ kehrt zur alten Rechtschreibung zurück

2001

Der Beirat für deutsche Rechtschreibung wird eingerichtet

2005, 1.7.

Nur noch die reformierte Rechtschreibung soll gelten.

Modell des kindlichen Schriftspracherwerbs

  1. Präliteral-symbolische Phase: 1.) Kinder beziehen bildliche Darstellungen auf Körper im Raum, 2.) Kinder gebrauchen symbolische Zeichen, 3.) Kinder beginnen mit der Nachahmung von Schriftzeichen

  2. Logographische Phase: 1. Kinder orientieren sich an äußerlichen Merkmalen von Buchstaben und Wörtern, 2. Kinder unterscheiden nicht grundsätzlich zwischen Zeichen und Bezeichnetem ("Das Wort Wal ist länger als das Wort Zwergspitzmaus.")

  3. Alphabetische Phase: Kinder lesen Wörter phonographisch, Laut für Laut, überführen dabei Grapheme in Laute (phonologisches Rekodieren).

  4. Orthographische Phase: 1.) Kinder lesen Wörter ganzheitlich und orientieren sich an Buchstabenfolgen, 2.) die orthographische Strategie wird auch beim Schreiben angewandt.

  5. Integrativ-automatisierte Phase: Kinder erwerben Sicherheit im Lesen und Schreiben, das Lesen und Schreiben ist automatisiert.

Modell des Leselehrens im Kindesalter

  • Analytisches Leseverfahren: Kinder sollen sich die Bedeutung ganzer Wörter und Sätze einprägen

  • Ganzheitsmethode: 1. Stufe des naiv-kindlichen Lesens (Einprägen von Wörtern und Sätzen), 2. Stufe der Durchgliederung (Analyse von Teilgestalten), 3. Stufe des selbstständigen Erlesens (Synthese)

  • Synthetisches Leseverfahren: a.) Buchstabiermethode: 1. Alphabet erlernen, 2. Wörter buchstabieren, b.) Lautiermethode: Wörter werden als Lautfolgen verwirklicht, 1. phonologisches Rekodieren, 2. Synthetisieren der Phoneme, 3. ganzheitliche Worterkennung

  • Analythisch-synthetisches Verfahren: 1. Buchstaben und Wörter werden gemeinsam eingeführt, 2. kleine Kunstsätze werden gebildet (Fu ruft Uta. Uta ruft Fu.)

  • Lesen durch Schreiben: Ansatz von Jürgen Reichen, bei dem die Schüler mit Hilfe einer Anlauttabelle beliebige Wörter aufschreiben

Modell des Leselehrens im Erwachsenenalter

  • Spracherfahrungsansatz: Das behandelte Material bringen die Teilnehmer aus ihrer Erfahrungswelt selbst mit.

  • Sprachsystematischer Ansatz: Die Alphabetisierung geht von wenigen lexikalischen Grundbausteinen und Morphemen aus, die nach den Regeln der Morphologie kombiniert werden können.

  • Fähigkeitenansatz: Lesen, Schreiben und genaues Hinhören werden als gesonderte Fertigkeiten trainiert.