Oh, Mathe!
Wenn ich meinem Mathematikkollegen mein Missvergnügen über sein Fach mitteilen will, schreibe ich einen Essay. Was tut der Mathematiker, um sein Unbehagen an Deutsch auszudrücken?
Ich bin kein Pythagoräer, aber ich empfinde tiefe, echte Bewunderung für die Schönheit der Mathematik, wo immer sie aus der Natur hervorleuchtet. Die Symmetrie der Seesterne, die Rhythmen der Wellen, die kaum berechenbare Dynamik der Stürme, der Wellen. Ich bewundere die Gesetze des Zufalls und den Zauber der Mengen, unser Code für die geheime Sprache des Kosmos. Als Außenstehender ergreift mich ein heiliger Schauer, sehe ich die Magie der Zahlen am Werk.
Auch die Wichtigkeit der Mathematik bestreite ich nicht. Über keine Brücke wollte ich fahren, die ich selbst gebaut hätte, keinen Roboter zum Mars entsenden, den Materialverschleiß einer Fabrik reduzieren. Dass ich mich darauf beschränken darf, gelegentlich Durchschnitte zu errechnen, das ändert nichts daran, dass andere Algebra und Stochastik, Geometrie und Mengenlehre dringend brauchen.
Das plötzlich aufglänzende Glück der Mathematiker dagegen kann ich nur verstehen, nicht nachempfinden. Mich erinnert das Heureka plötzlicher Lösungen an Rubix-Würfel und Sudoku. Komplexen Zahlen sind mir zu komplex, irrationale Zahlen nicht irrational genug. Ob ich zu faul war oder zu dumm, als Schüler war mir die Mathematik fremd. So ist es geblieben, obgleich ich immer wieder versucht habe Einlass zu finden ins Wunderland der Mathematik. Mickaël Launays „Grand roman des maths“, Enzensbergers, „Zahlenteufel“ – vergeblich!
Dies zu gestehen ist peinlich und erfordert heute einen gewissen Mut. Wer zugibt, Mathematik nicht zu können, nicht zu mögen, kokettiert aus Sicht der Algebra-Apologeten bereits mit seinem Nichtkönnen. Wer es als Lehrer tut, verdirbt die Schüler und gefährdet die heilige Mission zur Rettung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Meine Kollegen, die Mathematiker, sind meistenteils vernünftige Leute. Ihnen ist am allerwenigsten anzulasten, was schiefläuft mit der Mathematik.
Stundenpläne, Budgets und Kalkulationen: Als Sprachlehrer trete ich mit wohligem Erschauern zurück, wenn Mathematiker mit fast religiöser Hingabe komplizierte Systeme durchschauen und vereinfachen, wenn aus dem betäubenden Brummen der Interessen ein schlankes Gefüge von Formeln und Funktionen wird. Wenn zur Geistesschärfe noch eine gewisse Leutseligkeit tritt und Offenheit für die Exotik anderer Fächer: Bessere Schulleiter findest du nicht!
Meine eigenen Mathelehrer habe ich im besten Fall als freundliche Mitstreiter gegen die Dämonie der Zahl erlebt, als hilfreiche Wegbegleiter ins Rechenland. Die meisten waren gute Problemlöser, keiner ein rasender Rasputin der Logarithmen. Ganz im Gegensatz zum Bild des archimedisch Abwesenden mit Einsteinfrisur waren die meisten frei von Attitüde und Allüre, gleichermaßen zu Hause auf Bierbank und hinter dem Katheder. Aber keiner war so ergriffen von seinem Stoff, dass er auch mich ergriffen hätte, jeder so fixiert auf das mathematische Wie, dass mein Warum ins Leere lief. Vielleicht macht der Tunnelblick auf dem Weg zur alleinseligmachenden Zahl blind für die Irrgänge ins Unterholz der Philosophie.
Ablenkung lauert überall, wo der Lösungsweg Kurven schlägt. Am verruchtesten sind Textaufgaben. Sie locken mit dem Augenaufschlag der Sphinx, kokettieren mit der Verheißung des Worts: Geh hin, wohin du willst, folge der Formulierung, deute mich! Die Textaufgabe ist ein Blaubartschloss mit tausend Kammern, deren Eröffnung unweigerlich ins Aus führt. Auch hier soll man nicht stöbern, nur suchen, aus dem Gesuchten das Gegebene machen.
Eine Geothermieanlage fördert durch einen Bohrkanal heißes Wasser aus einer wasserführenden Gesteinsschicht an die Erdoberfläche. Herrlich! Wo liegt die Anlage? In de Glut der Sahara, an Islands Küste? Wer hat sie gebaut? Wie zischt das Wasser, wenn es ausbricht? Vor meinem inneren Auge ersteht ein Bild des wuchtigen Gebäudes in schiefergrauer Einsamkeit, hingeklotzt an blubbernden Schlamm. Und dann: In einem Modell entspricht die x1-x2-Ebene eines kartesischen Koordinatensystems der horizontal verlaufenden Erdoberfläche.Berechnen Sie auf der Grundlage des Modells die Gesamtlänge des Bohrkanals auf Meter gerundet! Kein Zweifel, es ist wichtig, die Tiefe des Bohrlochs zu kennen – was ich damit sagen will: Es sollte nicht die einzige Überlegung sein, die man hier anstellt. Mindestens zu schön ist der Gedanke, dass bald ein artesischer Brunnen ins kartesische Koordinatensystem sprudelt.
Dass Schüler für Mathematik den höchsten Aufwand treiben, mag ja noch angehen. Mathe darf ja ein schwieriges Fach sein. Dass Schüler aber zwei Wochen vor der Matheklausur das Vokabellernen einstellen, ist ärgerlich. Dass in der Woche des Klausurtermins die Schüler im Deutschunterricht abtauchen, ist noch ärgerlicher. Es ist empörend, dass die Nachhilfequote für Mathe ein Fünftel der Schüler erfasst. Skandalös ist, dass Schüler bezahlte Abiturkurse belegen, um sich für das Mathe-Abi zu wappnen. Das Schlimmste aber ist, dass man den Absolventen unserer Gymnasien an den Hochschulen vor Augen führt, dass sie nun wirklich gar nichts können.
Viele alte Mathematiklehrer erinnern sich mit Grauen an heimtückische Dolchstöße in den karierten Rücken von Lambacher-Schweizer. Vielleicht gefährdet der verbreitete und von manchen Philologen geschürte Hass auf Mathe unseren Wohlstand – mag sein. Aber die Zeiten sind vorbei, in denen sich unbedarfte Populisten auf Mitternachtsformel und Kurvendiskussion einschossen. Schwache und sogar lustlose Mathematiker werden behutsam unterstützt. An einigen Schulen gönnt man willigen Mathematikern sogar tiefere Mathematik, oder höhere, je nachdem.
Lange habe ich vermutet, der Intelligenzquotient sei eine Erfindung der Mathematiker, getrieben vom Ehrgeiz, Deep Blue zum Staatspräsidenten der USA zu ernennen. Logik und Leistung! Aber weder Binet, noch Stern oder Terman waren Mathematiker. Warum bewundern wir den schnellen Denker mehr als den breiten, den linearen mehr als den verzweigten? Beachtlich ist Defoes späte Blüte, der mit 59 den „Robinson“ veröffentlichte – dem kühnen Rechenspaß des jungen Gauß applaudieren wir!
Aber: Die Zahl bedarf der großen Geste, des Bildes, des Worts! Zahlen lassen sich gerne ignorieren, die Geltung der Modelle in Frage stellen. Die schüchterne Evidenz der Zahlen muss wirken, auf alle: Klimadiagramme, Aktienkurse, Ansteckungskurven – wir müssen die Zahlen reinigen von filzigen Interessen, verborgene Wahrheit öffentlich machen, durchsetzen, blutrot und grell auf die Blätter der Welt werfen. Dann erst werden die Zahlen zu eisernen Waffen der Wahrheit. Dann lohnt es sich, Mathematik zu treiben.