Rudolf Nissler: Malermeister und Dichter

Biographie

Rudolf Nissler kommt am 18.11.1920 als Sohn des Malermeisters Rudolf Nissler und seiner Frau Johanna Nissler (geb. Seitz) in Winnenden zur Welt. Die Wohnung des Großvaters, des Kupferschmieds Wilhelm Nissler, befand sich im Gebäude Marktstraße 6, der Vater wohnte zunächst im Haus Binder in der Schlossstraße, unweit von der Albert-Zeller-Schule. Schon der Vater hatte die Kunsthochschule in Stuttgart besucht und pflegt neben seinem Handwerk die freie Kunst. Als Kommandant der Winnender Feuerwehr von 1942 bis 1945 war er eine angesehene Persönlichkeit des Orts. Es liegt also nahe, dass der ähnlich begabte Rudolf Nissler in die Fußstapfen des Vaters tritt und dessen Malergeschäft übernimmt. Nach der Heirat 1948 bezieht Nissler die Werkstatt in der Badstraße 9. Bald sieht man Nissler mit dem Mofa zum Auftragsort fahren, die Arbeiter und Gesellen folgen mit dem Pritschenwagen. Ab 1952 beginnt Nissler seine Gedichte aufzuschreiben und in geselligem Rahmen vorzutragen. Als letzte größere Auftragsarbeit vergoldet Rudolf Nissler 1990 den Turmhahn der Kirche in Hanweiler. Die letzten Jahre verbringt Nissler im Kreis der Familie und auf Gebirgswanderungen mit Freunden, ehe er im Februar 2005 verstirbt (pers. Mitt. Schwab, 7.4.2020).

Werk

Rudolf Nisslers Gedichte sind unveröffentlicht. Sie kursierten im Freundeskreis und liegen als Gedichtband nur in loser Zusammenstellung für die Familie vor (Etzel, 2020, Nissler, undat.). Nissler schreibt als „bekennender Schwabe“ – und so verwundert es nicht, dass das erste Gedicht im Band dem „Schwobeland“ gilt. Es ist im Januar 1956 entstanden und versammelt als Reihengedicht in vierhebigen Trochäen schwäbische Kulturgüter von Uhland bis zum „Fledrewisch“. Interessant ist der Autorenkatalog: Auf Schiller wird kaum ein Schwabe verzichten, aber auch Karl Gerok und der Buocher Hiller sind sicher nicht zufällig gewählt. Auch in „S’Gsicht von dr Hoimet“ (1967) entwirft das lyrische Ich beim Rundblick von Bürg ein Bild der schwäbischen Heimat. Einen scherzhaften Versuch schwäbischer Namensdeutung unternimmt Nissler in einem längeren Gedicht, das in die Zeit des Varus zurückführt: „Wie mir mei Vadder, als kloiner Bue, die Entstehung von einige Ortsname dohannerom erklärt hot“. Der römische Feldherr erscheint als württembergischer Namenspatron: Cannstatt führt er auf eine „Holzkann Moscht“ zurück, Winnenden auf das Wort Wein und Backnang auf das „Pack“. Es gibt eine ganze Reihe schwäbischer Gedichte, in denen sich Nissler mit Sprachwitz und hintergründigem Humor schwäbische Eigenheiten vorknöpft. In „Ebbes“ schwindet der landestypische Materialismus im letzten Vers: „Ebbes für mi - / Ond ebbes für d’Leut - / Au ebbes zom Schluss: / Für d’EWIGKEIT!“. In „D’Schwabeleut“ nimmt Nissler selbstironisch den schwäbischen Lokalpatriotismus auf die Hörner – um in „Schwäbische Reaktion“ seine Landsleute gegen Nordlichter aus Dortmund zu verteidigen.

Von der Diktatur des Sollens erzählt „Mr Sott“ Immer wieder trifft Nissler den rechten Ton, und selbst, wo er derb ist, ist er philosophisch. So trifft er in „Schwäbische Weisheite“ (24.6.1997) die Löwenwirtin Hilda aus Hertmannsweiler beim Beerenpflücken an. Sie erläutert die Umstände der Beerenernte, und, befragt, warum denn das „Zopfe“ (das Pflücken) so a „Miischt“ sei, entgegnet sie: „Weil do dr Arsch haicher stoht / Wia d’Händ ond’s Gsicht!“. Schwäbisch derb geht es auch in „D’Faßnetsküechle“ zu, in dem ein Knabe die gierig verschlungenen „Küchle“ am Ende „rufzuestschluckt“. Lukullisch sind dagegen „D’Weiprob“, „Schwäbische Vesperle“ und „Lense ond Spätzle“. Auch dem „Gaisburger Marsch“ widmet Nissler ein Preisgedicht: „Besinnliche Betrachtung“. In „Schwäbische Kost“ liefert Nissler geradezu ein Rezept für Sauerkraut.

„Meine Hausschwalbe“ (1998) ist ein schönes Beispiel für Nisslers Gabe, Alltagsgbeobachtungen in lebendigem Schwäbisch zu reflektieren. Die spätere „Ballade von meine Hausschwalbe“ (1999) beruht auf diesem Text, das „Herbsterlebnis mit meinen Hausschwalben“ (1996) kann man als Vorläufer sehen. Rauchschwalben waren im agrarischen Winnenden häufige und gern gesehene Brutgäste, vertilgten sie doch die unzähligen Fliegen. Ähnlich pointiert ist „Am Biotop“, wo der Sprecher Frösche bei der Paarung beobachtet. In „Lebenserfahrung beim Zeitlunglese“ darf das lyrische Ich nach Herzen über die politischen Verhältnisse schimpfen – „bruddla“ nennt der Schwabe diese befreuende Gedankenabfuhr. In „Relationen und Standpunkte“ durchschreitet es die Lebensalter. Zyklen gibt es bei Nissler öfter: etwa einen Jahreszeitenzyklus, in Königsfeld entstanden, oder das Jahreszeitengedicht „Johreszeite auf Schwäbisch“. Auch einen zwölfteiligen „Jahreszyklus“ hat Nissler verfasst.

Nisslers Alterstexte (ab 1994) setzen sich mit offen mit der eigenen Sterblichkeit auseinander und mit den unabweisbaren Folgen des Älterwerdens. Der Tod ist immer gegenwärtig, im Frühling, auf der Fahrt zum Feldberg, am frühen Morgen, an einem Herbsttag. In „Schlaflose Nächte“ kehrt das lyrische Ich ins Jahr 1944 zurück und an die umkämpfte Küste der Normandie. Satirisch ist „Ooser Spiegelbild“, das zunächst wie ein Lob des biederen Landbürgers klingt, im letzten Vers aber deutlich macht, dass es „Bachel“ (Narren) auch auf dem Land gebe, nur seien sie eben „recht guet verstreut“. Besonders komisch ist „Neuestes rationales Kurzgedicht 1996“: Hier lässt der Sprecher beim Putzen für besonders befriedigende Wirkung seine „Brille honde“ (setzt sie nicht auf) und setzt bei der Gesichtswäsche sein „Hütle“ auf, damit er weiß, wo sein „G’sicht afangt“. Auch in der Standardsprache sind Nisslers Verse echt und ehrlich. Auffallend viele Gedichte sind Sonntagsgedichte („Sonntagmorgen“, „Gedanken von Peter Hahne zum Sonntag“, „Sonntagmorgen“). Besonders in der Naturlyrik ist der Schöpfer nicht weit – wenn das lyrische Ich den Buckelgang der Raupen beschreibt oder die glitzende Schneckenspur, spürt er die Gegenwart Gottes.

Nissler hat auch Gelegenheitslyrik verfasst, die auf Reisen oder anlässlich von Festen entstand. Sein Hauptverdienst für Winnenden liegt darin, dass er örtliche schwäbische Kultur ins Wort bannt. In Gedichten wie „Mei Maugeneschtle“ überliefert er Wörter, die nur noch älteren Winnendern bekannt sind. Die Beherrschung des Dialekts fördert die Fähigkeit zur sprachlichen Differenzierung, was Nisslers letztes Gedicht vom 12.11.1999 zeigt, das die Lebenserfahrung des Malermeisters durchscheinen lässt:

G’hopf isch net net g’schpronge –
Ond brommt ette g’songe.
G’schmotzt set et g’tstriche –
Ond gange aut et g’wiche!
Bäbbt isch gwieß et g’leimt –
Ond g’jommert nie net g’weint!
Gläbbert ette g’gosse –
Ond g’schneuzt isch lang et g’nosse!
Purzelt ist net g’floge!
Ond naghangt aut et zoge!

Bezug zu Winnenden

Angelpunkt von Rudolf Nisslers Leben und Dichten ist Winnenden – dort, in der Vorstadt, ist er aufgewachsen, zur Schule gegangen, dort hat er gearbeitet und gelebt. Ein anschauliches, lebendiges Bild des alten Winnenden entwirft „S’Gartegässle“, entstanden im November 1952, kurz nach der Neuanlage der verlängerten Wallstraße. Angesichts des neuen Verkehrswegs denkt das lyrische Ich an die Kindheit zurück. Das Gedicht belegt eindrücklich, wie zärtlich das Schwäbische sein kann – und wie wichtig die Literatur auch für das Festhalten flüchtigster Bilder sein kann:

Am Sonntich schau beim Kircheläüte
Isch jong ond Alt des Wegle nauf
Ja, selbst zom Friedhof isch mrs gange
Zur Hauich ond zu mancher Tauf.
Wie i hent viele uf dem Wegle
Manchs Schrittle do, manch grauße Schritt
Ond wenn i zruck denk an des Gässle
Goht leos ond zart d‘Erinnrong mit –

Eine Anekdote in Prosa führt noch weiter in die Winnender Vergangenheit – ins Jahr 1900, als der Kupferschmied Wilhelm Nissler nach Winnenden kommt. Sie handelt vom Wasserholen aus dem Siechenbrünnele unweit vom Zipfelbach. Ein anderes Winnendengedicht erzählt von NIsslers eigener Geburt im Jahr 1920, ein weiteres von Nisslers zweitem Schultag in der Albert-Zeller-Schule. Vom Alltagsleben in Bad- und Bachstraße berichtet die „Politische Ballade von meiner frühen Weltanschuung“ (1997).

Bibliographie

  • Nissler, Rudolf: Kostproben: Gedanken und Reime eines überzeugten Schwaben. [Spiralhefter, ca. 1999]
  • Mitteilung Walther Etzel, 17.10.2020