Mein Lehrer digitalisiert sich
Vergeblich versuche ich, die Bluetooth-Box mit dem klapprigen Schullaptop zu verbinden. Meine Englisch-Schüler sehen mitleidig zu, wie ihr Lehrer an den Tücken der Technik verzweifelt. Dann stehen zwei auf: „Can we help you?“. Im Grunde war das eher eine Feststellung als eine Frage. Denn man hat mich schon vorher bei einigen Medienschusseligkeiten ertappt. Ich fühle mich wie ein Tattergreis, der vor dem Fahrkartenautomaten steht und angestrengt überlegt, auf welchen der vielen Knöpfe er drücken soll. Dabei bin ich ein Digital Native der ersten Stunde. Ich bin erwacht, als die Morgenröte des Silizium-Zeitalters ihre Rosenfinger ins deutsche Medien-Mittelalter ausfuhr. Aber der Reihe nach!
Wenn Jungs ihren Lehrer wirklich mögen (oder gekonnt veräppeln), dann fragen sie: Was zocken Sie? Anstelle einer knackigen Antwort („Derzeit FIFA 22“) hole ich etwas weiter aus. Geschichte finden die meisten Mittelstufler eher mäßig interessant. Anders sieht es aus, wenn sie merken, dass sie es mit einem Zeitzeugen der Digitalisierung zu tun haben. Ganz ehrfürchtig werden sie dann – wie Archäologen, denen ein leibhaftiger Cro-Magnon-Mensch erläutert, wie er auf die Idee mit den Höhlenbildern gekommen ist.
Die DDR war noch nicht ganz untergegangen, als in der Wohnung meiner Eltern der erste PC stand: Ein klobiger Kasten, auf dem ein noch klotziger Bildschirm Platz hatte. Als hochmodernes Gerät war diese Segnung des Fortschritts, ein 286er, ausgestattet mit Laufwerken für Disketten zu 3½ und 5 ¼-Zoll. Wem das zu technisch ist: erstere waren so dick wie sehr dünnes Smartphones und etwas kleiner als Bierdeckel. Mit Filzstift schrieb man auf Etiketten, was man speicherte. Letztere waren biegsam, fast lappig; mit ihnen hatte ich kaum zu tun, sie galten damals schon als überholt. Auf diesem Apparat liefen erste Spiele, die in ihrer Simplizität noch vom Amiga meines besten Freundes übertroffen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Stunden wir damit zubrachten, mit Katzen zu kegeln oder ruckelnde Reihen von Space Invaders abzuschießen.
Zurück zum PC: Die EGA-Grafik war unbeschreiblich verpixelt. Bewegten sich Spielfiguren, dann sagen sie aus wie Michael Jacksons Moonwalk in Zeitlupe. Der Soundtrack dazu war ein unerträgliches Fiepen, Piepsen und Rauschen, arrangiert in monotonen Rhythmen. Ich erinnere mich an ein Spiel namens Blockout, das mein Vater jahrelang mit Hingabe spielte: durchsichtige Blöcke ließen sich wie bei einer dreidimensionalen Fassung von Tetris in eine virtuelle Garage bugsieren. Das erste Adventure-Spiel, bei dem ich meine spärlichen Englisch-Kenntnisse einsetzen konnte, war Leisure Suit Larry, ein unglaublich zotiges Machwerk. Im Vergleich dazu war das erste VGA-Spiel eine Offenbarung: Guybrush Threepwoods Piratenwelt in Monkey Island leuchtete 1991 in immerhin 265 Farben! Es folgten SimCity, SimEarth und einige Rollenspiele, ehe ich mit dem Studienbeginn vollkommen die Lust verlor am Computerspielen. Bis heute ist sie nicht wiedergekommen.
Das war anders bei der seriösen Nutzung des Computers. Schon Anfang der Neunziger gab es Informatikunterricht – das Quick-Basic-Programmieren sollte Fundamente für die digitale Zukunft der Bildungsrepublik legen. Ungefähr in diese Zeit fallen erste Vorwehen der Digitalisierung: Schülerzeitungen, die bisher in mühsamer Kleb- und Schneidearbeit collagiert wurden, konnte man mit simpler Software redigieren. Das erste Dokument, das auf meinem Rechner erhalten ist, tief im Dschungel der Platinen, ist ein Artikel der Schülerzeitung „Pfff!?“ von 1994.
Überall stellten Firmen und Rathäuser auf „EDV“ um – das Kürzel gehört so sehr in diese Zeit, dass die folgende Generation nichts mehr damit anfangen kann und „Elektronische Datenverarbeitung“ für einen Pleonasmus hält: Werden Daten nicht immer elektronisch verarbeitet? In einer dieser Firmen hatte ich die verantwortungsvolle Aufgabe, Datenspulen auszutauschen – beschriebene gegen frische. Die Großrechner, an denen ich diesen chaplinesken Götzendienst an der Maschine zu verrichten hatte, hießen AS400 und waren surrende Blech-Ungeheuer, die einen ganzen Saal im Untergeschoss belegten.
Es muss um 1999 gewesen sein, als ich die erste E-Mail verschickte; wenn ich mich recht erinnere, hatte ich eine T-Online-Adresse, die ich bald darauf gegen ein Yahoo-Konto eintauschte. Warum? Das kann ich heute nicht mehr sagen. Nach der Jahrtausendwende war das Internet noch eine wirre Ansammlung zusammenprogrammierter Webseiten, überwiegend ohne gefälliges Design und erst recht ohne Bilder. Textlastige HTML-Dokumente beherrschten das digitale Geschehen. Yahoos Chaträume waren damals bevölkert mit Menschen aus aller Herren Länder, aus China, Estland, den USA, je nach Tageszeit. Damit war zum ersten Mal möglich geworden, was bisher nur dem Reisenden möglich war: Kontakte zu anderen Jugendlichen weit über Ländergrenzen hinweg. Wie sie aussahen, wusste man nicht – nur den Chatnamen konnte ich sehen. Das veränderte sich. Bei Facebook (2010), WhatsApp (2015) und natürlich bei Instagram (2019) konnte von Anonymität keine Rede mehr sein.
Auch die Hochschulen wollten sich dem allgemeinen Rummel ums Digitale nicht verschließen. Nicht selten waren es junge Dozenten, die mit noch jüngeren Studierenden ihre Lehrstühle im Glanz des neuen Mediums präsentierten – kaum fünf Jahre nach der Ausbreitung des Internets. Nachdem ich der Fachschaft Germanistik gemeinsam mit anderen zu einer mehrsprachigen Vorstellung verholfen hatte, beschloss ich, auch die Unterlagen zu meinen Tutorien online anzubieten. 2004 wurde daraus „Pangloss“, benannt nach dem polyglotten Doktor Pangloss aus Voltaires „Candide“, betreut von meinem Bruder, dem IT-Ingenieur.
Man kann sich heute nur schwer vorzustellen, welche Aufstiegsmöglichkeiten sich den Pionieren der Datenverarbeitung boten. Die Welt spürte, in welche Richtung es gehen müsse – und wollte den belohnen, der sie führte. Aber schon damals zeigten sich die ersten Schattenseiten der glitzernden Digitalwelt. Als ich das Referendariat beendet hatte, erhielt ich eine anonyme Mail, die per Link auf eine „Anti-Mister-Baier“ Seite verlinkte. Siebtklässler hatten damals ihrer Frustration über schlechte Englischnoten freien Lauf gelassen. Bei dieser frühen Erfahrung blieb es jedoch. Seither haben sich die Schüler durchweg sehr anständig verhalten.
Als ich 2006 meine erste Stelle antrat, waren Lehrkräfte mit Interneterfahrung noch selten. Durchaus gab es programmierfreudige Lehrer, allerdings standen bei ihren Ausflügen ins Digitale rein technische Fragen im Vordergrund. Was Wunder! Die meisten von ihnen waren Physiker und Mathematiker, die sich weniger für bunte Bilder als für komplexe Steuerungssysteme und mathematisches Modellieren begeistern konnten. Die Sprachlehrer, vermutlich noch verbrannt vom kläglichen Absturz der Sprachlabore, waren wesentlich zurückhaltender. Als junger IT-affiner Lehrer erhielt man rasch Posten und Pöstchen, die sich aus immer neuen Initiativen der Landesregierung ergaben. So wurde ich 2008 mit dem ehrenvollen Auftrag betraut, als „Multimedia-Berater“ das bunte neue Methodenfüllhorn auszuschütten über einem widerstrebenden Kollegium; Methoden zu „multiplizieren“, wie es damals hieß. Mit wechselndem Erfolg!
In diese Zeit fällt auch der erste Einsatz digitaler Medien im Unterricht. Natürlich hatte ich schon vorher profitiert von den schier unbegrenzten Möglichkeiten der Digitalität. Von Anfang an hatte ich Arbeitsblätter selbst gestaltet; Eltern und Schüler verschickten auch damals schon E-Mails, in den oft wenig genutzten Computerräumen konnten die Schüler im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums einfache Webquests durchführen oder Dialoge animieren. Das Neueste waren damals kollaborative Lern- und Arbeitsplattformen, die ich von der Uni her kannte. Ein junger Lehrbeauftragter, Wolfgang Holtkamp, hatte sie an der Universität Stuttgart erprobt – leider waren die Seminare oft mit hohen Zugangshürden versehen. Seinerzeit arbeitete man mit Lo-Net, dem am weitesten verbreiteten Netzwerk dieser Art. Meine Achtklässler tauschten sich mit Schülern der Evangelischen Oberschule in Kairo aus und erstellten Webseiten zu interkulturellen Themen. Es ist vor allem meiner damaligen Kollegin in Kairo zu verdanken, dass wir mit den untin-Preis für besonders innovativen Unterricht ausgezeichnet wurden. Ich hatte dabei das unbestimmte Gefühl, es handle sich bestenfalls um eine charmante Form von Hochstapelei.
Wenn ich nun zurückblicke, hat sich seither im Grunde gar nicht so viel getan. Selbstverständlich ist die Welt weiterhin im Wandel: Wieder und wieder bewegt sich die Schule in kleinen Schritten oder größeren Sprüngen nach vorne; oft sind es Junge, Schüler und Lehrer, die neue Technologien begeistert aufgreifen. Wir tauchen ein in die Augmented Reality unserer Brave New World, die wir versonnen betrachten durch die VR-Brille unseres Medienverstands. Selbst die Sprachpolizei hat ihren anfänglichen Widerstand gegen das digitale Denglisch längst aufgegeben: Wir verwenden heute nur noch Apps, nicht mehr Programme.
Unterdessen springen unsere Schüler mit immer besseren Handys von einer Plattform zur nächsten, von Snapchat zu TikTok und zurück – längst können und wollen wir ihnen nicht mehr folgen. Das jurassische Schiefer der Kreidezeit ist ersetzt durch Whiteboards, auf der uns Verlage weitgehend das didaktische Selberdenken abnehmen. Mit Unterrichtsmanagern lassen sich binnen Minuten mühelos Lektionen planen, für deren Konzeption man früher wenigstens eine Stunde brauchte. Aber die Pionierstimmung der ersten Jahre ist verflogen. Die Wildwest-Romantik digitaler Lagerfeuer ist längst einer medialen Saturiertheit gewichen, die uns auch die Soft Spots der Software und manche Härten der Hardware vorführt.
Auch heute noch gibt es Pädagogen, die zumindest meinen, ihrer Zeit um Lichtjahre voraus zu sein, wenn sie jeder digitalen Mode nachjagen. Mancher von ihnen hält Datenschützer für Spielverderber und monetarisiert munter vom Staat bezahlte Fortbildungen. Der Dienstherr hält schützend seine Hand über sie, weil er meint, die so entstehende Digitalkompetenz färbe automatisch auf die Schüler ab. Ihre Utopie einer gelingenden Schule ist bevölkert von vollautomatisierten Schülern, die souverän mit Werbung umgehen, bei Fake News nur noch müde abwinken und ihren Medienkonsum im Griff haben. Skeptiker werden mit Vehemenz bekämpft: Manfred Spitzer gibt mit seiner Truppe ein gutes Zerrbild für den durchschnittlichen Medienkritiker ab.
Ja, es stimmt: Digitalia haben das Lehrerleben vereinfacht und das Lernen versüßt. Unsere Schüler schlucken sehr gerne das süße Gift. Aber Fortschritt gibt nicht umsonst. Wir zahlen einen Preis dafür, wenn wir Ready-Made-Unterricht planen, unsere Schüler mit Tablets ruhigstellen und Pädagogik durch Standardisierung ersetzen. Es muss klar sein: Zu Griffel, Buch und Heft will keiner zurück. Aber je mehr Raum das Digitale einnimmt im Alltag unserer Schüler, desto mehr müssen wir die Schule öffnen für menschliche Begegnung und sinnliche Erfahrung. Möglicherweise kann die Digitalisierung auf Umwegen dazu führen, dass die Schule zu einer Lernstätte wird, an der man experimentiert und erkundet. Weg vom Papier, hin zur Welt. Dazu braucht es weder programmierten Unterricht noch Gamification, sondern mehr Offenheit fürs Leben, mehr Verständnis für biologische und soziale Grundlagen des Lernens. Wir müssen keine präfabrizierte Matrix der Welt ins Klassenzimmer beamen, sondern das Klassenzimmer mit dem Draußen verbinden. Das ist nur möglich, wenn wir unsere Lernfabriken schließen und Lernwerkstätten eröffnen, an denen Forschen nicht nur gefordert wird, sondern auch möglich ist.
Wir dürfen die Sphäre des Digitalen nicht ausblenden und wegschieben. Wir brauchen neue Möglichkeiten für eine Welt, die sich ständig verändert. Wir brauchen ein hohes Maß an didaktischer und pädagogischer Expertise, an Lernbereitschaft, die gelegentliches Scheitern miteinschließt. Das sind wir uns und den Schülern schuldig. Aber ebenso schulden wir ihnen, dass wir sie nicht ausliefern an die Industrie, dass wir ihre Daten schützen und ihre Gesundheit. Wenn wir das nicht vergessen, ist punktuelles Unvermögen verzeihlich. Zweifellos: Das Internet darf uns kein Neuland sein. Aber es fällt uns kein Zacken aus der Krone, wenn uns Schüler gelegentlich helfen. Keiner nimmt uns übel, dass die Bluetooth-Box nicht funktioniert, wenn wir die Kunst des Staunens lehren und den Weg zu den Wundern der Welt wissen.