Schulzeit, Zeit der Schule
Kann man in neunzig Minuten einen Essay schreiben? Einen guten? Wenn man in neunzig Minuten Kindertränen trocknen, Adverbialsätze erklären, das Tagebuch kontrollieren kann – und dazu lüften; wenn man in neunzig Minuten Freundschaften kitten kann und die Sitzordnung ändern, das alles in neunzig Minuten – da soll man keinen Essay schreiben können in neunzig Minuten? Es wird ein atemloser sein, auf der Suche nach Gegenständen, die man im Vorbeirauschen aufsammelt, wie man Entschuldigungen annimmt oder grüßt auf dem Gang. Es geht um Zeit.
Es geht um Zeit, die wir nicht haben, die wir uns nicht nehmen. Es geht um Zeit, die sich zähflüssig ausdehnt wie Honig, die Fäden schlägt, wenn man sie anrührt. Es geht um Zeit, die verrinnt wie Quecksilber. Zeit in der Schule ist ein dehnbarer Begriff, nicht begrenzt, wie die Schulzeit.
Als ich selbst noch ein Schüler war, in jener Zeit, als noch Weichkäfer in rauen Mengen auf den Dolden des Bärenklaus saßen, da strich die Zeit wie ein Sommerwind über endlose Felder. Diese süße Zeit der Muße begegnet mir wieder, wenn ich alte Zeitungen aufschlage, etwa von 1863. Endlos verrinnt das Jahr in der Kleinstadt, kaum etwas geschieht, vielleicht geht ein Huhn verloren, vielleicht werden Heringe geliefert. Das Leben gefällt sich selbst in langweiligen Wellen, auf deren Gipfeln mal Kirchweih ist und mal Pfingsten, mal Weihnachten und dann wieder Metzelsupp. In diesen Zeiten lernt man vor sich hin in behaglicher Ruhe, man weiß, da draußen ist nichts los, und hier drin, bei Cicero und Euklid – erst recht nichts, nur der Rohrstockt schlägt die Zensuren.
Die Zeiten haben sich geändert und mit ihr die Zeit. Wir haben unsere Möglichkeiten beschleunigt und uns nach Möglichkeit. Nachrichten flitzen durchs Netz, fast so schnell wie das Licht, wir jetten durchs All von A nach B. Ein Gleich! oder Später! ist fast eine Beleidigung. Auch in der Schule hasten wir durch, hetzen wir unsere Schüler Richtung übermorgen, als gäbe es kein Heute. Der Bildungsplan ist so überfüllt, dass wir ihn nur atemlos abtragen können. Ein Test jagt den nächsten, Klassenarbeit folgt auf Klassenarbeit, vor Weihnachten rast die Zeit dahin, dann kommt Ostern, das Jahr ist fast rum, aber halt, die mündliche Prüfungen gehen fast saumlos über ins Schullandheim. Dann: Montag, Dienstag, Mittwoch, aus. Je älter wir werden, desto mehr verfliegen die Jahre.
Wie ein Fahrzeug, das nach rasanter Fahrt zum Stehen kommt, schlingern wir langsam aus, wenn die Sommerferien mählich beginnen und sich dehnen und duften wie Heu in der Julisonne. Endlich verlangsamt sich der Jahreslauf. Der Himmel wird weit in seiner unbegreiflichen Bläue. Die letzten Arbeitsblätter gilben vor sich hin, ein winziger Rüsselkäfer stelzt über ein vergessenes Entschuldigungsschreiben. Jetzt, endlich, öffnen sich die Fenster unserer Seele, wir nehmen die Scheuklappen ab, das Hamsterrad kullert aus in wackligen Schleifen.
Warum beeilen wir uns so, im Unterricht? Zum einen, weil wir uns fürchten, dass sich die Schüler entsetzlich langweilen, wenn wir das Tempo drosseln. Zum andern gewiss, weil wir befürchten, dass und die Zeit ausgeht für unseren Stoff, dessen Fülle uns der Bildungsplan vermittelt und das Lehrbuch vorgibt. Wir bedenken nicht, dass wir als Wesen der Zeit in anderen Rhythmen leben als in jenen, die uns der Schultag vorgibt. Stattdessen beschleunigen wir, was uns umgibt: Sterne taumeln wie Kreisel, die Erde altert im Nu, Heere erstehen, Länder vergehen. Pfeilschnell ist das Jetzt verflogen, aber auch die Vergangenheit kennt keinen ewigen Stillstand.
Ein Schultag! Der Tag hat kaum begonnen, schon sinken die Sterne. Das späte Aufstehen verknappt uns das Frühstück, der halbe Kaffee gluckert im Abguss. Schnell zur Schule, kopieren; es kribbelt, wenn die Schlange am Kopierer nicht kürzer wird. Dann stürmt man ins Klassenzimmer, der Unterricht nimmt Fahrt auf, dann Gong, Eintrag ins Tagebuch. Zwanzig Minuten Pause verfliegen schneller als Badeschaum im Luftzug: Hinunter ins Lehrerzimmer, kurz die Klausur noch besprechen mit den Kollegen, ein Kind meldet sich krank, und wieder Kopieren. Der nächste Unterricht, zu dem man ins Nebengebäude hetzt, beginnt mit Verspätung. Ist der Unterricht vorbei, flieht man nach Hause, Zeit aufholen, und erlangt sie doch nicht: Things to do.
Dasselbe Los blüht den Schülern. Zwar dehnt sich die Zeit in den Stunden, die man sitzend verbringt, untätig, die ohne Erregung der Sinne verstreicht und den Geist ermattet. Dann aber folgen gedrängtere Stunden: Die Fülle und Verschiedenartigkeit des Stoffs fließt durch euch hindurch, passiert, ohne dass etwas geschieht. Der ganze Flitterkam der Bildung stumpft euch ab, es fehlt euch die Zeit, euch zu bilden, Ziele zu suchen, euch zu verbinden. Die Rhythmen des Lebens sind euch egal, weil sie auch uns nicht kümmern: Wir atmen atemlos, und unser Herz schlägt unter Herzrasen. Wie oft drängen wir euch, wie oft drängelt ihr uns?
Was könnten wir nicht bewegen, wenn wir die Stoppuhren und Stechuhren einmal vergäßen, wenn wir uns eher die Zeit nähmen als uns so wichtig. Die besten Dinge an der Schule brauchen Zeit: Gute Gespräche, mit Schülern, mit Eltern, Kollegen. Kunst braucht Zeit, Musik, Theater, freies Schreiben. Echtes Lernen braucht Zeit, das die Sinne berührt, das einsickern kann in unsern verfestigten Geist, das uns langsam ausfüllt – im Experiment, im Lerngang, im Leergang. Vor allem brauchen wir Zeit für uns selbst, um uns zu spüren, um unsere Kräfte zu erholen, um uns zu entwickeln. In einer guten Schule nimmt man sich Zeit. Niemand drängt uns, treibt uns an. Unsere Schüler schreiten voran, so schnell, wie sie können; was dauert, darf dauern. Die Gründlichen dürfen langsam sein und die Schnellen werden nicht gehemmt. Es gibt keinen Gleichschritt mehr im Sekundentakt, und die Minuten zählen wir in Stunden.
Wo sind solche Schulen? Es gibt sie nicht. Es gibt nur die Inseln der Stille, in der uns die Muße umfängt, von der die Schule ihren Namen hat. Ein Kollege von mir meditiert mit den Schülern. Ich könnte schwören, er hebt die Zeit auf im Turnus der Atembögen. Dann gibt es die die Augenblicke, wenn wir alle zusammen abschweifen in Traumländer, in verrückte Sensationen. Wir halten den Atem an und die Zeit, wenn ein Wolkenbuch niedergeht oder ein Eichhörnchen vorbeihüpft. Wenn die letzten Noten eines Liedes in die Dunkelheit des Musiksaals tropfen oder ein letztes Wort von Heine in der Morgensonne schimmert. In solchen wunderbaren Augenblicken schulischen Glücks ist der Sklaventakt des Sekundenzeigers gebrochen, und wir spüren wieder, dass wir nicht für die Uhr leben.
Fast fünfzig bin ich schon. Ich spüre, dass meine Zeit verrinnt, dass es ein Ende gibt meiner Bemühungen. Wie weit das weg ist von euch! Es tut mir gut, wenn ihr so zeitlos dahinlebt, und es ergreift mir das Herz, wenn es euch eilt. Wisst ihr, Unendlichkeit ist ein gutes Gefühl, trinkt es in großen Schlucken, damit ihr zehren könnt davon, wenn ihr dem Ende naht. Ihr werdet jetzt hinweglesen über meine Gedanken zur Zeit, aber vielleicht überdauern sie in euch, Fossilien, in Schichten eures Bewusstseins, vielleicht begegnen sie euch erneut? Irgendwann kommt ihr ans Ende eurer Zeit. Dann grüße ich euch, euch beim Vergehen, als Vergangener, aus meiner Zeit. Denn neunzig Minuten sind um.