Martin Kirstein: Künstler und Autor
Martin Kirstein
Martin Kirstein kommt am 2.6.1939 in Hamburg zur Welt. Der Vater, in Russland geboren, war Seemann, die Mutter stammte aus einer Moorbauernfamilie unweit von Papenburg. Seine Kindheit verbringt Kirstein in Lurup an der Grenze zu Schleswig-Holstein, das heute ein Stadtteil Altonas ist. Zunächst träumt er von einem Leben auf hoher See, fällt seinen Volksschullehrern jedoch bald auf – der Knabe ist zeichnerisch begabt. In der Werkkunstschule am Lerchenfeld absolviert er eine Steinmetz- und Bildhauerlehre, die er als letzter Meisterschüler des Hamburger Bildhauers Richard Kuöhl abschließt. Kirstein arbeitet zunächst bei Hammond-Norden, dessen Steinmetzbetrieb Ulmer 1955 übernimmt. Von 1964 bis 1970 ist er Assistent des Bildhauers Kurt Schwerdtfeger an der Pädagogischen Hochschule Alfeld in Hildesheim. Dort befasst er sich eingehend mit Schriftgestaltung, was sein späteres Werk entscheidend prägt. In Aschaffenburg, Kirsteins nächster Station, besucht er die Meisterschule für Bildhauer und Steinmetze. Im Austausch mit dem Schriftkünstler Ernst Vollmer entwickelt er sein Interesse an der Verbindung von Schrift und Bildhauerei weiter. Seit 1970 lebt Kirstein in Winnenden, wo er sich im Gemeinderat und als Künstler engagiert. Das bekannte Atelier im Steinbruch am Gießübel oberhalb Höfens wird zum Ausgangspunkt eines vielfältigen Schaffens, gleichermaßen für private und öffentliche Auftraggeber.
Bezug zu Winnenden
Martin Kirstein hat als Künstler das Winnender Stadtbild geprägt wie kein anderer: Seine Skulpturen und Plastiken stehen am Marktbrunnen, am Viehmarktplatz (Stele der Haus- und Hoftiere) und im Schlosspark. Auch das Bronzeportal der Aussegnungshalle und die Große steinerne Blüte auf dem Waldfriedhof Winnenden stammen von Martin Kirstein. Häufen nehmen Kirsteins Arbeiten Bezug zur Stadtgeschichte und halten die Erinnerung an deren historische Bedeutung fest. Für viele Winnender sind sie wichtige Symbole des öffentlichen Raums und Teil ihres Stadtgedächtnisses. Mit der historiographischen Erzählung Epitaph für einen Mops, in der Kirstein die Geschichte des Winnender Mopses behandelt, wird er 2017 in Winnenden auch als Autor bekannt. Auf Kirstein geht auch der Bericht von der Rettung des Mopsdenkmals zurück. Im Gespräch mit der Witwe Dr. Meinhoffs, eines Arztes am Psychiatrischen Landeskrankenhaus (heute: ZfP), habe der Autor erfahren, dass Meinhoff das Mops-Epitaph vor dem Abbruch gerettet habe. 500 D-Mark soll er dem Baggerführer geboten haben (Kirstein 2017, S. 10).
Epitaph für einen Mops
Kirsteins „Epitaph für einen Mops“ ist als Panoptikum der europäischen Geschichte angelegt. Die Handlung beginnt mit der Belagerung Ofens im Jahr 1684 und endet mit der Hinrichtung des Joseph Oppenheimer in Stuttgart. Die Idee zum Werk kommt Kirstein in den Siebzigern, das Schloss wird gerade renoviert: Sie verbindet sich mit der Überlegung, bei einer Dachstuhlbegehung könnte das Manuskript gefunden werden, das die Geschichte des Mopsdenkmals aufklärt (Kirstein 2017, S. 10). Für das Zeitgeschehen greift Kirstein auf einen breiten Fundus „historischer Detailstudien“ zurück (Ebd.). Stilistisch folgt Kirstein dem Grundsatz, „einen Schreibstil zu pflegen, der den alten Stilelementen noch nahe kommt“ (Ebd.). Der Ich-Erzähler Duncen ist fiktiv, für die Rückkehr des Mopses gibt es keine belastbaren Quellen: In die Leerstellen schreibt Kirstein seine „historiographische Erzählung“ als „Mythos“ ein. Friedrich Bütow, der Verfasser des Vorworts, greift Kirsteins Rede vom Mythos auf; wichtig erscheint an dieser Stelle der Hinweis, dass Mythen auch der Erklärung von geschichtlichen Rätseln und der Begründung von Riten dienen – Kirsteins Erzählung könnte als Mythos gesehen werden, der Winnendens Umgang mit dem Mopsdenkmal legitimiert. Ein Leitmotiv von Bütows Besprechung ist die barocke Fülle von Kirsteins Erzählen: Die „Fülle geradezu filmischer Szenen“ (Ebd. S. 12) sieht er in der Tradition Grimmelshausens, an dessen Verweisreichtum Kirsteins Erzählung durchaus erinnert. Bütow bezeichnet Kirsteins „reizvolle ironische Erzählung“ (Ebd.) als Möglichkeit zum interkulturellen und interreligiösen Vergleich.
Die Erzählung, die mit dem „Prolog“ des Ich-Erzähler Duncen einsetzt, beginnt mit einem Traum: Duncen, „Beutetürke“ und Verfasser des Gedichts auf dem Mops-Epitaph, begegnet dem vor drei Monaten verstorbenen Hofmops, der ihm den Auftrag erteilt, sein Schicksal zu erzählen. Das erste Buch beginnt mit einer Einordnung der Handlung durch den auktorialen Erzähler, der Duncen das Wort erteilt. Die erzählte Welt erscheint als Labyrinth – dort „soll man sich nicht verlieren, sondern zum Ziel finden“ (S. 17). Duncen gibt Aufschluss über Schauplatz und den historischen Rahmen des Spanischen Erbfolgekriegs und schildert seine Ernennung zum Leutnant. Das folgende Kapitel spielt in Großheppach und führt weitere Hauptfiguren ein: Bastian, mit dem sich Duncen anfreundet, aber auch Prinz Carl Alexander. Bei der Weiterreise nach Winnenden wird er der Folgen der Brandschatzung von 1693 gewahr: „Winnenden wurde 1693 bis auf die Grundmauern niedergebrannt und das Schloss schwer beschädigt“ (S. 25). Beim Durchreiten Winnendens begegnet Duncen dem Sohn des bekannten Winnender Baumeisters Johann Adam Groß. Das folgende Kapitel spielt erneut im Großheppacher Gasthof „Lamm“: Prinz Eugen berichtet aus seinem Leben. Damit beginnt der dritte Teil, der das Heer nach Flandern führt und in dem Bastian umkommt. Duncen fällt die Aufgabe zu, der Familie auf Gut Stutenhof die traurige Botschaft zu überbringen. Dann schifft sich Duncen im Gefolge Prinz Eugens nach England ein, wo ihn der entmachtete Duke of Marlborough empfängt. Der sechste Teil schildert Duncen in geheimer Mission bei der Belagerung von Landau durch die Franzosen, bei der auch Karl Alexander in Kriegsgefangenschaft gerät. Als beurlaubter Kriegsgefangener stößt er in Rastatt erneut zu Prinz Eugen; auch Duncen ist zugegen. Mit der Geburt Balthasars, der den Namen Fortunatus trägt, beginnt das zweite Buch. Der Wurf, aus dem Fortunatus stammt, entspringt der Verbindung von Sir John, des Schoßhunds Lady Churchills, mit Jolanthe, dem Mops der Baronin. Beim Treffen der Heerführer in Rastatt erhält Karl Alexander ein Geschenk, das ihn besonders rührt: den jungen Mops. Duncen kehrt mit Fortunatus nach Winnenden zurück. Im Gespräch mit dem gelehrten Stadtpfarrer Hauber enthüllt er seine Jugenderlebnisse im Osmanischen Reich und am Hof Mustafa Köprilis. Bei Spaziergängen in die Stadt kommt er mit den Baumeistern Johann Michael und Johann Adam Groß ins Gespräch. Während sich am Horizont ein Krieg mit den Osmanen zusammenbraut, erleben Duncen und Fortunatus ruhige Tage in Winnenden, gestört lediglich von den Vorbereitungen auf eine herbstliche Parforce-Jagd und dem Ärger über die Mätresse des Herzogs, die Grävenitz. Zu Weihnachten wird Duncen auf Gut Stutenhof eingeladen: Mit dem Segen der Eltern werden Duncen und Charlotte, Bastians Witwe, ein Paar. Da erreicht Duncen der Ruf Karl Alexanders: Er soll über Wien als Spion ins osmanische Ungarn entsandt werden. Über Ulm gelangt Duncen nach Wien, wo ihn trotz anfänglicher Vorbehalte der Jude Simon beherbergt. Beim Besuch des Stadtpalais des Prinzen Eugen kommt ihm der Gedanke, die Fassadengliederung der Baumeisterfamilie Groß in Winnenden zu vermitteln. Als jüdischer Händler und unter dem Decknamen Joseph macht sich Duncen auf nach Ungarn. Dort, im Banat, verwandelt er sich in einen osmanischen Händler aus den Ostprovinzen. Im Hamam von Temesvar unterhält er sich mit einem osmanischen Kavalleristen, ehe ein Derwisch eine Vorausdeutung zur Handlung macht: In Temesvar werde Duncen „seinen Freund und Bruder“ wiedersehen. Nach dem Abschluss seines Spionagegangs kehrt Duncen nach Szegedin zurück, wo er auf Prinz Eugen den den Hofmops Fortunatus trifft. In der folgenden Schlacht an der Donau, die Duncen in einer Mauerschau beschreibt, unterliegt der osmanische Großwesir Damat Ali den Truppen Eugens und des Reichs unter Karl Alexander. Daraufhin räumen die Osmanen das Banat und Ungarn fällt an Österreich. Duncen verbringt den Winter mit Karl Alexander in Wien, wo Prinz Eugen den Marsch auf Belgrad plant. Im darauffolgenden Frühling stößt Duncen zu den Belagerungstruppen und beobachtet die Schanzarbeiten vor Belgrad. Bei der Kanonade trifft ein kaiserlicher Mörser den Pulverturm von Belgrad, die Druckwelle erfasst Duncens Zelt – und Fortunatus verschwindet. Beim folgenden Überraschungsangriff auf die Truppen des Großwesirs wird Duncen verwundet und träumt „Josephs Todestraum“. Darin holt ihn die Vorausdeutung des Derwischs ein: Sein Ziehbruder, ein osmanischer Prinz, fällt im Handgemenge. Duncen dagegen kann von den kaiserlichen Ärzten gerettet werden. Als er genesen ist, wird er von Karl Alexander beauftragt, Fortunatus nach Winnental zurückzubringen. Über Ulm reist er mit seinem Leibdiener István zurück nach Winnenden, wo er mit Wärme empfangen wird. Insbesondere der Gärtner Gottlob, der im Schlössle zu Höfen wohnt, nimmt sich seiner an. Bald darauf reist er ins Rheingau ab, um Charlotte zu heiraten. Auf Schloss Stutenhof verbringt er ruhige Wochen und berichtet aus seiner Kindheit, ehe ihn Karl Alexander erneut zu sich ruft. Auf dem Weg nach Wien ist er der zu Unrecht im Diebsturm eingekerkerten Dienstmagd Alwine behilflich, die der Winnender Pfarrer Hauber der Unzucht bezichtigt. Über Wien und Semlin reist Duncen 1718 nach Belgrad, wo er seinen Dienstherrn wiedertrifft und zur Friedenskonferenz von Passarowitz begleitet. Bei dieser Gelegenheit tauschen sich Karl Alexander und der Großwesir über das Schicksal des Mopses aus. In Wien kommt er nach einer Begegnung mit Graf Gundacker von Althann einen Komplott gegen Prinz Eugen auf die Schliche, der „Verschwörung Nimptsch-Tedeschi“. Nachdem diese Intrige abgewehrt wird, bestallt der Kaiser Karl Alexander mit dem Generalgouvernat über Serbien. Auf einem Feldzug zur osmanischen Grenze wird Duncen von der Roma-Prinzessin Marija verführt und trifft auf die ehemalige Odaliske Mira und den Haiduckem-Hauptmann Alexis, den Fortunatus seltsamerweise wiedererkennt. Mira klärt die Geschichte des Mopses auf: Bei der Belagerung Belgrads war er Chalil Pascha zugelaufen, wo mit der Mopsdame Joanna zusammenkommt. Beim Angriff der Habsburgerstreitmacht entschwindet Fortunatus schließlich in den Wald, wo er wiederum auf Marija und ihre Roma trifft. Auf Marijas Versprechen hin, ihn zu heiraten, bringt der Haiduck Alexis Fortunatus ihn schließlich zurück nach Winnenden. Die Erzählung endet mit einem Epilog Duncens in Winnenden, datiert auf das Jahr 1738, der das weitere Schicksal Karl Alexanders andeutet und die Hinrichtung Joseph Süß Oppenheimers streift.
Bibliographie
- Kirstein, Martin: Epitaph für einen Mops. Der Mythos des „Mops von Winnenden“. Eine historiographische Erzählung. Mainhardt: Arte Liberalis, 2017 [Limitierte Erstausgabe anlässlich 300 Jahre „Winnender Mops“ 1717-2017).
- Bütow, Friedhelm: Vorwort. In: Kirstein 2017, S. 11
- Schwarz, Thomas: Der Winnender Künstler Martin Kirstein wird 80. Bildhauer lädt in seinen Steinbruch ein. In: Stuttgarter Nachrichten, 1.6.2019