Hermann Hesse: Der Steppenwolf - Zum Hintergrund

Chronologie

1922

Im Simplizissimus erscheint der kurze Prosatext Aus dem Leben eines Entgleisten, den Hesse 1950 als „Vorstudie zum Steppenwolf“ bezeichnet.

1924-1925

In Basel verfasst Hermann Hesse zwei Fragmente des Steppenwolf und eine Fassung des Traktats als Märchen vom Steppenwolf. 8.8.: In einem Brief an Georg Reinhart ist der  Steppenwolf erstmals erwähnt und in der Gesamtanlage beschrieben.

1926

Der Seewolf (1904) von Jack London liegt erstmals in deutscher Übersetzung vor. Der Roman mit seiner Darstellung eines Außenseiters kann eine von Hesses Anregungen für das Titelmotiv gewesen sein. --- Hesse nimmt in Zürich Tanzunterricht und besucht mit dem Psychoanalytiker Josef Bernhard Lang verschiedentlich Maskenbälle. ---  Juni: Hesse schickt seinen Gedichtzyklus Krisis an seinen Verleger Samuel Fischer. --- 12.9.: Die Frankfurter Zeitung bringt als Vorabdruck den Traum von einer Audienz bei Goethe. --- November: In der Neuen Rundschau erscheint unter dem Titel Der Steppenwolf. Ein Tagebuch in Versen eine Auswahl aus dem Manuskript.

1927

11.1.. Hesse vollendet in Montagnola die Reinschrift des Steppenwolf. ---8.2.: Samuel Fischer äußert bei einem Treffen mit Hesse die Befürchtung, der Steppenwolf könnte ein Gerichtsverfahren auslösen. --- 20.2.: Hesse liest den Steppenwolf in C. G. Jungs Psychologischem Club in Zürich. ---  23.2.: Der Expressionist Alfred Wolfenstein nimmt in Wölfischer Traktat, erschienen in der Weltbühne, Bezug auf den Steppenwolf. ---  7.3.: Der Lyriker Oskar Loerke, Lektor bei S. Fischer, rät Hesse brieflich zur Beibehaltung des Vorworts. --- Juni: Der Steppenwolf erscheint bei S. Fischer in einer Auflage von zunächst 15.000 Exemplaren. --- 2.7.: Heinrich Wiegand veröffentlicht unter dem Titel Gruß an Hermann Hesse in der Leipziger Volkszeitung eine von Hesse später geschätzte lobende Besprechung des Steppenwolf.

1928

Der Steppenwolf-Gedichtzyklus Krisis wird veröffentlicht. Besodere Nähe zum Steppenwolf weisen die Gedichte Schizophren und Ein Mann von fünfzig Jahren auf.

1942

Die Schweizer Neuausgabe des Steppenwolf erscheint.

1946

Der Steppenwolf erscheint als 12. Band in der Reihe Manesse Bibliothek der Weltliteratur.

1956

Colin Wilson bedient sich in The Outsider des Steppenwolf, um an der Figur des Harry Haller den Außenseitertypus darzustellen.

1963

Im Deutschen Taschenbuch Verlag erscheint die erste Taschenbuch-Ausgabe des Steppenwolf.

1968

Timothy Leary empfiehlt in The Politics of Ecstasy die Lektüre des Steppenwolf. ---  John Kay gründet die Band „Steppenwolf“.

1969

In der Bibliothek Suhrkamp erscheint 1969 eine weitere Taschenbuchausgabe des Steppenwolf.

1972

Volker Michels gibt die Materialien zu Hermann Hesses „Der Steppenwolf“ heraus. Der Band erscheint erneut bei Suhrkamp  in Frankfurt am Main.

1974

Fred Haines verfilmt den Steppenwolf mit Max von Sydow als Harry Haller.

1992

Das Hörspiel Hermann Hesse – der Steppenwolf erscheint.

2016

Das Musiktheaterstück Der Steppenwolf von Viktor Åslund (Text: Rainer Lewandowski) wird in Würzburg uraufgeführt.

 

Biographische Bezüge

Trotz Hesses Widerstand gegen die Tendenz, den Steppenwolf als autobiographisches Dokument seiner Befindlichkeit zu lesen, gibt es zwischen Hesse und Harry Haller eine Vielzahl von Parallelen:

  • Der Anlaut und die Silbenzahl beider Namen sind gleich: Hermann Hesse, Harry Haller
  • Das Alter Harry Hallers entspricht dem Alter Hesses zur Zeit der Veröffentlichung (der Steppenwolf erschien wenige Wochen vor Hesses fünfzigstem Geburtstag).
  • Sowohl Haller als auch Hesse berichten von einer unverhältismäßigen Strenge und Frömmigkeit im Elternhaus
  • Hesse (im Entstehungszeitraum) und Haller leiden gleichermaßen an einer Gehbehinderung.
  • Hesse und Haller bekunden gleichermaßen ihr Leiden unter einer streng hierarchischen Schule ohne Rücksicht auf das Seelenleben der Schüler.
  • Autor und Figur durchleben eine Lebenskrise, die das Unglücksempfinden bis zur Suizidalität vorantreibt.
  • Haller und Hesse befinden sich in einer Krise, die sich in der Unfähigkeit zu kreativem Schaffen zeigt.
  • Hesses Neigung zu Literatur, Tabak, Alkohol spiegelt sich in den Interessen und Vorlieben Hallers. Haller schätzt Autoren, mit denen auch Hesse vertraut war (Lichtenberg, Lessing, Jacobi).
  • Hallers politische und ästhetische Auffassungen decken sich weitgehend mit den Einstelllungen Hesses.
  • Die Beschreibung des Äußeren Hallers ähnelt auffallend zeitgleichen Porträtfotografien Hesses (nachlässige Kleidung, mittlere Statur, kurzgeschnittenes Haar).

Erzähltechnik

Hesse weist darauf hin (Brief an Felix Braun vom 8.7.1927), dass der Aufbau des Steppenwolf dem einer „Fuge oder Sonate“ entspricht. Erzähltechnisch sind drei Erzählperspektiven im Roman von Bedeutung: 

Vorwort des Herausgebers

Herausgeber als Ich-Erzähler, der Harry Haller aus der Außensicht beschreibt

Erzählsituation: Herausgeberfiktion, Anspruch des als Augenzeuge auftretenden Erzählers auf authentische Darstellun; reflektierendes Erzählen im Rückblick (Präteritum); dann wieder zurückhaltend, kommentierend (Präsens), in der Haltung zu Harry Haller ist der fiktionale Herausgeber ambivalent.

Funktion: a) die Figur Hallers für den Leser deuten, den Blickwinkel vorgeben, b) die bürgerliche Sicht auf Hallers Dasein zeigen.

Aufzeichnungen Harry Hallers

Harry Haller als Ich-Erzähler, der von seinen Erlebnissen berichtet

Erzählsituation: Persönliche Darstellung eines leidenden Subjekts in Tagebuchform oder als Lebensbeichte, allerdings abhängig vom jeweils erzählten Lebensabschnitt:

  • Selbstreflexion in der Krise: monoton, Parataxe, Parallelismus; bei Existenzproblemen: gehäuft rhetorische Fragen.
  • Steppenwolf-Abschnitte: Hypotaxe, Anspielung, unkonventionell im Ausdruck
  • Traumtheater: grotesk, verspielt;  Neologismen, Ellipsen.

Funktion: a) Hallers Sicht auf sich selbst offenlegen, b) Identifikationsmöglichkeiten für den Leser schaffen.

Traktat vom Steppenwolf

Der auktoriale Er-Erzähler des Traktats, der Hallers Krise ausdeutet und analysiert

Erzählsituation: Dreiteiliges theoretisches Traktat; Erzählhaltung: nüchtern, analytisch, distanziert

Funktion: a) das Erlebnis im "Magischen Theater" vorbereiten, b) Harry Hallers Leiden deuten und erklären, b) Lösungsmöglichkeiten aufzeigen.

Inhalt: Das Traktat legt nahe, dass a) eine harmonische Koexistenz von Mensch und Steppenwolf unmöglich ist; b) dass der Steppenwolf als ganzes Wesen geliebt sein will und deswegen die ihn Liebenden unglücklich macht; c) dass der Steppenwolf Tendenzen zum Selbstmord aufweist, vor der Tat aber zurückschreckt; d) dass der Steppenwolf zugleich nach bürgerlicher Geborgenheit und Freiheit von bürgerlichen Zwängen strebt; e) dass lediglich der Humor imstande ist, den inneren Konflikt des Steppenwolf aufzulösen.

Inhalt des Romans

I - Das Vorwort des Herausgebers

Nach einer kurzen Einführung des Herausgebers in Ich-Form wird zunächst der „Steppenwolf“ (S. 9) charakterisiert. Dann schildert der Herausgeber, der Neffe von Hallers Vermieterin die erste Begegnung mit Haller und das Aussehen des „Steppenwolfs“ (S. 11). Haller wirkt auf den Erzähler so, als „habe er lange nicht geschlafen“. Auch später im Roman wird das Motiv der Schlaflosigkeit oder des gestörten Schlafverhaltens aufgegriffen. Er mietet ein Mansardenzimmer mit Schlafkammer und bittet sich von der Vermieterin aus, „seine Ankunft nicht polizeilich zu melden“ (S. 12). Der Neffe äußert Bedenken, die sich jedoch aufgrund des ordentlichen Betragens des „Steppenwolfs“ rasch zerstreuen (S. 13).

Zwei Tage nach der ersten Begegnung zieht Haller ein und gibt dem Herausgeber Gelegenheit, ihn „als bedeutenden, […] seltenen und ungewöhnlich begabten Menschen“ zu charakterisieren (S. 14). Dies ergänzt er durch eine Beobachtung vom gemeinsamen Besuch eines kulturphilosophischen Vortrags. Hallers vernichtender Blick entlarvt die Rede nach Auffassung des Herausgebers (S. 16) als „Affenspiel“. Nach einer Analyse der „Fremdheit“ Hallers (S. 16) wendet sich der Herausgeber der „Leidensfähigkeit“ des „Steppenwolfs“ zu (S. 17). Er nennt Ursachen dieses Leidens. Zum einen entstehe ein wie bei Haller feststellbarer „Selbsthaß“ (S. 17) durch allzu fromme Erziehung und eine rücksichtlos gegen das eigene Ich gewendete „Nächstenliebe“ (S. 17), zum anderen liege es am „Brechen des Willens“.

Es folgt eine längere Beschreibung der Lebensverhältnisse Hallers und insbesondere des gemieteten Zimmers. Außer religiöse Artefakte, Porträts und Kunstwerke sieht er neben einem „Aquarellierkasten“ (S. 19) und einer Auswahl literarischer Werke (Novalis, Jean Paul, Dostojewski) eine beträchtliche Anzahl von leeren und halbleeren Flaschen. Insgesamt dominiert in Hallers Räumlichkeiten „eine malerische Unordnung“.

Die erste „persönlichere Begegnung“ mit dem „Steppenwolf“ (S. 20) ereignet sich im Treppenhaus, von der man auf den Vorplatz einer benachbarten hinübersehen kann. Dort steht neben einer Azalee als Symbol der Bürgerlichkeit eine Araukarie. Angeregt davon spricht Haller über „Reinlichkeit“, „Pflichterfüllung“ (S. 22) und eine offenbar verlorene Welt bürgerlicher Regeln, deren Andenken ihn mit Wehmut erfüllt. Infolgedessen nennt ihn der Herausgeber in einer kurzen Reflexion einen „in die Herde und ins Herdenleben verirrte[n] Steppenwolf“ (S. 24).

Nun erinnert sich der Herausgeber an eine Begegnung in einem Konzert. Zunächst zeigt er bei einer Melodie Händels wenig innere Bewegung, kaum wird jedoch wird Friedemann Bach gespielt, beginnt er zu lächeln, ehe „Variationen von [Max] Reger“ (S. 25) ihn wieder seine Traurigkeit zurückstoßen. Im Anschluss folgt der Herausgeber Haller in ein „kleine[s] altmodische[s] Wirtshaus“ (S. 25), wo sie ein Gespräch über Astrologie beginnen. 

An einem weiterenn Abend beobachtet der Herausgeber Haller im Glück mit einer weiblichen Besucherin (Erika), ehe der „Steppenwolf“ wieder in sein Leid zurückfällt. Der Herausgebers resümiert das bisher Gesagte mit der Bemerkung, dass „der Steppenwolf das Leben eines Selbstmörders“ führe (S. 27). Der Wahrheitsgehalt des Manuskripts lasse sich zwar nicht mit letztgültiger Sicherheit bestimmen, die Darstellungen entsprächen jedoch Hallers Lebenswandel. Die Erinnerung an den „Steppenwolf habe dem Herausgeber, der von einem Weiterleben Hallers ausgeht, „das Leben nicht leichter gemacht“ (S. 28). Er bezeichnet im nächsten Abschnitt Hallers Aufzeichnungen als generationstypisches Dokument der Neurose (im Sinne der Psychoanalyse). Der Herausgeber deutet Hallers Manuskript als „Versuch, die Krankheit selbst zum Gegenstand der Darstellung zu machen“ (S. 29), als „Gang durch die Hölle“ (S. 29). Das menschliche Leben werde allerdings nur dort zur Hölle, wo der Mensch „zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Zeiten hineingerät“ (S. 30). Diese Krisenhaftigkeit habe ein wichtiger Existenzphilosoph vorausgeahnt: Friedrich Nietzsche.

Mit einem Hinweis auf die allgemeine Bedeutung der Aufzeichnungen schließt der Herausgeber, sich eines Urteils enthaltend.

II - Harry Hallers Aufzeichnungen

Harry Hallers Aufzeichnungen werden mit dem Motto „Nur für Verrückte“ eröffnet, das auch dem Besuch des Magischen Theaters vorausgeht. Harry Haller, der Ich-Erzähler, beginnt seine Aufzeichnungen mit einer Rückblende, die den Tagesablauf Hallers erfasst, eines jener Tage, wie er sie gewohnt ist: „laue Tage eines älteren unzufriedenen Herrn“ (S. 31), Tage voller Gicht, Kopfschmerzen und Lebensüberdruss. Solche Tage legten es nahe, so der Erzähler, „beim Rasieren zu verunglücken“ (S. 31), wie der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter. Nach einer Analyse des Gefühls der Zufriedenheit, die Haller den „gepflegten Optimismus des Bürgers“ nennt, phantasiert er die gewaltsame Befreiung aus diesem Zustand (S. 33), ehe er die Schilderung seines Abends fortsetzt. Zunächst macht er sich auf, um in seinem Stammlokal Wein zu trinken. Das „Gasthaus zum Stahlhelm“ lehnt sich an den Basler „Helm“ an. 

Auf dem Weg die Treppe hinab sinnt er über die für ihn verlorene Welt der Bürgerlichkeit nach, die vor allem Gerüche in ihm wachrufen. Symbol dieser Bürgerlichkeit ist die bereits im „Vorwort“ erwähnte Araukarie (S. 35). In seinem von „Kot und Staub“ verschütteten Leben (S. 36) in einer „fremde[n] und unverständliche[n] Welt“ (S. 37) sieht er immer wieder ein Zeichen der Hoffnung – etwa auf dem ebenfalls im „Vorwort“ erwähnten Konzert oder beim Lesen von René Descartes und Blaise Pascal. Er findet dafür die Metapher „der goldenen Spur“.

Solcherart in seine Gedanken vertieft, gelangt Haller schließlich an eine „alte graue Steinmauer“ (S. 37), die eine kleine Kirche mit einem Hospital verbindet. Das Portal ist jedoch geschlossen. Über dem Portal, für Haller nur schwer zu erkennen, leuchtet die Inschrift „Magisches Theater / Eintritt nicht für jedermann“ auf. In der Tat kann Haller den Ort dahinter nicht betreten. Auf dem spiegelnden Asphalt schließlich leuchtet ein Zusatz auf: „Nur – für – Ver – rückte“ (S. 39). Haller deutet die Schrift als Erscheinung der goldenen Spur. Sie erinnert jedoch auch an das sprichwörtliche, dem Alten Testament entstammende Menetekel.

Haller kehrt nun im Gasthaus ein, wo er Kalbsleber zu sich nimmt und Elsässer trinkt. Die gutbürgerliche, aber durchaus einfache Mahlzeit versöhnt ihn für kurze Zeit mit dem Leben. Er ruft aus seinem Gedächtnis „tausend Bilder“ auf (S. 42). Dazu gehören die Fresken Giottos im Battisterio des Doms in Padua, Werke Shakespeares und Jean Pauls, das „Skultpurengebirg“ der javanischen Tempelanlage von Borobudur (S. 42), illuminierte Handschriften aus dem Mittealter und die Berge bei Gubbio (S. 43). Die goldene Spur verbindet sich für Haller bereits hier mit der Musik Mozarts. 

Durch die „winterliche Regennacht“ (S. 44) macht sich Haller auf den Heimweg. Während er über seinen Zustand nachsinnt, kommt er an einem Tanzlokal vorbei, aus der ihm „wie der Dampf von rohem Fleisch“ (S. 44) Jazzmusik entgegenschallt. Diese Wahrnehmung regt ihn an zu kritischen Betrachtungen über die zeitgenössische Kultur und insbesondere Amerikas Einfluss, er nennt die Melodie „Untergangsmusik“. Als er erneut an der besagten Steinmauer vorbeikommt (S. 46), taucht von ungefähr ein Mensch in Proletarierkleidung auf, der eine „Stange mit einem Plakat“ vor sich herträgt, das erneut das „Magische Theater“ bewirbt. Die Ankündigung ist überschrieben mit „Anarchistische Abendunterhaltung“. Der Mann lässt sich jedoch nicht aufhalten. Ehe er verschwindet, überreicht er Haller ein „mechanisch […] ein kleines Büchlein“ (S. 47), das „Tractat vom Steppenwolf“ (S. 49), das Haller alsbald „in einem Zuge“ (S. 48) zu lesen beginnt, nachdem er zu Hause angekommen ist. Die Aufmachung erinnert ihn dabei an „Jahrmarktsheft“.

III - Das „Tractat vom Steppenwolf“

  • Der Steppenwolf hat zwei Pole, zwei gegensätzliche Naturen: eine wölfische und eine menschliche:
  1. Die Wolfsnatur verkörpert Wildheit, Zerstörung, Lust und Trieb, die Natur; zu ihr treibt ihn die Sehnsucht nach der „Natur, zur Mutter“ (S. 73), die allerdings unerreichbar bleibt – die Symbiose mit der Mutter geht mit der Geburt verloren.
  2. Die Menschennatur spiegelt Kultur, Göttlichkeit, den Geist; zu ihm treibt ihn die „innerste Bestimmung“ (S. 73).
  • Die Unverträglichkeit dieser entgegengesetzten Naturen, die „faustische Zweiheit“ (S. 75) des Menschen, verhindert Ganzwerdung (Individuation). Ständig schwankt der Steppenwolf zwischen der Außenseiterrolle und der bürgerlichen Welt (S. 61 ff.).
  • Deutlich wird das am Beispiel der Liebe: je ein Aspekt wird abgelehnt – wer den Menschen liebt, erschrickt vor dem Wolf; wer den Wolf liebt, wird vom Menschen enttäuscht.
  • Die Zerrissenheit des Steppenwolfs schafft Leiden („Meer des Leidens“, S. 55), macht aber auch fähig zum intensiven Glückserleben.
  • Die Anlehnung von Verbindlichkeiten macht den Steppenwolf frei, aber auch einsam.
  • Der Steppenwolf lässt sich zudem einer weiteren Menschenart zurechnen: den „Selbstmördern“ (S. 58 ff.). Charakteristisch ist, dass sie nicht zur Ganzwerdung streben, sondern nach Erlösung im Tod. Der Gedanke, sich jederzeit töten zu können, verleiht dem Selbstmörder besondere Kraft.
  • Wesentlich für den Steppenwolf mit seinem starken Lebenstrieb ist also Hingabe:
  1. wer dem Geistigen folgt, nimmt die Rolle des Heiligen an;
  2. wer sich dem Trieb hingibt, wird zum Wüstling (S. 63).
  • Damit steht er im Gegensatz zum Bürger mit seinem schwachen Lebenstrieb, der Extreme vermeidet und der Mitte zustrebt.
  • Aufgrund einer „Schwächung“ oder „Trägheit“ (S. 65) gelingt es vielen Zerrissener nicht, die Sphäre des Bürgerlichen zu verlassen – sie sind oft Künstler oder Intellektuelle.
  1. Eine kleine Zahl reißt sich los und wird tragisch.
  2. Eine größere Zahl bedient sich des Humors, der eine Außensicht ermöglicht – er befähigt, alle Bezirke der Seele zu verbinden und in der Welt zu leben, „als sei es nicht die Welt“.
  • Wichtig ist auch die Außensicht auf sich selbst – sich selbst gegenüberzutreten (Spiegelmotiv, S. 68) und sich verborgene Anteile der Seele bewusst zu machen. 
  • Die Vorstellung, das Ich sei eine Einheit oder lasse sich auf zwei Pole reduzieren, ist eine Täuschung – das Ich ist in tausende „Polpaare“ (S. 70) aufgeteilt. Das Ich birgt in sich die sämtliche Daseinsmöglichkeiten und den kulturellen Entwicklungsgang sowie die biologische Evolution.
  • Wer die Hüllen abstreift, die Ideale des Bürgertums aufgibt, sich hingibt, sein Leiden und seine Einsamkeit hinnimmt, die Vielheit des Ichs akzeptiert und den Humor entdeckt, wird zum Unsterblichen (wie Mozart, S. 75).
  • Es gilt, zum „wahren Menschen“ zu werden, das ganze Innere mit seiner Vielfalt zu entdecken (wie einen Garten, S. 78) und mit allen Aspekten zu akzeptieren, um schließlich (wie Buddha) zur Ruhe zu kommen.
  • Der Schluss des Traktats wird mit den Worten „Wir nehmen Abschied von Harry“ eingeleitet, wobei offen bleibt, um wen es sic h bei diesem „Wir“ handelt.

IV - Harry Hallers Aufzeichnungen (Forts.)

Nachdem er die Lektüre des „Tractats“ abgeschlossen hat, findet Haller ein Gedicht, das er „vor einigen Wochen“ in der Nacht“ (S. 79) geschrieben haben will. Das Versmaß sind, wie im Eingangsmonolog Fausts, Knittelverse. Im folgenden Abschnitt (S. 80) stellt er seine bisherigen Lebenskrisen dar. Er vergleicht die dadurch ausgelösten Entwicklungsschritte mit dem Abreißen von Masken. Darauf analysiert er die Ursachen seiner Einsamkeit (S. 81). Er bezieht sich explizit auf Friedrich Nietzsches Gedicht „Vereinsamt“: „Nun stehst du bleich, / Zur Winter-Wanderschaft verflucht, / Dem Rauche gleich, / Der stets nach kältern Himmeln sucht.“ (4. Strophe). Nun spielt er erneut mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Weil er das Leiden dem Freitod vorzieht, vergleicht er sich mit Don Quichotte, dem „Ritter von der traurigen Gestalt“ des Miguel de Cervantes.

Erst am Morgen schläft er ein (S. 83), nicht ohne an die Textstelle mit den „Unsterblichen“ zu denken. Als er „[g]egen Mittag“ erwacht (S. 83), setzt er seine Gedankenspiele über den Suizid fort. Rückblickend berichtet er von einem Selbstmordversuch mit Opium. Nach einem Zeitsprung fasst er die folgenden Wochen zusammen und kommt erneut auf jene Stelle zu sprechen, als eine „Halluzination oder Vision“ (S. 85) ihm die beiden Inschriften: „Nicht für jedermann“ und „Nur für Verrückte“ offenbart. Er fragt sich, ob er nicht auch „verrückt“ sei.

Eines Tages begegnet er in der „Martinsvorstadt“ (eine solche gibt es in Basel) einem Leichenzug, der ihn zum Nachdenken über den Tod zwingt (S. 86). Einen der Trauergäste hält er für den Plakatträger. Als er ihn auf das Ausbleiben der „Abendunterhaltung“ anspricht, fordert ihn dieser auf, den „Schwarzen Adler“ zu besuchen, wenn er „Bedürfnisse“ habe, was deutlich macht, welche Art von Dienstleistung dort zu erwarten ist. Haller geht, in Gedanken versunken, weiter und trifft einen „junge[n] Professor“ (s. 88), der ihn wiedererkennt, freundlich begrüßt und zum Abendessen einlädt. Haller genießt dessen Ausdrücke der Wertschätzung, verachtet sich dafür jedoch selbst. Deswegen vergleicht er sich zunächst mit einem „Hund“ (S. 89), dann mit Ferkel, das sich im Wohlwollen des Professors geradezu suhle. Zu Hause angekommen, bereut er, die Einladung angenommen zu haben (S. 90). Er räsoniert über den erbärmlichen Zustand der Gesellschaft und den Untergang der „Kulturwelt“. Er vergleicht sie, Heroen des Geistes wie Sokrates, Haydn und Dante aufzählend, einem Friedhof.

Vor dem Haus des Professors verrät er seine Abscheu gegen den Gelehrten, der offenbar Orientalist und Theologe ist. In einem Vorraum erblickt er ein Bildnis Goethes, das ihn aufgrund seiner süßlichen Manieriertheit abstößt (S. 93 f.). Es zeigt ein Bild. Ein möglicher Rückzug Hallers wird durch das Eintreten der Dame des Hauses vereitelt. Nach einem unbeholfenen, geradezu peinlichen Gespräch tritt der Professor ein. Dieser doziert im Gespräch über einen vermeintlichen Namensvetter Hallers, den er aufgrund dessen pazifistischer Haltung scharf attackiert. Er nennt ihn ein „Scheusal“ und einen „Schädling“, vor allem aber einen „Vaterlandsverräter“ (so wurde auch Hesse in der nationalistischen Presse gebrandmarkt). Als er erneut ins Vorzimmer geführt wird (S. 96) fällt ihm wieder das erwähnte Porträt ins Auge. Sein rhetorischer Vernichtungsschlag trifft besonders die Hausherrin, der das Bild gehört. Er entschuldigt sich mit dem Hinweis, er sei schizophren. Die Beschwichtigungsversuche des Hausherrn bringen ihn so in Rage, dass er sich als der unpatriotische Schriftsteller Haller zu erkennen gibt und den Professor wüst beschimpft (S. 97). Dieser „Sieg des Steppenwolfes“ (S. 98) treibt ihn hinaus auf die Straße, wo er erneut über den Selbstmord mit einem Rasiermesser nachsinnt.

V - Harry Hallers Aufzeichnungen: Begegnung mit Hermine

Es ist bereits „spät in der Nacht“ (S. 100), als er im „Schwarzen Adler“ anlangt. Dort trifft er auf Hermine, die er freilich noch nicht kennt. Sie trägt im Haar das Erkennungszeichen der Prostitution, eine Kamelie. Er setzt sich zu ihr, die beiden beginnen ein Gespräch, dessen Führung sie bald übernimmt. Den schon halbwegs betrunkenen Haller animiert sie dazu, einen schweren Rotwein zu trinken, einen Burgunder. Sie beginnt, Haller auszufragen, amüsiert sich über dessen Unkenntnis in Sachen Lebenskunst, und findet, der Name „Harry“ sei ein „Bubenname“. Haller wird von Hermine zunehmend wie ein unreifes und erziehungsbedürftiges Kind behandelt. Wegen seiner Reaktion auf das Bildnis im Hause des Professors tadelt sie ihn. Schließlich geht sie zum Tanzen davon und lässt den einschlafenden Haller zurück. Dieser träumt.

Im Traum (S. 109) trifft er in einem altmodischen Vorzimmer nun auf Goethe. Als er sich zur Audienz bei Goethe anschickt, bemerkt er, dass unter seiner Hose ein Tier nach oben kriecht. Es handelt sich um ein Kastrationssymbol, den Skorpion. Beim Anblick des Dichters erinnert er sich an ein Gedicht Goethes. Der nur mit dem Titel zitierte Anfang des Gedichts lautet wie folgt: „Dämmrung senkte sich von oben, / Schon ist alle Nähe fern; / Doch zuerst emporgehoben / Holden Lichts der Abendstern!“. Angesichts des ministerial und bürgerlich wirkenden Goethe rechnet Haller mit ihm ab, wirft ihm seine „Unaufrichtigkeit“ vor (S. 111). Goethe pariert den Angriff mit einem Hinweis auf Mozart. Goethe, der im Knopfloch eine zuletzt in einem Feuerwerk aufgehende Primel trägt, verjüngt sich und fordert Haller auf, das Leben und sich selbst nach Art der Unsterblichen nicht allzu ernst zu nehmen. Auf die Frage nach „Molly“, eigentlich die früh verstorbene Frau Gottfried August Bürgers (die er mit dem Skorpion gleichsetzt), reicht ihm Goethe eine „kostbare lederne oder samtene Dose“ (S. 113). Darin befindet sich ein Frauenbein. Hallers Traum endet damit, dass Goethe weit über das tatsächliche Lebensalter des Autors hinaus altert und schließlich lacht.

Noch bevor die unbekannte Schöne sich zu einem Rendezvous mit einem Herrn im (Zürcher) Café Odeon davonmacht, erbittet sich Haller ein Treffen im Alten Franziskaner. Hermine sagt ihm umgehend zu und zeigt ihm am Beispiel des „dumme[n] Bild[es] (S. 116), das man sich von Heiligen üblicherweise macht, dass sie ihn vollkommen versteht.

Haller fühlt sich, als habe jemand die „trübe Glasglocke [s]einer Abgestorbenheit“ (S. 117) zerschlagen und schläft in einem Fremdenzimmer seinen Rausch aus. Als er nach „vier, fünf Stunden“ (S. 118) erwacht, macht er sich auf nach Hause, wo ihn die Vermieterin empfängt. Haller gesteht ihr ein, er fühle sich als Fremdkörper. In einem Gespräch zum Tee übt er Zeitkritik, nachdem ihm die alte Dame eröffnet hat, ihr Neffe sei der Konstrukteur eines Radioapparats. Technik, führt Haller aus, führe weg von einer Erkenntnis der „Unwirklichkeit der Zeit“ (S. 120) und webe ein „Netz von Zerstreuung und nutzlosem Beschäftigtsein“ (S. 120).

Nach einem Zeitsprung zum „Dienstag“ (S. 120) erörtert Haller, welche Magie Hermine innewohne und hofft, dass sie seinem Zustand Besserung bringt. Er legt seine Abendgarderobe an und trifft sie wie verabredet. Haller überreicht der Halbweltdame zwei Orchideen. Der Name dieser teuren und exotischen Blumen leitet sich vom griechischen „orchis“ (Hoden) ab, eine verdeckte Anspielung auf den äußeren Anlass der sich hier anbahnenden Verbindung.

Es folgt eine längere Erzählszene im Café (S. 123-133). Zunächst errät Haller ihren Namen (Hermine), weil sie ihn an seinen Jugendfreund Hermann erinnert (S. 124). Dann erläutert sie, sie werde „eine Art Spiegel“ für ihn sein und unterwirft ihn ihrer Führung (S. 124). Plötzlich ernst geworden, verpflichtet sie Haller dazu, sie auf ihr Verlangen hin zu töten. Als er ihr vom „Tractat“ berichtet, spürt sie, dass mit dem Tiersymbol des Steppenwolfs nur Haller meint sein kann. Weil sie ihm Tanzstunden bietet, nötigt sie ihm auf, etwas zu kaufen, das ihm gründlich zuwider ist: ein Grammophon. Abschließend kommentiert der Pazifist Haller im Gespräch mit Hermine einen gegen ihn gerichteten Zeitungsbericht und warnt vor einem heraufziehenden Krieg (134 f.). Hermine nimmt seinen Idealismus belustigt zu Kenntnis (S. 136).

Haller kauft zunächst gemeinsam mit Hermine das verlangte Grammophon (S. 136), ehe sie ihm den ersten Tanz beibringt. Bereits am Ende der zweiten Tanzstunde deutet sie an, er könne nun schon den Foxtrot (S. 137).

Schauplatz des ersten Tanzes vor Gesellschaft ist das Hotel Balances. Dort lernt er den südländischen Saxofonisten Pablo kennen, den ihm Hermine vorstellt (S. 138). Hermine, die bald anderweitig beschäftigt ist, fordert Haller auf, sich eine Tanzpartnerin zu suchen. Er tanzt schließlich mit Maria, deren Name ihm Hermine verrät (s. 144). Sowohl dieser Tanz als auch der mit Hermine erregen ihn. Hermine erläutert kurz darauf die Natur ihrer Verbindung (S. 144) und entlässt ihn mit der Aufforderung, leben und lieben zu lernen (S. 145).

VI - Harry Hallers Aufzeichnungen: Maria und Pablo

In einer längeren Reflexion über sein Leben befasst sich Haller mit den Folgen, die seine Begegnung mit Hermines Welt ausgelöst hat. Insbesondere erkennt er seine eigene Bürgerlichkeit (S. 148), stellt fest, dass auch er ist, was er nie sein wollte, ein „Bourgeois“.

Sein Urteil über Pablo, der ihm mit Kokain nach einem ergebnislosen Gespräch die Stimmung aufhellt, muss er bei einer zweiten Begegnung revidieren, Am „Kai“ (S. 151) unterhalten sich Haller und der Saxofonist über die Bewertung von Musik. Während Haller als Musikkenner für Mozart und Haydn eintritt, vertritt Pablo als Musiker die Tanz- und Unterhaltungsmusik. Neben dem Pasodoble-Schlager „Valencia“ José Padilla Sánchez (1926) nennt er als Beispiel ein weiteres Stück, den 1925 geschriebenen Foxtrot „Yearning“ mit dem übersetzten Titel „Sehnsucht“.

Haller erlebt den Konflikt beider Welten als Zwiespalt. In einer Rückblende berichtet Haller zunächst von einem Konzert barocker und klassischer Musik. Besonders berührt ihn ein Duett von Haydn. Auf dem Heimweg denkt Haller über die völkerpsychologische Bedeutung der Musik für die Deutschen nach.

Nach der Heimkehr findet er in seinem Bett seine vormalige Tanzpartnerin Maria, die ihm Hermine zugeführt hat (S. 152, S. 155). Diese verführt ihn, und „aus dem Brunnen dieser Liebesnacht“ (S. 160) steigen ihm Bilder auf, die ihm den „unzerstörbare[n] Wert“ seines Lebens begreiflich machen. Ein Symbol dieses Aufbruchs zum Selbst sind die von Haller erwähnten „Sterne“.

In der nun beginnenden „Zeit vor dem Maskenball“ (s. 161) lernt Haller von Maria zu leben und zu lieben. Sowohl von Maria selbst als auch von Hermine erfährt er Details aus Marias sinnlichem Leben als Dame der Halbwelt. So weiß er bald von Liebesabenteuern Marias mit Hermine und Pablo. Eine „Liebesorgie zu dreien“ (S. 164) lehnt er ab, gibt sich aber im Opiumrausch gemeinsam mit Maria einer von Pablo suggerierten erotischen Phantasie hin. Während er die Augen geschlossen hält, küsst ihn Pablo auf die Augenlider.

In einem längeren Gespräch mit Hermine erklärt Haller der nun als geschwisterlich empfundenen Gefährtin, er könne – wie Faust – nicht durch Wohlleben glücklich werden (S. 167). Hermine deutet sein Sterbenwollen als Zug zur Ewigkeit, als Sehnsucht nach einem vom Leben nicht mehr verdeckten „Reich jenseits der Zeit und des Scheins“ (S. 173), wie es auch den Heiligen zugänglich ist. Auf dem Weg zu Maria (S. 174) versteht er endlich das Lachen der Unsterblichen.

Am vereinbarten Treffpunkt, einem „Vorstadtkneipchen“ (S. 175), hört Haller dieses Lachen – und schreibt das Gedicht „Die Unsterblichen“. Maria erscheint, Haller verbringt eine letzte Liebesnacht mit ihr und weiß, dass der bevorstehende Maskenball am bevorstehenden Tag zugleich einen Abschied von Maria einschließen wird. Hallers Metapher für dieses letzte Glück ist der Biss „in die süße Frucht des Paradiesbaums“.

VI - Das Magische Theater

1 - Vorraum und Spiegelerlebnis

Haller wird nun gemeinsam mit Hermine von Pablo in ein „kleines rundes Zimmer“ (S. 195) gebracht, das Haller seltsam unwirklich erscheint. Wie zuvor Hermine erscheint ihm Pablo als Aspekt seiner Seele. Pablo reicht seinen Gästen „drei dünne, lange, gelbe Zigaretten“ (S. 195) und eine „herbsüße, wunderlich unbekannt und fremd schmeckende Flüssigkeit“ (S. 196). Damit ist die Reise in den „Bildersaal“ von Hallers Seele eröffnet. Beim Blick in einen von Pablo gehaltenes Handspiegel denkt er an die hier abgewandelte Märchenformel „Spieglein, Spieglein in der Hand“ aus „Schneewittchen“. Im Spiegel erblickt er den Steppenwolf. Daraufhin führt Pablo Haller und Hermine in sein Theater, einen „hufeisenförmigen Korridor“ mit einer Vielzahl „schmale[r] Logentüren (S. 197). Pablo weist ihn gründlich in die Benutzung des Magischen Theaters ein. Höhepunkt der Einweisung ist die Löschung des „Harrywolf[s]“ (S. 199) im Spiegel, ein symbolischer „Scheinselbstmord“ (S. 198). Nach vollendeter Tilgung beginnt Haller zu lachen. Pablo zeigt Haller nun in einem großen Wandspiegel sich selbst – aufgespalten in unzählige Aspekte unterschiedlicher Verfassung. Während sich ein jüngeres Ich Hallers aus dem Spiegel löst und durch das Schlüsselloch der Türe „Alle Mädchen sind dein“ verschwindet, öffnet Haller eine Pforte mit der Aufschrift „Auf zum fröhlichen Jagen! Hochjagd auf Automobile“ (S. 201). 

2 - Hochjagd auf Automobile

Haller betritt eine apokalyptische Kriegsszene und gerät in den „Kampf zwischen Menschen und Maschinen“ (S. 201). Dort trifft er seinen ehemaligen Schulkameraden Gustav. Dieser erklärt ihm, er sei studierter Theologe. Beide ziehen sich mit einem eroberten Automobil an einen Hochsitz auf einer Pinie zurück, der im Gebirge an der spontan so benannten „Achsenstraße“ (S. 204) liegt. Wahllos beginnen sie auf Fahrzeuge zu schießen. Im ersten Wagen, einen „Fordwagen“ (S. 205), der mit der Felswand kollidiert, kippt und explodiert, findet Haller in einer Ledermappe ein Visitenkärtchen mit einer Sanskritaufschrift, die den Getöteten mit dem Mörder gleichsetzt: „Das (dort) bist du selbst“, oder „Tat twam asi“. Im folgenden Wagen treffen sie mit ihren Schüssen den Staatsanwalt Loering, dessen Schuld im pflichtgemäßen Töten von Amts wegen besteht. Sie zwingen den nächsten Wagen, Loering ärztlicher Betreuung zuzuführen. Seine Stenografin Dora folgt ihnen auf den Hochsitz. Weitere Fahrzeuglenker werden getötet. Schließlich brechen sie auf ins Tal, beim Überklettern der Brüstung küsst Haller Doras Knie. 

3 - Im Korridor

Nachdem das „Gestänge“ der Brüstung nachgibt (S. 212), stürzt Haller ins Leere, Bald findet er sich im Korridor des Magischen Theaters wieder und liest verschiedene Türaufschriften, die Themen des Romans spiegeln. Der Titel „Mutabor“ greift einen Verwandlungszauber aus Hauffs „Kalif Storch“ auf, das altindische „Kamasutram“ (S. 212) bietet „42 verschiedene Methoden der Liebesübung“ (S. 212). Ein anderer Titel zitiert ein evangelisches Kirchenlied von Johann Mentzer („O daß ich tausend Zungen hätte!“, S. 213), ein weiterer wirbt mit „Untergang des Abendlandes“, dem Hauptwerk des Kulturphilosophen Oswald Spengler. 

4 - Anleitung zum Aufbau der Persönlichkeit

Haller betritt den Raum, dessen Inschrift eine „Anleitung zum Aufbau der Persönlichkeit“ verspricht. Dort trifft er einen Figurenspieler, der Pablo ähnelt. Dieser schafft mit der Hilfe eines Spiegels ein Spiel aus den verschiedenen „Ichs“ aus Hallers Lebensspiel, das er nach Belieben neu gruppiert. Zum „Anfang aller Kunst, aller Phantasie“ (S. 216) erklärt er folgerichtig die „Schizophrenie“.

5 - Wunder der Steppenwolfdressur

Im nächsten Raum, einer „Jahrmarktbude“ (S. 217) erlebt das „Wunder der Steppenwolfdressur“. Ein Ich Hallers, das einem Kraftmenschen der Zirkuswelt ähnelt, dressiert einen Wolf, seinen Instinkt zu unterdrücken. Im zweiten Teil jedoch wird der Wolf zum Dompteur und weist Hallers Menschen-Ich an, ein Kaninchen zu reißen. Haller erkennt schaudernd die Brutalität seines Innern; dagegen wehrt sich sein menschlicher Anteil mit dem Vers „O Freunde, nicht diese Töne“, zugleich Titel eines pazifistischen Aufsatzes Hesses (3.11.1914, Neue Zürcher Zeitung) und Zitat aus dem Text zu Beethovens „Neunter Symphonie“.

6 - Alle Mädchen sind dein

Im vierten Raum mit dem Titel „Alle Mädchen sind dein“ (S. 219) erhält er Gelegenheit, die versäumte Liebesbeziehung zu einem Mädchen aus seiner Schulzeit, Rosa Kreisler, nachzuerleben. Nach diesem Jugendidyll taumelt er von einer verpassten Liebe zur nächsten, die er nun nachholt, ein „Schwimmen im Strom des Geschlechts“.

7 - Wie man durch Liebe tötet / Mozart

Auf den fünften Raum verweist die Inschrift „Wie man durch Liebe tötet“ (S. 227). Nachdem Haller den Raum betreten hat, führt er plötzlich ein Messer mit sich. Sein Spiegelbild zeigt sein ergrautes Ebenbild, das auf den Tod wartet. Begleitet vom Gelächter der Unterblichen naht sich Mozart, der Haller in ein in Finsternis getauchtes Theater führt. Dort wird eine seiner Open gezeigt: der „Don Giovanni”. In Mozarts Welttheater erblicht Haller nun Brahms und Wagner, die einen Zug schwarzgekleideter Musiker anführen, deren Leid sie durch überflüssiges Material zu verantworten haben. Haller denkt an sein eigenes Schaffen und wird für seine Bestürztheit von Mozart verspottet. Er ergreift dessen Zopf und wird in die „dünne Eisluft“ (S. 231) des Kosmos hinausgeschleudert. Als er im Korridor erneut sein Ich erblickt, zerschlägt er den Spiegel (S. 232). Mit dem Messer gelangt er an die letzte Tür. Im Raum, der sich dahinter öffnet, schlafen Pablo und Hermine, vom Liebespiel erschöpft. Haller tötet sie durch einen Stich ins Herz (S. 233), an jener Stelle, wo Pablos Zähne ein Liebesmal hinterlassen haben. Haller betrachtet die schöne Tote, deren Kälte ihm vorkommt wie „Musik“. Während Haller an den Schluss seines Gedichts „Die Unsterblichen“ denkt, tritt ein modern gekleideter Mozart herein, der ihm auf einem Radioapparat das „Concerto grosso in F-Dur von Händel“ (S. 23) vorspielt. Haller wehrt sich gegen diese Zumutung, was Mozart ihn veranlasst, ihn zu verspotten. Weder erkenne er den unzerstörbaren Geist der Musik, noch habe er nicht erkannt, weswegen er Hermine ermordet habe. Sein Verhalten legt nahe, dass er ein wichtiges Lernziel nicht erreicht hat: Humor.

8 - Harrys Hinrichtung

In einem Innenhof, eingeleitet von der Inschrift „Harrys Hinrichtung“ (S. 239), warten eine Gerichtsverhandlung und ein Fallbeil auf ihn. Für den Mord an einem „gespiegelten Mädchen“ (S. 239) Es wird eine dreifache Strafe verhängt: Erstens wird er zum ewigen Leben verurteilt, drittens zum „zwölfstündigen Entzug der Eintrittsbewilligung in unser Theater“ (S. 240) und drittens zum Ausgelachtwerden.

9 - Ende des Romans

Mitten im Vollzug der dritten Strafe kommt Haller wieder zu sich. Neben ihm sitzt wieder Mozart, der ihn auffordert, „den Galgenhumor dieses Lebens zu erfassen“ (S. 240) und „das Lachen zu lernen“ (S. 241). Daraufhin erkennt Haller in Mozart Pablo wieder, der ihm vorwirft, ihre „hübsche Bilderwelt mit Wirklichkeitsflecken besudelt“ zu haben. Er steckt Hermine als Spielfigur ein und reicht Haller eine Opiumzigarette. Haller glaubt nun, alles verstanden zu haben: Pablo, Mozart, das Lachen, die Figuren des Lebensspiels. Der Roman endet mit dem Satz: „Mozart wartete auf mich“.

Textsorte

  • Roman: Der Steppenwolf wird ein Roman durch den großen Umfang des Texts im Vergleich zu anderen Prosatexten bis zur Länge einer Novelle, durch die Vielzahl der Figuren, die vielschichtig angelegte Hauptfigur und die Pluralität der Handlungsorte, ebenso wie durch die Textsortenvielfalt und das komplexe Zeitgefüge.
  • Bekenntnisliteratur: Im Gefolge der Confessiones des Augustinus kann der Steppenwolf als Seelenbiographie, Lebensbeichte oder Bekenntnisschrift gelesen werden und legt damit nahe an der Romantradition der Empfindsamkeit (Jung-Stilling, Karl Philipp Moritz) und der Romantik (Friedrich Schlegel).
  • Entwicklungsroman: Durch die Thematisierung des geteilten Ichs (Wolf / Mensch) rückt der Text in die Nähe des analytischen Entwicklungsromans, der (oft aus der Ich-Perspektive) die krisenhafte Entwicklung der Hauptfigur beleuchtet und die Nebenfiguren dahinter zurücktreten lässt, wenngleich das vorangeschrittene Alter des Protagonisten dem widerspricht und sich die Lösung von Hallers Lebensproblem nur als vage Hoffnung darstellt.

Hauptthemen: Krisen

  • Harry Hallers Identitätskrise prägt sich aus durch das Auseinanderklaffen von Hallers bürgerlicher Rolle und seines Steppenwolf-Daseins; sie geht einher mit dem Durchleben einer Neurose (im psychoanalytischen Sinn) und der daraus folgenden Tendenz zum Selbstmord; schließlich kommt es im Traumtheater zur Freisetzung verdrängter Persönlichkeitsanteile und (andeutungsweise) zur Überwindung der Krise. Der Leser soll sich mit den problematischen Anteilen seiner Seele auseinandersetzen.
  • Harry Hallers sexuelle Krise liegt in der Schwierigkeit begründet, bis zur Intervention Hermines seine verdrängte Sexualität anzunehmen und auch deren homoerotische Anteile zu akzeptieren (Haller lässt sich von Pablo küssen).
  • Zeitkrise: Der Steppenwolf spielt in einer Umbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der überlieferte Kunstregeln, die traditionellen Lebensweise und die tradierte Gesellschaftsordnung durch neue Werte, neue Medien und die moderne Technik bedroht sind. Insbesondere als Warnung vor einem weiteren Krieg lässt sich der Steppenwolf deuten; Hesse warnt jedoch davor (Brief vom 4.5.1931), den Steppenwolf als destruktive Zeitkritik zu sehen und jene Werte zu ignorieren, die in den Unsterblichen personifiziert sind: Geduld, Gewissenhaftigkeit, Liebe, Verzicht auf Rache und Spott, freundliche Distanz zum Weltgeschehen.

Motive im Überblick

Zentrale Motive des Steppenwolf sind…

  • Das Motiv des Steppenwolfs weckt jene Assoziationen, die das Wolf-Symbol nahelegt: Wildheit, Gesetzlosigkeit, Einsamkeit, Weite. Es markiert überdies die Außenseiterrolle Harry Hallers. Es findet sich auch im Namen der Unsterblichen (Johann Wolfgang Goethe, Wolfgang Amadeus Mozart).
  • Magie erscheint im Steppenwolf als magische Auflösung der Grenzen zwischen Ich und Welt, Wahrnehmung und Fantasie, in der sich die Gegensätze der Wirklichkeit auflösen und harmonisch verbinden.
  • Das magische Theater steht für einen Raum, in dem Haller (in Rausch und Illusion) seinen Ernst ablegen, von sich zurücktreten kann und in einer Sphäre des Spiels das therapeutische Lachen lernen kann, das ihn von seiner Spaltung in unterschiedliche Persönlichkeitsaspekte
  • Die Musik, insbesondere die Musik Mozarts, führt Haller zur Sphäre des Geistes hin.
  • Das Lachen, von Haller zunächst abgelehnt, soll im Magischen Theater und durch die traumhafte Begegnung mit den Unsterblichen (Goethe, Mozart) erlernt werden. Humor befreit und distanziert, womit er Haller aus der Verwicklung in die Welt löst und seine weitere Entwicklung ermöglicht.
  • Der Spiegel, der Haller vorgehalten wird (auf der Gegenstandsebene), aber auch Texte (Traktat vom Steppenwolf) und Figuren (Hermine) spiegeln Hallers Persönlichkeit wieder, fordern ihn zur Auseinandersetzung mit den bisher abgelehnten Aspekten seiner Persönlichkeit auf und verdeutlichen ihm, dass er sich selbst nicht entkommen kann.
  • Im Tanz erlernt Haller von Hermine Lebensfreude – das Tanzen weckt seine sexuelle Energie und öffnet ihn für den Weltgenuss.
  • Das Leitmotiv der goldenen Spur lässt sich als Aufleuchten des Transzendenten, des Jenseits deuten, das irdische Gegensätze aufhebt, oder als immer wieder sichtbarer Hinweis zum Lebensziel.
  • Der Tod erscheint im Steppenwolf als Fluchtmöglichkeit aus dem Diesseits (Selbstmord), gleichzeitig aber auch als Möglichkeit der Erlösung.

Räume und Orte

Im Steppenwolf sind Räume…

  • Träger von Sehnsüchten (z. B. Hallers nach dem geordneten Bürgerleben);
  • Auslöser von Bekenntnissen (z. B. der Treppenabsatz mit der Araukarie);
  • Schauplätze und Handlungsräume, in denen Haller ins Leben eintaucht;
  • Fiktive Seelenräume (z. B. das Magische Theater), die eine Auseinandersetzung mit dem Selbst ermöglichen.

Zentrale Figuren

Hermine fungiert für Harry Haller als…

  • Spiegel und Therapeutin, die seine seelische Verfassung analysiert und ihn mäeutisch im Frage- und Antwortspiel zur Selbsterkenntnis führt (und beispielsweise sofort erkennt, dass Haller der „Steppenwolf“ des „Tractats“ ist);
  • Hermaphroditische Gefährtin, die Hallers weiblichen Seelenteil (die „Anima“ C. G. Jungs) repräsentiert und die Rolle von Hallers Jugendfreund Hermann einnimmt;
  • Vertraute und Freundin, die Haller ermöglicht, sich verstanden zu fühlen, die das Gefühl seiner Einsamkeit dämpft und durch ihre sozialen Fertigkeiten seine Isolation aufbricht;
  • Höllenführerin Beatrix (aus Dantes „Divina Commedia“, die Dante durch die Hölle führt), Führerin in der Hölle der ihn als fremd zurückweisenden Welt – und dann auch in der „Hölle“ des Maskenballs – eine ähnliche Rolle übernimmt Hermes als Totenführer in der griechischen Mythologie;
  • Sibylle, die mit ihren grauen (= blinden) Augen über eine gesteigerte Erkenntnis der Welt und die Fähigkeit zur Zukunftsschau verfügt (und deswegen zukunftsgewiss vorausdeuten kann, dass Haller sie (oder ihr Spiegelbild) töten wird;
  • Versucherin und Verführerin, die Hallers Begehren weckt und auf Maria umlenkt, ehe sie ihn selbst für sich beansprucht und zuletzt von Haller nach dem im Magischen Theater erscheinenden Liebesakt mit Pablo getötet wird;
  • Lehrmeisterin der Lebenskunst, die Haller zu Leichtigkeit (Tanz) und Lachen (Selbstdistanz) erzieht;
  • Dompteurin des Steppenwolfs und Mutterfigur, die Haller durch ihre Dominanz entmündigt und zum Kind macht, um ihn von der (selbst-)zerstörerischen Haltung seines Erwachsenen-Ichs abzulösen.

Pablo ist seiner Rolle nach…

  • (Homo-)Erotischer Versucher, der Haller mit verdrängten Aspekten seiner Sexualität konfrontiert (Suggestion einer erotischen Dreierkonstellation, Kuss auf die Augenlider); als mutmaßlicher Südamerikaner im Geist der Entstehungszeit Symbolfigur der Leidenschaft und des Triebs;
  • Therapeut, Thaumaturg (Wunderheiler)und Magier, der Opium einsetzt und als Betreiber des Magischen Theaters erscheint, jenes Orts, an dem Haller sich befreit, in dem er mit abgespaltenen Aspekten seiner Persönlichkeit und verdrängten Wünschen umgehen lernt;
  • Exot ungeklärter Herkunft ohne bürgerliche Identität, der Haller als Angehöriger der Halbwelt ein Leben ohne bürgerliche Konventionen ermöglicht; damit Vertreter des von der bürgerlichen Moral gelösten reinen Empfindens, der Liebe, des Mitgefühls und der Fürsorge;
  • Kontrastfigur als schöne Oberfläche und Inbegriff der Kindlichkeit zur exzessiven Selbstbetrachtung und Innerlichkeit Harry Hallers;
  • Musiker, dessen Saxophonspiel Halder den Weg von rein theoretischer Musikbetrachtung zum Erfühlen der Musik weist.

Maria ist für Haller…

  • Mütterliche Trostspenderin, die Haller fraglos annimmt (S. 158: „du darfst nicht anders sein, als du bist“), aber nicht ständig verfügbar ist (Anm.: Bezüge zu Hesses Mutter Marie Hesse, geb. Gundert, zu Hesses erster Frau Maria Bernoulli);
  • Erotische Geliebte, deren Sinnlichkeit Haller mit den Bedürfnissen seines eigenen Körpers vertraut macht und deren Liebeskunst seine inneren Verspannungen löst, daher auch die Betonung ihres Dufts (Düfte wirken unterhalb der Bewusstseinsschwelle);
  • Begleiterin bei der Aussöhnung mit der Warenwelt (Mode, Schmuck, Kino);
  • Inkarnierte Männerphantasie und Symbolfigur der Weiblichkeit, die Haller in (vermeintlich) weibliche Lebensbereiche einweist (Körper, Verführung, Empfindung); dabei oft stereotyp dargestellt: Maria hat kaum Sprechanteile, ist dagegen häufiger Gegenstand des Gesprächs (S. 165: „Mit Hermine sprach ich oft lange und sachlich über Maria“), wird verschiedentlich mit einer Blume verglichen (S. 156: „ihr Blumengesicht“; S. 158: „aufblühender Blick“; S. 159: „meine schöne, schöne Blume“); lebt für ein rasch vergehendes Heute, verwirklicht sich durch Konsum, ist passives Objekt männlicher Handlungen (lässt sich kaufen und aushalten), reagiert unmittelbar und ohne kritisches Urteil; zerfließt in ungehemmtem Gefühlsausdruck.

Steppenwolf und Faust im Vergleich

Direkte Bezüge zu Goethes „Faust“

  • Im „Tractat“ wird ausdrücklich auf „Faust“ Bezug genommen („Faust“, 1112: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“): „Wer etwa den Faust auf diese Art betrachtet, für den wird aus Faust, Mephisto, Wagner und allen andern eine Einheit, eine Überperson, und erst in dieser höhern Einheit, nicht in den Einzelfiguren, ist etwas vom wahren Wesen der Seele angedeutet. Wenn Faust den unter den Schullehrern berühmten, von Philistern bewunderten Spruch sagt: ‚Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!“, dann vergisst er den Mephisto und eine ganze Menge Seelen, die er ebenfalls in seiner Brust hat.“ (S. 72).
  • Beide Gedichte im „Steppenwolf“ bestehen aus eben jenen Knittelversen, die auch den „Faust“ dominieren. Parallelen gibt es insbesondere zwischen dem monologischen Gedicht „Steppenwolf“ und Fausts bekanntem Eingangsmonolog.

Parallelen

  • Harry Haller und Faust haben die Lebensmitte bereits überschritten; Faust ist etwa fünfzig, Haller in den Endvierzigern.
  • Beide sind Geistesarbeiter – Haller als Publizist, Faust als Wissenschaftler – die ihrer Tätigkeit jedoch distanziert gegenüberstehen.
  • Sowohl Haller als auch Faust durchleiden eine bereits länger andauernde Sinnkrise, die sich in Lebensüberdruss und Selbsthass äußert.
  • Diese suchen beide mit vergleichbaren Mitteln zu überwinden, deren Spannweite von der Selbstzerstörung bis zu intensiviertem Leben reicht:
  1. durch einen Selbstmordversuch;
  2. durch die Einnahme von Drogen;
  3. durch eine Verjüngung (bei Faust: die tatsächliche, bei Haller: die empfundene);
  4. durch die Hinwendung zum Gesellschaftlichen (Auerbachs Keller, Osterspaziergang – Tanz);
  5. durch die Befriedigung erotischen Verlangens (Gretchen – Maria);
  6. durch die Teilnahme an einer orgiastischen Feier (Walpurgisnacht – Maskenball).
  • Beide Figuren sind einsam, nehmen als Außenstehende an bürgerlichen Vergnügungen teil.
  • Sowohl Faust als auch Haller sind durchaus anerkannte Vertreter ihrer Zunft – Haller ist ein profilierter Gelehrter, den der junge Professor sehr schätzt (S. 88), Faust wird seiner medizinischen Kenntnisse gerühmt (Alter Bauer: „Herr Doctor, das ist schön von euch, / Daß ihr uns heute nicht verschmäht, / Und unter dieses Volksgedräng’, / Als ein so Hochgelahrter, geht.“ (V. 481-84).
  • In beiden Werken wird scharf Kritik an der bürgerlichen Daseinsweise geübt – im „Steppenwolf“ geht diese Kritik von Haller selbst aus, im „Faust“ sind es satirisch überzeichnete Nebenfiguren, die das Bürgertum diskreditieren („Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feyertagen, / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrey, / Wenn hinten, weit, in der Türkey, / Die Völker auf einander schlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man Abends froh nach Haus, / Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“ (V. 860-867) .
  • Beide Charaktere sind in dieser Hinsicht widersprüchlich, spüren eine sentimentale Volksverbundenheit: Faust lehnt zwar Studentenfrohsinn und Gelehrtenwesen ab, fühlt sich aber in „Vor dem Thor“ (V. 940) geradezu wohl: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s seyn.“ Dem entspricht Hallers Besuch im „Stahlhelm „ (S. 179 f.) und dessen verklärter Blick auf die anwesenden Trinker.
  • Haller verspürt wie Faust eine innere Zerrissenheit, die bei beiden auf „zwei Seelen“ zurückgeführt wird.
  • Auch der Wahnsinn ist ein wichtiges Motiv: Die Zwangsgedanken Hallers, die beständig um den Tod kreisen, entsprechen dem Schwanken Fausts zwischen Selbstentwertung und Euphorie und Gretchens Wahnsinn im Kerker, ebenso die sich wiederholenden Bezüge zur Schizophrenie
  • In beiden Werken treiben magische Spiegel die Handlung voran. In „Faust“ erblickt Faust im Spiegel Gretchen („Was seh’ ich? Welch ein himmlisch Bild / Zeigt sich in diesem Zauberspiegel!“, V. 2430), im „Steppenwolf“ löscht Haller sein Bild in Pablos Handspiegel (S. 199).
  • In beiden Werken bricht das Übernatürliche in den Alltag der Protagonisten ein - im Fall Harry Hallers geht die Magie vom „Tractat“ und der Einladung ins „Magische Theater“ aus, bei Faust ist es das Erscheinen Mephistos.
  • Sowohl im „Steppenwolf“ als auch im „Faust“ üben die Protagonisten Zeitkritik: Haller wendet sich gegen technischen Fortschritt und die vermeintliche Belanglosigkeit der zeitgenössischen Unterhaltungsmusik, Faust verachtet die Stumpfheit der Studenten in Auerbachs Keller.
  • Haller und Faust töten, indem sie lieben: Haller tötet Hermines Spiegelung im „Magischen Theater“, Faust führt durch die Liebesnacht mit Gretchen deren Entehrung, Kindsmord und Hinrichtung herbei.
  • Die Frauenfiguren beider Werke sind den Protagonisten einerseits untergeordnet (Gretchen ist ein bedeutend jüngeres Bürgermädchen, Hermine eine Halbweltdame), andererseits verfügen sie als Retterinnen über Heilsmacht: Hermine rettet Haller vor dem Suizid, Gretchen rettet den bereits zu Höllenstrafen verdammten Faust. Dazu sind beide fromm im Sinne eines vom Gefühl ausgehenden Glaubens, wenngleich Hermine der konventionellen Kirchenpraxis kritisch gegenübersteht, im Gegensatz zu Margarete.
  • Erotik wird in beiden Werken auf den Sündenfall In der „Walpurgisnacht“ aus dem „Faust“ sagt die schöne der beiden Hexen: „Der Aepfelchen begehrt ihr sehr / Und schon vom Paradiese her“, V. 4132-33), Haller muss sich durch Maria vom „süßen, aber bangen Geschmack der verbotenen Frucht“ (S. 177) befreien.
  • Der Gipfel der Verführung findet an Orten statt, die in Bezug zum verkörperten Bösen stehen – Faust tanzt inmitten der Hexen auf dem Blocksberg zu Ehren Satans, Haller tanzt in der „Hölle“ seinen Hochzeitstanz mit der hermaphroditisch anziehende Hermine.
  • Auch eine Verführung durch das Tanzen wird in beiden Werken thematisiert – im Faust „Walpurgisnacht“ tanzt der verjüngte Faust mit der schönen Lilith und teilt gegen den Brocktophantasmisten aus, dessen Schwere ihm jeden Tanz verbietet. Im „Steppenwolf“ löst der Tanz mit Maria Hallers seelische Verspannungen und er beginnt (zunächst) genussvoll zu leben.
  • Auch die Bedeutung des Humors ist nicht zu unterschätzen: Haller soll an verschiedenen Stellen im „Steppenwolf“ das Lachen lernen, auch Mephisto (V. 2536 f.) sieht sich als Ausbilder in heiterer Leichtigkeit: „Ey Possen! Das ist nur zum Lachen; / Sey nur nicht ein so strenger Mann!“.
  • Zuletzt liegt in beiden Werken eine Zweiteilung des Weltbilds in Menschenwelt und Makrokosmos vor. Im „Faust“ wird das Übermenschliche durch den „Prolog im Himmel“ eingeführt und immer wieder angespielt als Ziel einer höheren Erkenntnis, im „Steppenwolf“ ist der „Weltraum“ (S. 65) das Reich der „Unsterblichen“ und Ziel einer Befreiung von bürgerlichen und persönlichen Beschränkungen.

Typische Aufgabenstellungen

Textstelle

Aufgabenstellung

Vorwort des Herausgebers

 

  • Außen- und Innensicht, Charakterisierung Hallers (KÖN)
  • Funktion des Vorworts (KL)

Magisches Theater

  • Bedeutung der Ereignisse im Magischen Theater (KÖN)
  • Ermordung Hermines als Fort- oder Rückschritt (KÖN)
  • Bedeutung der Pablo-Figur (KÖN)
  • Magisches Theater als Blick in Hallers Innenleben (KL))
  • Scheitern oder Erlösung Hallers im Magischen Theater (KL)

Traktat vom Steppenwolf

  • Funktion  des Humors (KÖN)
  • Bedeutung des Traktats für die Gesamthandlung (KL)
  • Vergleich mit einer Textstelle aus dem Magischen Theater (SCHÖN)

 

Die Unsterblichen

  • Entwicklung des Protagonisten und der Konstellation Harry Haller-Hermine (KÖN)
  • Goethe als Vertreter der Unterblichen (KL)
  • Charakterisieren des Verhältnisses von Harry Haller und Hermine (KL)

Hochjagd auf Automobile

  • Hauptthemen des Romans  herausarbeiten (KL)

Professoren-Ereignis

  • Analysieren der Textstelle (SCHÖN)

Biographie

  • Verhältnis der Biographie Hesses zur Figur Hallers (KL)

 

Lektürehilfen

  • KL = Fellenberg, Monika: Hermann Hesse: Der Steppenwolf. Für Oberstufe und Abitur. Stuttgart: Klett, 2017, 1. Aufl. (Klett Lerntraining)
  • KÖN = Herforth, Maria-Felicitas: Erläuterungen zu Hermann Hesse:  Der Steppenwolf. Hollfeld: Bange, 2009, 1. Aufl. (Königs Erläuterungen und Materialien; 473)
  • SCHÖN = Schwake, Timetheus: Hermann Hesse: Der Steppenwolf… verstehen. Paderborn: Schöningh, 2010

Bibliographie

  • Hesse, Hermann Der Steppenwolf : mit Texten und Entwürfen zur Entstehung des Romans. Berlin : Suhrkamp, 2015, 5. Aufl. (Suhrkamp-Taschenbuch; 4355)
  • Michels, Volker (Hrsg.): Materialien zu Hermann Hesses „Der Steppenwolf“. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1998
  • Voit, Friedrich (Hrsg.): Hermann Hesse, Der Steppenwolf. Stuttgart : Reclam, 1996 (Reclams Universal-Bibliothek; 8193 : Erläuterungen und Dokumente)
  • Pfeifer, Martin: Hesse-Kommentar zu sämtlichen Werken. München : Winkler, 1980