Märchen

Speisen und Verzehr im Märchen

Die Speisen der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen nach der Großen Ausgabe des Jahres 1857 unterscheidet sich merklich von denen der vierzig Jahre zuvor erschienen Ausgabe der Deutschen Volksmärchen durch Johann Karl August Musäus - und wie sollte es auch anders sein! Jacob und Wilhelm Grimm hatten sich, auch im Gegensatz zu Clemens Brentano, auf eine möglichst echt wirkende Volkstümlichkeit bemüht, die auch Dialektfassungen einschloss. Die Forschung hat längst erwiesen, dass auch die beiden hessischen Märchensammler alles andere als unveränderte Zeugnisse nach des Volkes Mund angefertigt haben. Zwischen Musäus und den Grimms liegen aber nicht nur vierzig Jahre, sondern auch der Aufbruch in eine neue Zeit des Zeitungs- und Büchermachens, die den Dichternamen seiner Belanglosigkeit entreisst. Die Grimms wussten um Bedeutung des Namens, einer Marke im Kampf um Anteile in der Gunst der Leserschaft, und erst der sich entwickelnde literarische Markt brachte den namenlosen Volksgeist hervor, der als Urheber der Volksmärchen erscheint. Musäus hingegen schreibt seine Märchen noch ganz im Geist einer Zeit, die in den Überlieferungen rohes Edelgestein sieht, das erst geschliffen und gefasst seinen Glanz entfaltten kann. Selbst Wieland äußert gelegentlich Bedenken, ob die Kunstgriffe seines Freundes nicht da und dort etwas zu gewagt seien. Wenn es diese ungeheuren Unterschiede im Stil nicht gäbe, allein an der Wahl und Aufführung der Speisen ließe sich der literarische Zopfstil eines Musäus von der zurechtgerückten Volkstümlichkeit unterscheiden. Bei den Grimms ist das Essen denkbar simpel: Muse gibt es und Brei, die gelegentliche Bratwurst durchbricht die Eintönigkeit einer im Wesentlichen aus Geflügel, nicht weiter unterschiedem Gemüse und Brot besteht. Das höfische Essen unterscheidet sich nur wenig vom Essen der Bürgerlichen, und nur das Essen der Armen ist eigens ausgewiesen. Anders Musäus: selbst das "frugale" Kartoffelgericht wird kunstvoll erzählt: "Ermüdet setzte er sich unter einen hohen Eichenbaum, nahm einige gesottne Kartoffeln und ein wenig Salz aus der Manteltasche, um hier sein Mittagsmahl zu halten." Bei den Grimms "hält" niemand "Mittagsmahl"; es wird gegessen; bei Musäus hat man "Appetit", bei den Grimms Hunger. Diese Vergleiche ließen sich endlos fortspinnen. Der Vergleich jedoch hinkt. Musäus greift wohl Stoffe auf, die als Volksmärchen im Umlauf gewesen sein mögen, den Rübezahl-Kreis oder die Libussa-Sage, aber er bearbeitet sie sorgfältig, dass die eigene Erfindung das Erzählgerüst zudeckt. Die Kinder- und Hausmärchen der Grimms sind in ihrer Schlichtheit weit eher als das Werk Musäus' Volksmärchen. Die Erzählmuster der Mündlichkeit aufgreift, die den Erzählgang auf das Wichtige beschränkt und die sich äußert in der bemühten Einfalt des Satzbaus: all das lässt, auch wenn sie bereinigt und geglättet sind, auch wenn sie aus Schriftquellen schöpfen, die Kinder- und Hausmärchen als das erste Muster deutscher Volksmärchen erscheinen. Wissenschaftler haben das Volksmärchen erfunden, das erst über den Umweg der Wissenschaft wird es volkstümlich. Musäus hebt das Volksmärchen in den Stand der Literatur: die Grimms und ihre Zeitgenossen heben die Grenze zwischen Volkskunst und Hochkunst auf. Die Grimms haben zumindest für den deutschsprachigen Raum als Erfinder des Märchentons stilbildend gewirkt. Bei Musäus hingegen ist das Bemühen spürbar, auch der Märchenwelt einen Grundton des Wahrscheinlichen beizubringen. Verzauberte Tiere, die sich bei den Grimms in ihren Handlungsweisen kaum von Menschen unterscheiden, verhalten sich bei Musäus durchweg wie Tiere, sieht man von ihrer Sprachfähigkeit ab. Auch Ursprung und Wesen der Nahrung unterliegt einem Zug ins Wahrscheinliche, ebenso der Umgang mit Nahrung. Unwahrscheinlich scheint es Musäus, dass sich die Grafentochter Wulfhild in der Höhle ihres zum Bären verwandelten Ehemanns von Eicheln ernährt, und noch viel untragbarer scheint ihm aus Gründen der Wohlangemessenheit, des Dekorums, dass ihr Ehemann von seiner Beute mitteilt. Es muss also eine Lösung gefunden werden, die bildlich befriedigt, dem Anspruch geregelter Wunderhaftigkeit entspricht und dennoch wahrscheinlich ist: wie also lebt und überlebt eine Prinzessin im Bau eines wilden Tiers? Musäus verfällt auf Vorratshaltung:

Um nicht wieder in den Fall zu kommen, in der Waldhöhle zu darben, legte sie jederzeit, wenn sie zur Tafel ging, ein paar weite Poschen an, diese belastete mit Konfekt, süßen Orangen und andern köstlichen Obst. Auch den gewöhnlichen Nachttrunk ihres Herrn, der ins Schlafgemach gestellt wurde, verbarg sie sorgfältig in ihrer Bettlade, und so war ihre Küche und Keller immer für die Zeit der Metamorphose zureichend bestellt.

Die folgende Untersuchung wird auf zweierlei Erkenntnisbereiche zielen, für die sich das Märchen, zunächst ungeschieden in volkstümliche und künstlerische, aufgrund seiner Kürze bestechend eignet. Speisen, ihr Verzehr und seine Folgen, Mahlzeiten und Zubereitungen haben Wirkungen auf eine Erzählung, die sie mit anderen Gegenständen der literarischen Darstellung teilen. Sie geben Erzählungen eine klare Form, stehen an geeigneter Stelle im Erzählgang, weisen voraus, hellen wichtige Voraussetzungen auf, spiegeln Vorgänge der erzählten Welt, bewerten Figuren und Ereignisse. Zum andern aber ist die Wahl einer literarischen Gattung wichtig für die Wahl der Speisen, für den Umfang und die Art ihrer Darstellung. Wenn ein Volksmärchen im Ton der Brüder Grimm und ein Kunstmärchen im Wortlaut eines Musäus zusammenstoßen, dann ergibt sich aus der Wahl der Speisen, aus ihrer Bedeutung im Erzählgefüge und die Art ihrer Darstellung mancher Unterschied. Diese Unterschiede machen deutlich, inwiefern Gattungen als Schreibmuster einzelne Erzählungen mitgestalten.

Die Mahlzeit als Erzählstufe: Vorstufe zum Geschlechtsakt. Sie ging und öffnete die Türe, da hüpfte der Frosch herein, ihr immer auf dem Fuße nach, bis zu ihrem Stuhl. Da saß er und sagte : "Heb mich auf zu dir." Sie zauderte, bis es enedlich der König befahl. Als der Frosch erst auf dem Stuhl war, wollte er auf den Tisch, und als er da saß, sprach er: "Nun schieb mir dein goldenes Tellerlein näher, damit wir zusammen essen." Das tat sie zwar, aber man sah wohl, daß sie's nicht gerne tat. Der Frosch ließ sich's gut schmecken, aber ihr blieb fast jedes Bißlein im Halse. (Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich, KHM 1, S. 7).

So, wie aufgebrochene Briefe oder zufällig gefundene Siegelringe neue Kenntnisse in die Erzählung tragen, so verringern oder erhöhen Mahlzeiten und Essende bestehende Wissensunterschiede. Gewöhnlich haben Wein und andere geistigen Getränke die Wirkung, dass Figuren andere Figuren und die Leser (oder Hörer) über eigene Vorhaben oder die Ränke Dritter unterrichten. In Musäus' Stummer Liebe (VM: IV, Stumme Liebe: I, 515) ist genug getan mit einem "wohlgezuckerten Reisbrei und einem Quartiergen spanischen Sekt": die Zunge der alten Flachströdlerin ist gelöstet, die Handlung kann sich weiter zuspitzen.

Mahlzeiten begleiten einen Bundesschluss an oder sind Auslöser eines Pakts. Aus dem alten Testament ist die Geschichte Esaus wohlbekannt, der sein Erstgeborenenrecht an Jakob verschachert, um ein Linsengericht zu erlangen. Im Volksmärchen ist das Anstoßen nach einem Handel zugleich ein Wink an den Leser, das nun eine neue Erzählstufe erreicht ist. Gemeinsam genossene Mahlzeiten - besonders: gemeinsam genossene Tränke - können einen sinnlich gedachten Liebes- oder Ehebund einleiten. Eine für das Volksmärchen recht ausladende und zarte Rokokoszene zeichnet Musäus, wenn er das Verlöbnis einer verarmten Grafentochter mit dem Wasserritter andeutet:

Die schöne Bertha eilte auf Geheiß der Mutter zum Brunnen, füllte einen Henkelkrug und kredenzte dem Ritter eine kristallene Schale, er empfing solche aus ihrer niedlichen Hand, setzte sie da an den Mund, wo ihre Purpurlippen die Schale berührt hatten, und tat ihr mit innigem Entzücken Bescheid.

Das Liebesmahl als Anzeige eines geschlossenen Liebesbundes gehört ebenfalls hierher. Seine Zusammensetzung unterscheidet sich von Mal zu Mal, eines aber ist vielen Beschreibungen gemein: es ist eher karg als üppig, eher salzig oder süß als bitter oder sauer, roh eher denn gekocht. So beschreibt Musäus Salz und Brot in den Legenden von Rübezahl als "Panazee der Liebenden" (VM, Legenden von Rübezahl, Zwote Legende: 214). Die "reichhaltige Materie von Salz und Brot" bespricht auch der Erzähler der Stummen Liebe (VM, IV: Stumme Liebe, I: 526): Mutter und Tochter widersprechen einander zu Sinn und Zweck einer Ehe. Die Mutter mahnt: "'Ach Tochter, die Liebe hat gar eine dürftige Küche, und nährt nur kümmerlich bei Salz und Brot'". Die Tochter entgegnet: "'Aber doch wohnt Eintracht und Zufriedenheit gern bei ihr, und würzet Salz und Brot mit fröhlichem Genuß des Lebens.'" Verwandtschaftliche Zusammengehörigkeit jeder Art kann durch Speise- oder Trankspende angedeutet werden. Als zusammengehörig erweisen sich die entführte Grafentochter Wulfhild bei Musäus (Chronika der drei Schwestern, II: 42) und ihr Bruder Reinhald, wenn sie ihrem Verwandten Sekt und Zwieback reicht - zugleich künden diese ganz und gar nicht bärenhafte Genussmittel die bevorstehende Verwandlung der Raubtierhöhle in ein Schloss an. Verwandtschaft kann sich auch in Ess- und Tafelgewohnheiten andeuten, etwa in der Form, in der Musäus die Veranlagung zur Verschwendung bei Vater und Sohn Melcherson in Stumme Liebe auszeichnet: der Vater stirbt "auf einen jähen Trunk bei einem Quabbenschmause", der Sohn vergisst im "fortwährenden Taumel von Schwelgerei" die Bilanzrechnung und vearmt.

Mahlzeiten, die auf die gegenwärtigen Verhältnisse einer Figur andeuten. Zum ständigen Repertoire des Märchens gehört das Absinken ins Unglück und der Aufstieg ins Glück. Märchenfiguren treibt es hinaus in den Wald, sie werden verstoßen oder entführt: ihre Nahrung in der Wildnis ist karg, bitter und dornig, veranschaulicht die Widerhaken und die Bitterkeit ihres Schicksals: Brombeeren, Hagebutten, Quellwasser, Eicheln. Dies sind die Speisen, mit denen sich Wulfhild aus den Chronika der Schwestern (II, 45) zunächst behilft, nachdem ein "wilder Heißhunger" sie aus der Höhle hervortreibt. Walderdbeeren verspeist die schwangere Frau des Raubritters Egger Genebald, zugleich ein Symbol der Jungfräulichkeit Mariens, , als sie nach der Tötung eines zudringlichen Dieners drei Tage im Walsd umherirrt (Musäus: VM, IV:Ulrich mit dem Bühel, I: 585). Während die Früchte des Felds und des Waldes auf künftige Besserung hindeuten, ist die Schilderung des Wohllebens oft mit der entgegengesetzten Richtung verbunden. Die Fülle und Masse der Tafel scheint gleichsam die Fallhöhe zu bezeichnen, aus der ein Erzähler die Figuren in die Armut, ins Unglück stürzt. In der Geschichte des Meisters Peter Bloch aus dem Schatzgräber (Musäus, VM: IV, Der Schatzgräber: I, 756) zeigt die Üppigkeit und Ausgefallenheit der von Bloch zubereiteten Gerichte dessen Wohlstand an:

Er verstund einen Auerhahn mit einem gehämmerten süßen Sode herrlich zuzurichten, auch hohe Gallerte von Fischen zu bereiten, desgleichen köstliche synandtfladen, Quittentorten, Kuchen mit Oblaten, und allen Schweinsköpfen übergüldete er die Ohren.

Die Mahlzeit als Mittel der Sammlung von Figuren. Nicht selten treten die Vertreter des Bösen im Märchen in Scharen zu sieben oder zwölf auf; die listreiche Überwältigung gelingt nur, wenn der Held die Bösen geschlossen unterwirft. Diese Geschlossenheit, die eine Gruppe von Räubern oder Menschenfressern erst als solche erfahrbar macht, gewährt der Wirtshaustisch, um den sie sich versammeln. Freilich wäre denkbar, dass sich die Fabel gleichsam auffalten lässt, dass jedem Schurken ein Erzählschritt gilt: das macht nur dann Sinn, wenn jedem einzelnen von ihnen der Rang eines Vertreters zukäme. Da die Kürze des Märchens, vor allem des mündlich erzählten Märchens, eine solche Fülle nicht bewältigen kann, fasst es die Gruppe als Einheit: einheitlich sterben die Mörder im Rätsel (KHM, 22), einheitlich fliehen die Räuber vor den Bremer Stadtmusikanten (KHM, 27). Auch die Vollständigkeit einer Figurengruppe vermag die Mahlzeit anzudeuten, oder eben: das Fehlen einer wichtigen Figur. Die Gräfin im ersten Buch der Chronika der drei Schwestern des Musäus erkennt erst am freibleibenden Platz zum "Frühstück", das ihre mittlere Tochter verschwunden ist. Wo aber zwei oder drei versammelt sind, da wird in der Regel auch Wichtiges verlautbart: zum Austausch zwischen den beteiligten Figuren, aber auch zur Benachrichtigung des Lesers. Das Wirtshaus schließlich ist ein Ort, der Figuren versammelt, der Unterredungen zulässt, an dem im Rahmen eines solchen Gesprächs Binnenerzählungen angelegt sind. Dies trifft weit stärker auf die Novelle zu als auf das Volksmärchen, das Märchen im engeren Sinn, aber wo sich wie bei Musäus Novelle und Kunstmärchen überschneiden, sind solche Einschlüsse auch im Märchen durchaus möglich. Die Geschichte des alten Martin im Schatzgräber (VM, IV: Der Schatzgräber, 749) ist eine solche im Wirtshaus vorgetragene Erzählung, ebenso die anschließende Lebensgeschichte des Peter Bloch (VM, IV: Der Schatzgräber, 756).

Die Mahlzeit als Mittel der Aufklärung. In Märchen, in denen Verwechslungen und Täuschungen die Handlung bestimmen, kann eine bestimmte Speise das wahre Sein einer Figur aufdecken. Im Gegensatz zum vorausschauenden Symbol erwirkt die Mahlzeit in solchen Fällen eine Aufhellung der gegenwärtigen Lage durch Rückschau. Im Märchen von der Jungfrau Maleen (KHM, 198: Jungfrau Maleen) ist es ein Brennesselstrauch, der zugleich an die Berechtigung des Aufstiegs erinnert, indem er sie an die einstige Armut erinnert, aus der sich Maleen als Küchenmagd erhoben hat: "Sie wanderten fort, um ein anderes Land zu suchen, aber sie fanden nirgends ein Obdach oder einen Menschen, der ihnen einen Bissen Brot gab, und ihre Not war so groß, daß sie ihren Hunger an einem Brennesselstrauch stillen mussten." Maleen wird von der "grundlos häßlichen" Braut dazu verwendet, einen Prinzen über die Eigenart seiner künftigen Ehefrau hinwegzutäuschen. Am Wege jedoch steht ein Brenesselstrauch, der ihr folgenden niederdeutschen Reim entlockt:

"Brennettelbusch,
Brenettelbusch so klene,
Wat steist du hier allene?
Ik hef de Tyt geweten,
Da hef ik dy ungesaden,
Ungebraden eten."

Die Brennessel ist in mehrerlei Hinsicht eine Pflanze der Armut: zum einen werden Brennesselfasern dann gewonnen, wenn Wolle und Leinen nicht verfügbar sind. Zum andern kann das Grün der Brennessel zwar als Wildgemüse verspeist, dies aber wie einige Chenopodium-Arten nur, wenn hochwertiges Gemüse und Korn nicht verfügbar sind. Als stechende Pflanze ist sie überdies ein Symbol der Härten, die Armut mit sich bringt.

Angaben zur Standes- oder Schichtzugehörigkeit sind um so wichtiger im Märchen, das als wesentliche soziale Bewegung den Weg nach oben kennt. Eine im Großen und Ganzen nicht standesmäßige Ernährung umfasst gebratenes Fleisch und Gemüse, das bei den Grimms allerdings nie näher bestimmt wird. Ein Essen, das ein gesellschaftliches Unten anzeigt, sind die verschiedenen Breie, darunter der Haferbrei, ebenso die Kartoffel. Kartoffeln mit Salz verzehren die vom Besitzer des Tischleindeckdich betrogenen Köhler, Kartoffeln essen die Eltern des zu Reichtum gelangten Meisterdiebs im gleichnamigen Märchen (KHM, 192: Der Meisterdieb). Wer in einen geringen Stand absinkt, der sinkt ab zu den Kartoffeln - auch bei Musäus (Volksmärchen (Chronika der drei Schwestern, I: 20) greift ein verarmter Graf notgedrungen zu diesem Knollengemüse, dessen Einerlei ihn zur Jagd, zu den alten Priviliegien treibt:

In diesem Schlosse hauste er von aller Welt verlassen, die Gräfin versah mit ihren Töchtern selbst die Küche, und weil sie allerseits der Kochkunst nicht kundig waren, wußten sie nichts als Kartoffeln zu sieden.

Auf diese Kartoffelspeise fällt der Graf erneut zurück, nachdem er seine Töchter an verschiedene Prinzen in zweierlei Gestalt veräußert hat. Dieselbe Episode erzählt eine für Volksmärchen sicher alles andere als typisch erzählte, in ihrer Weise aber aussagekräftige Art der Verköstigung: einer der erfolgreichen Werber soll bewirtet werden und erhält statt einer standesgemäßen Kost lediglich Obst:

Die Gräfin befand sich indessen in großer Verlegenheit, daß sie nicht vermögend war, ihrem Gaste etwas zum Imbiß aufzutragen; doch besann sie sich, daß im Schloßgarten eben eine saftige Melone reifte. Augenblicklich drehete sie sich nach der Tür, brach die Melone ab, legte sie auf einen irdenen Teller, viel Weinlaub drunter und die schönsten wohlriechenden Blumen ringsumher, um sie dem Gast aufzutragen.

Die demütig dargebotene Speise des Volks, die dem Monarchen besser mundet als die Leckereien bei Hofe - dieses Thema wird angespielt, aber nicht durchgeführt: der Bräutigam verschwindet. Durchaus kann die Zubereitung einer Mahlzeit so erzählt werden, dass die Aufmerksamkeit des Lesers gebunden ist und der Erzählfluss das plötzliche Verschwinden einer Figur, durch das er empfindlich gestört wäre, einlullend umfließt. Deshalb schmücken Beschreibungen von Mahlzeiten (und anderer Kunstwerke) häufig Erzählschwellen, die, hätte man sie auszuführen, ablenkende Fragen aufwürfen. Musäus erzählt ein Tableau, das bei den Grimms nicht möglich gewesen wäre: es erinnert eher an ein Stilleben als an die knappe Erwähnung, die solcherlei Zurichtungen im Volksmärchen erfahren. Während sich das Volksmärchen in der Darstellung der Grimms über den Verlauf eines Essens und dessen unmittelbare Wirkung ausschweigt, erzählt Musäus ausführlich gerade das. Die gierig-geräuschhafte Essweise der Knappen Rolands (VM: Die Knappen Rolands, I: 139 f.) erlaubt die Einstrufung der prassenden Figuren in die Welt der Landsknechte und Söldner: "Hinstaunen und Eßlust malten auf den Gesichtern der hungrigen Tischgenossen einen seltsamen Kontrast, der Instinkt aus dem Magen besiegte jedoch bald die Bewunderung, mit froher Gierigkeit regten sie nun die Kinnbacken, daß man hätte glauben sollen, das taktmäßige Geräusch einer Stampfmühle zu hören". Volkstümlich und dem derben Ton der Unterhaltung angepasst sind die eingeflochtenen Sprichwörter, die, an Sancho Pansa erinnernd, die Mahlzeit umrahmen. Die Vorzüge auch der folgenden Zauberdinge sind ganz aufs Prassen gerichtet. Sarron, der Topfgucker, versichert als Besitzer eines unsichtbar machenden Handschuhs: "Mir [...] steht in den Häusern der Prasser Küch und Keller offen, ich genieße das Vorrecht der Stubenfliegen, mit dem König aus einer Schüssel zu speisen, ohne daß er's mir wehren kann [...]." Selbstredend kommt bei Musäus auch die Kochkunst des Hofs nicht zu kurz, die in keinem Märchen der Grimms mehr als wenige Worte hervorruft. Der Bombast der Beschreibung umfasst Hinweise auf modische Stoffe des alten Orients, auf Sardanapal, auf Hilmar Curas und seine Einleitung zur Universalhistorie, auf Apicius und die Schlemmer der römischen Kaiserzeit:

Krafttorten waren mit gediegenen Goldkörnern bestreut, Pasteten von Pfauenzungen, Krammetsvögelhirn, Rebhühnereier, nach welchen heutzutage keinen feinen Züngler mehr lüstet; nicht minder Frikassees von Hahnenkämmen, Karpenaugen, Barbenmäulern, in welchen letztern der alten Sage nach eine Gräfin von Holland soll vernascht haben: alles das waren nur alltägliche Gerichte, die der neue Apicius seinem Monarchen auftischte.

Speisen als Mittel der zeitrlichen Verortung einer Erzählhandlung. Die Märchen des Musäus zeichnen sich gerade durch ein Merkmal aus, dessen grundsätzliches Fehlen den Grimmschen Volksmärchen geradezu als Gattungsmerkmal angerechnet wird: durch Geschichtlichkeit. Ständige Hinweise auf Quellen unterschiedlicher Art, die der allwissende Erzähler seinem Publikum mitteilt, die zeitnahe Einfärbung der erzählten Figuren, Städte und Landschaften oder gar Fußnoten zur Ausdeutung veralteter Begriffe, all das sucht man vergebensin den zeitlosen Märchen der Grimms. So fühlt sich Musäus in Stumme Liebe offenbar dazu aufgerufen (VM, IV: Stumme Liebe, I: 515), der Beschreibung einer historischen Leckerei eine aufhellende Fußnote anzuhängen. Offenbar besteht Klärungsbedarf in der Frage, weshalb eine alte Händlerin ausgerechnet mit gezuckertem Reisbrei zu bestechen sei:

* Ehe der Koffee bekannt war, pflegten Damen von Stande den weiblichen Besuch mit Konfekt oder anderm Backwerk und süßem Weine zu bedienen; wirtschaftlichere Hausmütter substituierten dafür Reisbrei und ein Glas Landwein. Der erstere stund als eine vorzügliche Leckerei in großem Kredit, und wurde bei den Gastmahlen der Fürsten aufgetragen. Ohne Reisbrei wurde selbst kein kurfürstlich Beilager vollzogen, wie die archivarischen Urkunden alter Küchenzeddel besagen.

Essen als gerüstbildendes Motiv: Katze und Maus in Gesellschaft (KHM 2): Katze und Maus sorgen für den Winter vor, ein "Töpfchen mit Fett" wird angekauft. Die Katze geht unter dem Vorwand, als Taufpatin bestellt zu sein, aus dem Haus und macht sich am Fetttöpfchen zu schaffen, das in der Kirche aufbewahrt wird: "Sie ging geradewegs nach der Kirche, schlich zu dem Fettöpfchen, fing an zu lecken und leckte die fette Haut ab." Noch zweimal wiederholt sich dieses Spiel, bis die Dreizahl erreicht ist und die Wende ansteht.

Speisen und Tafeln als Mittel der Unterschiedsbildung: Himmlisches Essen und Essen der Armut: Marienkind (KHM, 3): / Der Holzhacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold, und die Englein spielten mit ihm." / "Wurzeln und Waldbeeren waren seine einzige Nahrung, die suchte es sich, soweit es kommen konnte. Im Herbst sammelte es die herabgefallenen Nüsse und Blätter und trug sie in die Höhle, die Nüsse waren im Winter seine Speise, und wenn Schnee und Eis kam, so kroch es wie ein armes Tierchen in die Blätter, daß es nicht fror." Die Unterscheidung vorzüglich männlicher und auffallend weiblicher Verhaltensweisen ist sicher kein Hauptanliegen des Märchens, sieht man von der Neigung ab, Frauen in den Bereich des Hauses und der Küche zu rücken. Eines jedoch ist vielen Märchen eigen: die voraussetzungslose Annahme, dass Süßigkeiten von Frauen besonders geschätzt werden. So sagt der Müßiggänger Heinz in einem auf Faulheit abzielen Märchen (KHM, 164: Der faule Heinz) zu seiner kaum weniger faulen Trine:

"Die Weiber lieben die Süßigkeit, und du naschest von dem Honig, es ist besser, ehe er von dir allein ausgegessen wird, daß wir dafür eine Gans mit einem jungen Gänslein erhandeln."

Von Männern dagegen erwartet die Märchenstimme tüchtiges Zulanges, rasches, gieriges Essen. Über Tischmanieren erfährt man bei den Grimms wenig, weil sie in erstem Rang der Veranschaulichung eines Charakters dienen, einer Figur Tiefe und Temperament verleihen; Tiefe, auf die das Volksmärchen verzichtet, um die Handlung nicht ohne Not zu befrachten und damit den mündlichen Vortrag zu erschweren. Bei Musäus jedoch dient eine Schilderung einentümlicher Tischsitten dem Ziel, eine Figur wie Ritter Bronkhorst als überschießendes Temperament zu zeichnen, das bei Tisch- und Weinlaune, im Fluss des Erzählens nicht an sich halten kann:

Bei dieser Erzählung geriet er in einen solchen kriegerischen Enthusiasmus, daß er Flaschen und Gläser niedersäbelte, das Trenchiermesser wie eine Lanze schwang, und seinem Tischgenossen dabei so nahe auf den Leib rückte, daß diesem für Nase und Ohren bange war.

Speisen als Mittel, Erzählwenden herbeizuführen. Nicht selten wird im Volksmärchen eine Speise gereicht, die das Motiv des Sündenfalls wiederholt; gereicht wird sie etwa von der bösen Stiefmutter, wie wir sie aus Sneewittchen (KHM, 53) kennen. Wie in der biblischen Verführungsszene ist der Tod die Folge des trotz Verbot genossenen Apfels. Musäus in seiner Richilde (VM: Richilde, 1: 101) lässt die Blanca gar einen vergifteten Granatapfel verzehren, dessen lähmende Wirkung er denn auch eingehend schildert:

Sobald der Apfel verzehrt war, saß die Mutter mit ihrem Hofgesinde wieder auf und ritt von dannen. Bald nach ihrem Abzug ward dem Fräulein weh ums Herz, die rosenfarbenen Wangen erbleichten, alle Glieder ihres zarten Leibes erbebten, die Nerven zuckten und hüpften, ihre liebevollen Augen brachen und schlummerten in den endlosen Todesschlaf hinüber.

Ob er damit auf Ovids Persephone anspielt, die einen Granatapfel genießt und damit dem Hades verfällt? Entstammt der Granatapfel eher dem Bericht des Sündenfalls, wie ihn die Genesis berichtet? Gesichert ist die zweite Annahme: durch einen Querverweis ist der Leser ganz offenherzig darüber unterrichtet worden, welches Geschehen er als Muster dieser Apfelspende ansehen soll. Der jüdische Hofarzt Sambul wird einen "gezuckerten Granatapfel" vergiften, nachdem Richilde den Beschluss gefasst hat, sich ihrer Nebenbuhlerin zu entledigen: "Alsbald gab ihr der Satan ins Herz, diese edle Pflanze, die dem Garten Eden zum Schmuck würde gedienet haben, zu vernichten." Im König Drosselbart (KHM, 52) sind es die aufgetragenen Speisen, denen die zur Küchenmagd erniedrigte Königstochter nicht widerstehen kann: erst der Spott über die aus Hunger im Kleid zusammengerafften Speisen führt zur endgültigen Wende im Erzählgang.

Speisen, die über die Zuordnung einer Figur zu den erzählwichtigen Wirkungen erlauben. Selten sind Volksmärchen mit so feiner Feder ausgearbeitet, dass die Wahl einer bestimmten Speise Rückschlüsse zuließe auf die Wesensart der Gestalt, die sie herstellt. Anders im Kunstmärchen, auch da, woo es als Volksmärchen daherkommt. Musäus lässt eine besondere Delikatesse das Wesen einer Hexe noch vor der eigentlichen Aufhellung ihns rechte Licht rücken:

Sarron, der in Ritter Rolands immer der Topfgucker gewesen war, hatte aus natütrlichem Instinkt sich dieser Funktion, das Feuer zu unterhalten, bereits unterzogen, auch den Topf vorläufig sondiert, und eine Entdeckung gemacht, die ihm eben nicht behagte. Denn da er die Stürze aufhob und mit der Fleischgabel zu Boden fuhr, zog er einen stachlichten Igel hervor, dessen Anblick seine Eßlust dergestalt verminderte, daß der Magen von allen ungestümen Forderungen abstand. Er ließ aber nichts von dieser Küchenbeobachtung gegen seine Gefährten merken, damit, wenn das Igelragout aufgetischt würde, er ihnen den Appetit nicht verderben möchte.

Der Igel als Sinnbild des Teufels und Speise der Zigeuner deutet an, dass die so eifrig um ihren Brühtopf besorgte Alte buchstäblich etwas anrüchig sein muss, noch bevor ein schwarzer Kater die Hexenküche vervollständigt, noch bevor Musäus einen Ausflug in die Welt der Hexenkunde unternimmt. Der Topfgucker Sarron, dies am Rande, ist zugleich der Vertreter der List: im Kreis der Ahnungslosen erwirbt sich hier einen Wissensvorsprung. Eine weitere Hexenspeise fährt die alte Drude zum Abendessen auf, "eine frugale Mahlzeit, von Milchspeisen, gerösteten Kastanien und frischem Obst". Die gerösteten Esskastanien sind wohl dem wenige Jahre zuvor von Wieland übersetzten und längst volkstümlich gewordenen Shakespeare geschuldet. Eine der Hexen im Macbeth berichtet in der III. Szene des ersten Akts von solcher Kost: "A sailor's wife had chestnuts in her lap / And munch'd, and munch'd, and munch'd: / Give me', quoth I: / 'Aroint thee, witch!'". Die Helferfiguren des Märchenhelden pflegen sich in der Regel durch milde Gaben bemerkbar zu machen, die meist recht karg und einfach ausfallen, sinnigerweise besonders dann, wenn es sich um Einsiedler handelt. Der Einsiedler Benno, der Friedbert dem Schwaben bei Musäus (VM, III: Der geraubte Schleier, I: 400) ein Nachtlager bietet, bereitet ihm zunächst ein solches Helfermahl, reicht "gutes Brot und einige Gartenfrüchte zum Abendmahl". Die alte Pflegerin der in den Wochen liegenden Grafenfrau bei Musäus (VM, IV, Ulrich von dem Bühel, I, 587) reicht ihrem Pflegling "Kräutersuppen, die ohne Salz und Schmalz gekocht waren, und dabei wurde ihr, von dem zähen Mütterlein, das schwarze Brot so kümmerlich zugeschnitten, als wenn's Marzipan gewesen wär." Eine solche Diät verdrießt die Gräfin derart, dass sie nach der Schlachtung eines Huhns verlangt, das sich kurz darauf als wundertätig herausstellt.

Essensgebote als Begründung für eine Entwicklung: Etwas nicht verzehren dürfen und es dennoch tun: Die zwölf Brüder (KHM, 9): Benjamin als kleinster und schwächster versieht den Herd: "Nun zogen sie in den Wald und schossen Hasen, wilde Rehe, Vögel und Täuberchen und was zu essen stand; das brachten sie dem Benjamin, der mußte es ihnen zurechtmachen, damit sie ihren Hunger stillen konnten." Die Schwester der Zwöf wird, von Benjamin zunächst unter einem Holzzuber versteckt, bei ihren Brüdern eingeführt, als diese geloben, ihr kein Leid zu tun. Sie beteiligt sich am Haushalten: "Sie suchte das Holz zum Kochen und die Kräuter zum Gemüs und stellte die Töpfe ans Feuer, also daß die Mahlzeit immer fertig war, wenn die elfe kamen." In der Absicht jedem ihrer Brüder eine Lilie "aufs Essen zu schenken" bricht sie zwölf Lilien, die - wie sie von einer alten Frau erfährt - ihre Brüder sind. Brüderchen und Schwesterchen (KHM, 11): Brüderchen trinkt aus der dritten Quelle, nachdem Schwesterchen ihn davon abhält, aus der ersten Quelle zu trinken, deren Wasser ihn zum Tiger gewandelt hätte, und aus der zweiten Quelle, die ihn zum Wolf gemacht hätte. Er verwandelt sich, obgleich gewarnt, in ein Reh, nachdem er aus der dritten Quelle trinkt. Nicht eben selten ist das Motiv der gezählten und meist goldenen Äpfel, das an die Äpfel der Hesperiden erinnert. In Der goldene Vogel (KHM, 57) stiehlt ein Goldvogel die Äpfel vom goldenen Baum und setzt so eine Handlungskette in Gang, die das Goldene mit dem Goldenen zusammenführt.

Speisen als Prosopöie und Anlass zum Gattungszitat: in Das Lumpengesindel (KHM, 10) geben die Stecknadel und die Nähnadel an, sich beim Bier in der Schneiderherberge verspätet zu haben; Hühnchen und Hähnchen, als Reisende für Schwänke dieser Art geeignet, kehren zudem in einem Wirtshaus ein, wo sie - nach Schwankmanier - dem Wirt die Zeche prellen. Die Nähe zum Schwank belegt auch die überdurchschnittliche Häufung von Wirtsfiguren, die als Hauptgegegner oder dessen Helfer auftreten. Im Rätsel sitzt der Wirt mit am Tisch, wenn die Mörder tafeln; ein Wirt ist es auch, der das Tischchendeckdich entwendet.

Hunger oder Begierde als Anstoß der Handlung: Rapunzel (KHM, 12). "Eines Tags stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein Beet, das mit den schönsten Rapunzeln beflanzt war; und sie sahen so frisch und grün aus, daß sie lüstern ward und das größte Verlangen empfand, von den Rapunzeln zu essen." Der Ehemann lässt sich bestimmen, den Feldsalat zu pflücken: ein Salat wird daraus, den die Frau begierig zu sich nimmt; der Wohlgeschmack entflammt eine neue Begierde, die bekanntlich zum Vertrag mit der Zauberin und die Entfernung des Kindes führt. Marienkind (KHM, 3): Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten zu essen geben. Desgleichen Hänsel und Gretel (KHM, 15): Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er auch das täglich Brot nicht mehr schaffen." In den Händen des Tricksters wird die Verlockung guter Speise zur Waffe, die er listig einzusetzen vermag: so tauscht der dritte Bruder das Tischleindeckdich (hier: ein Tuch) bei drei Köhlern gegen magisches Rüstzeug. Weil es keine tragende Rolle mehr spielt, lediglich eine Stufe im Erzählgang vorstellt, wird es im Verlauf des Märchens nicht mehr erwähnt, nachdem der Haupthandelnde die dritte und entscheidende Waffe erlangt hat. Bei Musäus, im ersten Buch der Chronika der drei Schwestern, gerät ein verarmter Graf dreifach beim Jagen nach Wild in eine Lage, durch die er sich nur befreien kann, indem er eine seiner Töchter zur Ehe verspricht. Dreimal, auf dem Land, aus der Luft und über dem Wasser, wirft ihm ein übergroßes Raubtier Jagdfrevel vor, zunächst ein Bär, dann ein Adler und zuletzt ein Fisch. Hunger treibt auch die Paladine Rolands nach der Niederlage von Roncesvalles ins Gebirge und in die Fänge einer Zauberin (Musäus: VM, Rolands Knappen, I: 153). Die anhaltende Begierde der verirrten Gräfin nach einem Zauberhuhn baut in Ulrich mit dem Bühel (Musäus: VM,IV,I: 586) einen Spannungsbogen auf, der bis zur Entdeckung der Zauberkraft des Huhns anhält. Gegen Ende des Märchens verspürt auch der Bräutigam der Tochter diesen spannungsfördernden Appetit, aber in beiden Fällen löst sich die Spannung, ehe das Goldhuhn zum Suppenhuhn wird.

Die Abneigung gegen bestimmte Speisen, unangebrachte Feinschmeckerei oder Nörgelei bei Tisch kann gegnerische Figuren in noch dunkleren Tönen erscheinen lassen, als es bloße Benennung vermag. Oft verbirgt sich solche Bosheit jedoch in einem unscheinbaren Nebensatz, wie er in Musäus' Richild zu lesen steht: "Beim Dessert ließ die Hofmeisterin das köstlichste Obst aus dem Schloßgarten aufsetzen, Richilde kostete davon, fand es dennoch nicht schmackhaft genug und forderte von einem Diener ihren Granatapfel, womit sie, wie sie sagte, jede Mahlzeit zu beschließen pflegte." Umgekehrt kann die Fähigkeit, alle Speisen, vorzugsweise die einfachsten, bittersten und sauersten, unterschiedlos zu genießen, eine Aufwertung einer Figur bedeuten.

Speisen als Teil einer unlösbaren Märchenaufgabe: die Stiefmutter des Mädchens aus Die drei Männlein im Walde (KHM, 13) schickt die ungeliebte Tochter im Paperhemd hinaus in den Mittwinterschnee - Erdbeeren soll sie dort finden. Mit den "Haulemännerchen", volkstümliche Nachfahren germanischer Schicksalswesen, die es dort antrifft, teilt es ihr Brot und wird daher reich begabt. Anders freilich ergeht es der leiblichen Tochter, die "Butterbrot" und "Kuchen" für sich behält und sich den Unwillen der Schicksalmänner zuzieht.

Speisen als Gesinnungsprobe. Gesinnungsaufgaben sind jene Aufgaben, die dem Haupthandelnden eines Märchens von einer übergeordneten Macht aufgegeben sind, um seine Gesinnung zu prüfen. Erwartungsgemäß besteht der Held oder die Heldin derartige Forderungen, während ein weniger gut gearteter Gegner daran scheitert. Eine solche Gesinnungsaufgabe veranschaulicht Werte, die wie im Alltag der Leser oder Hörer einzuhalten sind ohne dass Lohn und Strafe eintreffen: im Gegensatz zur erfahrenen Welt ist hier die richtende Kraft aber zugegen. Einer dieser Werte ist die Bereitschaft, vom eigenen Essen mitzuteilen; ein anderer die rechtzeitige Erfüllung einer Haushaltspflicht. In Frau Holle (KHM, 24) verlangen gar die Brote in jenem Backofen, der inmitten der Anderweltwiese liegt, von der guten Tochter, aus dem Backofen entfernt zu werden, was diese als Vertreterin der Pflicht auch tut. Anders die Faule: sie lässt die Brote verbrennen. Die sprechenden Brote, sonst ein sinnfälliges Beispiel für die überredenden Kraft der Verführung, sind hier vom Erzählgang gefordert: eine Weisung ist an Sprecher gebunden, und wo kein Sprecher zugegen ist, spricht die Aufgabe selbst. Möglich, dass der Gegenstand, der seine Versorgung selbst anmahnt, einem alten Wunschtraum aller Haushälter entspricht - hier ist es wohl eher die epische Notwendigkeit, die Brot und Apfelbaum zum Sprechen bringen. Sneewittchens gute Gesinnung erweist sich, indem sie sich von jedem Gedeck im Haus der Zwerge nur ein wenig nimmt:

Sneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs und Brot und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem alles wegnehmen."

Eine Gesinnungsprobe ganz eigener Art legen drei Schwestern in Die Brautschau (KHM, 155) ab: einem heiratswilligen Junggesellen rät die Mutter, den angedachten Bräuten einen Käse vorzusetzen, aus dem Verhalten sei auf die Eignung zu schließen. Hier ist keine Zweiteilung in Gut und Böse vorgemerkt, keine Rollenteilung wird vorgenommen, das Muster rechter Haushaltung soll ermittelt werden:

Das tat der Jüngling, die erste aber verschlang den Käs mit der Rinde; die zweite schnitt die Rinde vom Käs ab, weil sie aber so hastig war, ließ sie noch viel Gutes daran und warf das mit weg; die dritte schälte ordentlich die Rinde ab, nicht zu viel und nicht zu wenig.

Die Gesinnungsprobe ist freilich in der Wirklichkeit der Erzählung nicht als solche ausgewiesen. Aus der Art der erforderlichen und in wertendem Verstand guten Verrichtungen und ihrer Anordnung, etwa in einer Dreierreihe, ergibt sich die Wirkung einer solchen Probe. Sie soll unter drei zunächst ungefähr gleichrangigen Figuren eine ausmitteln, die sich durch einen charakterlichen Vorzug auszeichnet: in unserem Fall durch ihre Freigiebigkeit. Es versteht sich, dass dieses spendefreudige und demütige Rollenmodell im Ausgang der Erzählung belohnt wird. Die dritte Tochter des Holzhauers in Das Waldhaus (KHM, 169) kocht nicht nur dem eisgrauen Alten seine Suppe, sie reicht auch seinen Tieren Futter. Dafür findet sie sich nach durchschlafener Nacht zur Königin geadelt. Eine Gesinnungsprobe ganz anderer, entgegengesetzterArt besteht Franz im Haus des derben Ritters Eberhard Bronkhorst bei Musäus (VM, IV: Stumme Liebe, I: 532). Er hat ein zum Gutteil männliches, zum andern Teil volkstümliches Vorurteil zu erfüllen. In einem Fall wechselseitigen Missverstehens macht er von der Gastfreiheit des Ritters reichlich Gebrauch, von dem ihm bekannt ist, dass er seine Gäste zum Abschied züchtige: "Für eine Suppe und einen schoppen Wein die Ribben einer Bastonade preizugeben, ist freilich nicht jedermann Ding, obwohl die schmarotzer und Tellerlecker sich rupfen und zausen lassen, und alle Kalamitäten der Übermütler willig dulden, wenn ihnen der Gaumen dafür gekitzelt wird." Biermus und Firnwein vertilgt er, um die unausweichliche Strafe vorausschauend auszugleichen - und gerade deshalb, wegen des männlich-deutschen Zulangens, "wie's der Bremer Art ist", wird er verschont.

Wunderkräftige Speisen oder Essgeschirre (KHM, 17: Die weiße Schlange, vgl. auch GRS I, 132: 142): das Fleisch der weißen Schlange, die einem neugierigen Diener die Fähigkeit verleiht, den Gesprächen der Tiere folgen zu können: "Jeden Mittag, wenn von der Tafel alles abgetragen und niemand mehr zugegen war, mußte ein vertrauter Diener noch eine Schüssel bringen. Sie war aber zugedeckt, und der Diener wußte selbst nicht, was darin lag, und kein Mensch wußte es, denn der König deckte sie nicht eher auf und aß nicht davon, bis er ganz allein war." Auch Herz und Leber des goldenen Vogels aus Die zwei Brüder (KHM, 60) sind wunderkräftig: einmal verzehrt, liefern sie dem, der sie isst, allnächtlich Goldstücke. Eben diese Teile entfallen dem Braten beim Wenden und werden von den armen Kindern des Besenbinders verzehrt; sie tragen damit zur epischen Gerechtigkeit bei, die im Märchen dem Guten auch zu Gütern verhilft. Im alemannischen Märchen Der Vogel Greif (KHM, 165) heilt Hans eine todkranke Königstochter, indem er ihr "goldgäle Öpfel" verabreicht: "Sobald se vo dene Öpfel gegässe gha het, isch [s]e gsund us em Bett gsprunge." Das Tischleindeckdich kennt auch Musäus in den Volksmärchen, und was noch wichtiger ist: auch seine Figuren sind mit der Wirkungsweise dieses magischen Tuchs vertraut, wenngleich zunächst die von Hans Sachs verschriftete Erzählung vom Schlaraffenland anklingt: Amarin, Besitzer des Tischleindeckdich, erwartet "nichts Geringeres, als daß ihm eine eine gebratene Taube in den Mund fliegen würde". Die drei Brüder der Grimms kann man mit einiger Mühe in den Genossen Rolands erkennen, die in Rolands Knappen ein solches Wundertextil ihr eigen nennen. Das Spiel mit der Vorlage treibt Musäus so weit, dass er seine Gestalten zunächst possenhaft an der rechten Handhabung des Tuchs scheitern lässt, bevor das Mahl dann doch angerichtet auf dem Tuch steht. Im Unterschied zum Volksmärchen, wie es die Grimms erzählen, ist es bei Musäus jedoch keine Formel, die dem Tuch seine Wundertätigkeit entlockt, sondern ein vergleichsweise ausgestalter Aufforderungssatz: "Heran, Gesellen! der Tisch ist gedeckt, bescher uns die Kraft des Tellertuchs einen wohlgekochten Schinken darauf und Weißbrot vollauf." Eine der ungewöhnlichen Wunderspeisen ist die Knackwurst des Benedix aus den Legenden von Rübezahl, die beim Auseinanderbrechen Goldstücke hervorbringt (Musäus: VM, Legenden von Rübezahl, Zwote Legende: 215).

Speisen als Mittel der Vorausdeutung: im Tapferen Schneiderlein (KHM, 20) kauft der Schneider einer Bärin Mus ab; dieser Kauf wird zum Auslöser der eigentlichen Handlung: auf dem Musbrot lassen sich die Fliegen nieder, die der Schneider - "sieben auf einen Streich" - erschlägt. Die Bemerkung des Schneiders, die Mahlzeit werde ihn kräftigen, weist verdeckt auf das Spiel mit listig vorgetäuschter Stärke voraus, das sich bei jeder vermeintlichen Heldentat des Schneiders wiederholt. Offen vorausdeutend ist dagegen foilgende Bemerkung aus den Chronika der drei Schwestern (I: 32), mit der Musäus den unabwendbaren Handlungsverlauf vorzeichnet:

Der Graf brachte seine Forelle heim, ließ sie sieden und sich diese Karthäusermahlzeit nebst der Gräfin und der schönen Bertha wohl schmecken, und die letztere ahndete nicht, daß ihr dies Mahl teuer würde zu stehen kommen.

Speisen als Mittel der epischen Gerechtigkeit: in vielen Märchen entspricht die Bestrafung eines Schurken genau der Art seiner Missetaten. Die Hexe in Hänsel und Gretel endet im Backofen, in dem sie die Geschwister zu braten beabsichtigt; die Königstochter in Die drei Schlangenblätter (KHM, 16) wirft ihren Bräutigam über Bord, also wird sie in einem durchlöcherten Schiff dem Meer überantwortet. Das Gift, mit dem die Hexe aus dem Rätsel (KHM, 22) dem Königssohn nachstellt, es trifft als das verstofflichte Böse, vom Pferd auf einen Raben übergegangen, zwölf Mörder mitsamt der Hexe. Auch der reiche, geizige Bauer und seine Frau, die Der arme Junge im Grab (KHM, 185) vorführt, kommen nicht vor ein Gericht, ein nahrhaftes Gericht stößt sie in die Armut. Dem Waisen, den sie annehmen, enthalten sie das ausreichende Maß an Nahrung vor:

Der Mann aber und seine Frau hatten ein böses Herz, waren bei allem Reichtum böse und mißgünstig und ärgerten sich, wenn jemand einen Bissen von ihrem Brot in den Mund steckte. Der arme junge mochte tun, was er wollte, er erhielt wenig zu essen, aber desto mehr Schläge.

Zweimal nimmt er sich vom Trauben, die er als Bote dem Richter überbringen soll, zweimal wird er entdeckt. Die letzte Arbeit führt er trotz ihrer Schwere gewissenhaft aus, allein, sie misslingt. Seinen Selbstmord versucht er mit dem Honig ins Werk zu setzen, den die Bäurin für Gift ausgibt; der Ungarwein, als Fliegengift getarnt, tötet ihn selbstredend genausowenig. Der Junge setzt sich selbst bei, indem er sich zum Schlafen in ein Grab legt und dort stirbt; die Bauern jedoch verlieren Hab und Gut, als der Bäurin die Schmalzpfanne entgleitet. Die epische Gerechtigkeit dieser Erzählung ist zweifach, und sie entspricht zweimal der Erzählstruktur: einerseits weist sie dem Waisenjungen vorenthaltene Güter zu, andererseits bestraft sie die Ungerechten mittels dessen, worauf ihre Schuld gründert. Das Schmalzpfännchen, Bild des ungemeinschaftlichen Wohllebens, verzehrt allen Reichtum. Musäus zeigt sich in den Knappen Rolands (VM: Knappen Rolands, I: 165) über den Grundsatz der epischen Gerechtigkeit so gut unterrichtet, dass er ihm Folge leistet und ihn zugleich ironisch verletzt: der Prasser Amorin wird um sein Tischleindeckdich betrogen, das Tischtusch zunächst eingezogen und dann zum unwirksamen Tintentuch, ohne einer märchenhaften Gerechtigkeit zu dienen: "Billig hätte das Glück einem darbenden Tugendhaften, der bei dem Schweiße seiner Arbeit mit der Familie schmachtete [...] das nahrhafte Tischtuch oder den wuchernden Pfennig in die Hände spielen sollen, [...] Doch eine solche Anomalie von dem gewöhnlichen Lauf der Dinge in dieser Unterwelt, wär zu sonderbar gewesen, um sich wirklich zu begeben."

Speisen und Essen als Mittel der Zuspitzung eröffnen einen Spannungsbogen, der sich zwischen der ersten Nennung einer unbekömmlichen Speise und ihrem Verzehr ausspannt, zwischen dem Fastenbeginn und dem Aushauchen der Seele. Der Königssohn aus dem Rätsel (KHM, 22) gerät unversehens in eine Hexenküche:

Die Alte saß auf einem Lehnstuhl beim Feuer und sah mit ihren roten Augen die Fremden an. "Guten Abend", schnarrte sie und tat ganz freundlich, "laßt euch nieder und ruht euch aus." Sie blies die Kohlen an, bei welchem sie sich in einem kleinen Topf etwas kochte. Die Tochter warnte die beiden, vorsichtig zu sein, nichts zu essen und nichts zu trinken, denn die Alte braue böse Getränke."

Gegnerische Figuren besitzen neben allerhand Zauberkräften nicht selten auch die Fähigkeit, ungeheure Mengen an Flüssigkeit zu vertilgen, um sich den Helden anzunähern oder sie zu verschlingen: die kannibalische Köchin des Försters aus dem Fundevogel schickt sich an, das zum Teich gewordene Brüderchen auszusaufen. In der stofflich verwandten Erzählung Der Liebste Roland (KHM, 56) ist nicht der Teich (Roland) gefährdet, sondern die Ente (seine Geliebte): hingeworfenes Brot soll, der Verwandlungslogik angemessen, die Ente ans Ufer locken. Selbstredend kann nicht nur das gewährte Essen, dessen Folgen noch ausstehen, und das langsame Aufzehren eines Vorrats, sondern auch der Verzicht auf jedwede Einnahme von Trank und Speise eine Zuspitzung des Geschehens bewirken. Im Märchen verzichten Trauernde und unglücklich Liebende auf Nahrung. Die Meta in Musäus' Stummer Liebe sieht ihrer Zwangsheirat mit Furcht entgegen:

Geheimer Kummer nagte an ihrem Herzen, sie hatte sich ein strenges Fasten auferlegt, und seit drei Tagen keinen Mundbissen genossen, auch mit keinem Tropfen Wasser ihre trocknen Lippen benetzt.

Mit dehnender und aufschiebender Wirkung erscheint das Essen im selben Märchen, gegen dessen Ende (IV, I, 546): in einem Spukschloss hat sich Franz, der in die welt hinausgeflohene Ehemann, einen Korb mit "Viktualien" vorgenommen, die er als Nachtessen verzehrt, "die gebauchte Flasche" im Anschlag. Die Tätigkeit des Kauens und Verdauens schiebt das Schauderhafte der Gespensterhandlung hinaus, schafft in ihrer Alltäglichkeit eine einlullende Stimmung der Ruhe, bis das "Dauungsviertelstüngen nach der Mahlzeit" den Gruselreiz vorbereitet.

Essen als Vergehen. Wo Märchen den richtigen Umgang mit Essen lehren, da bestimmen sie nicht selten auch das Verhältnis des Essens zum Arbeiten, häufig im Sinne der paulinischen Weisung, wer nicht arbeite, der dürfe auch nicht essen (2. Thessalonicher, 3,10). Müßiggang erscheint als Grundlaster, das etwa in der Klugen Else (KHM, 34) zur Verstoßung der säumigen Hausfrau führt, die eher isst und schläft als arbeitet. zu Aschenputtel (KHM, 21: Aschenputtel) sagt die Stiefrmutter zur ungeliebten Stieftochter: "Wer Brot essen will, muß es verdienen: hinaus mit der Küchenmagd!" Im Falle des Wechselbalgs, wie ihn das dritte Märchen aus den Wichtelmännern (KHM, 39) zeichnet, ist es nicht nur der "dicke Kopf" und die "starren Augen", der die Mutter plagt, es ist seine Unersättlichkeit des Balgs, "der nichts als essen und trinken wollte" und so den Haushalt aufzehrt. Erst durch das Kochen in Eierschalen, durch eine Handlung, die das Motiv der Vielesserei auf den Kopf stellt, kann er zum Lachen und damit auch zum Verschwinden gebracht werden. Ein Märchen, dessen Stoff auch in der Schwankdichtung verarbeitet wird, ist Der Frieder und das Katherlieschen (KHM, 59). Es greift das in der Frauenschelte so beliebte Motiv der Verschwendung von Nahrung aufgrund übergroßer Dummheit auf: die Bratwurst entführt der Hund, weil Katherlieschen Bier zapft; das Bier läuft in den Keller, weil Katherlieschen nach der Wurst sieht; die Bierkanne schließlich stößt die Haushälterin um, als sie das Bier mit Weizenmehl zu löschen sucht. Im Verlauf des Märchens verschwendet Katherlieschen noch die Butter und den Käse, die getrockneten Birnenschnitze (Hutzeln) und den Essig. Ein Lehre, die für die Märchen der Grimms verhältnismäßig deutlich ausfällt, bietet Der undankbare Sohn (KHM, 145). Das recht kurze Märchen liefert weine Gesinnungsprobe, die zugleich den Anlass des Erzählens bezeichnet: ein Ehepaar schickt sich an, ein Brathuhn zu verzehren, der alte Vater kommt des Weges, der Braten wird versteckt. Als der Vater sich wieder entfernt, hat sich das Huhn in eine Kröte verwandelt, die dem undankbaren Sohn ins Gesicht springt, lebenslang nicht mehr zu entfernen ist und mitgefüttert werden muss. Auch das Spukmärchen straft die Verfehlung der Habgier: beim Essen mit einem Freund sitzen Vater und Mutter eines verstorbenen Kindes in Der gestohlene Heller (KHM, 154) beisammen, das geteilte Essen belegt die Würde der Eltern. Das gespenstisch wiederkehrende Kind gräbt, nur für den Fremden sichtbar, in den Dielenritzen - es sucht, so stellt sich heraus, einen Heller, der als Armenspende gedacht war und für Zwieback angelegt worden wäre. Erst die Sühne dieses Vergehens befreit das Kind von seinem Wiedergängertum. Ähnlichkeiten zum Schwank wurden bereits besprochen: Frauenfiguren, das ist ein weiteres dieser Merkmale, neigen gelegentlich zu verschwenderischem oder besonders geizigem Verhalten. Eines dieser Märchen, Die hagere Liese (KHM, 168), stellt eine jener starken Frauenfiguren die ihre Männer kurz halten, bis diese sich durch einen Zufall aus der Diktatur ihrer Ehefrauen befreit sehen oder sich in einer Krise der Handlung ihrer Pantoffeln selbst entledigen. Das Märchen wird als Gegenstück zum Faulen Heinz verstanden und erinnert in der Dialogführung sehr an Die übel Adelheid, wenngleich hier der Mann als Verzehrer des ehelichen Vermögens auftritt. Eine junge Kuh wird angeschafft, die schließlich Milch zu geben verspricht, allein: "'Die Milch ist nicht für dich', sagte die Frau, 'wir lassen das Kalb saugen, damit es groß und fett wird und wir es gut verkaufen können.'" Und kurz darauf: "'und wenn du dich auf den Kopf stellst, du kriegst keinen Tropfen Milch.'". So, wie ein Vergehen vermittelt den Sünder richtet, so wird ein Umdenken belohnt. Auch in Der Grabhügel (KHM, 195) macht sich ein reicher Großbauer schuldig, indem er von seinem Reichtum nicht mitteilt. Die Bekehrung erfolgt gleichartig, im gleichen Bild: zunächst klopft die Reue an die Wand seines Herzens, dann klopft ein Armer an seine Tür und bittet um Brot. Während die Armen in der außerliterarischen Welt ihre Rolle als Seelenretter jedoch nur im übertragenen Sinne erfüllen, versieht der genannte Arme sein Amt ganz praktisch, indem er, vereint mit einem Soldaten, den Teufel in die Flucht schlägt. Bei Musäus ist Prasserei, also ein Verzwehr weit über die Grenzen des Vermögens hinaus, der Grund für den Untergang der Reichen in Adel und Bürgertum: Prasserei bringt den Grafen in den Chronika der drei Schwestern zu Fall (VM, I: Chronika der drei Schwestern, I: 1), vollendete Prasserei, die jedem Bürger Bremens "einen Krüselbraten" und "ein Krüglein spanischen Wein" einträgt, stürzt auch den Franz Melcherson in Stumme Liebe ins Unglück (VM, IV: Stumme Liebe, I: 500).

Essen als Ausdruck utopischen Wunschdenkens. Die versöhnende Wirkung des Erfindens, sie zeigt sich im Märchen besonders deutlich dort, wo Speisen sich ohne Zubereitung und in großer Fülle verzehren lassen. Das neben dem Schlauraffenland sicher bekannteste Beispiel notfreien Essens ist das Märchen vom Tischleindeckdich (KHM, 36: Tischchendeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack): das Wundertischchen macht die Mühen vergessen, die jede Beschaffung und Zubereitung von essen kostet. In Der Herr Gevatter (KHM, 42) jedoch stehen selbstbratende Fische im Hause des Teufels im Ruch des Bösen; sie allein sind nicht als Augentäuschungen zu erklären. Im Fall des Schlauraffenlands sind die Dinge verzwickter: es handelt sich beim Märchen vom Schlauraffenland eher um ein Spiel mit Möglichkeiten, mit der Spannung zwischen Erfinden und Lügen. Der Titel ist, wie so vieles, eine Zugabe der Grimms; die Linde, auf der heiße Fladen wachsen, die alte Geiß, die "wohl hundert Fuder Schmalzes an ihrem Leibe" trägt und "sechzig Fuder Salz", der hangauf fließende Honig - all das spiegelt weniger Hungersnöte und den Zwang zur Haushaltung, viemehr feiert sich das Dichten selbst: es vermag Unmögliches zu schaffen. In der Nähe des Lügen- oder Bramarbassier-Märchens findet sich auch der Überbietungswettbewerb Die zwölf faulen Knechte (KHM, 151). Hier ist Faulheit einmal nicht als tadel- oder gar todeswürdiges Vergehen aufgefasst. Allein aus der Verkehrung der zwölf Prahlereien lässt sich eine Morallehre der Faulheit entwickeln, die das Essen miteinschließt. Der erste Knecht rühmt sich seines ausgiebigen Schlemmens, das ihn nicht im Mindesten Arbeit kostet: "Die Sorge für den Leib ist meine Hauptarbeit: ich esse nicht wenig und trinke desto mehr. Wenn ich vier Mahlzeiten gehalten habe, so faste ich eine kurze Zeit, bis ich wieder Hunger empfinde, das bekommt mir am besten." Die anderen Knechte geben an mit Langsamkeit, Versäumnis und Trägheit, dem achten Knecht ist selbst das Essen zu mühsam:

"Heute lag das Brot vor mir, aber ich war zu faul, danach zu greifen, und wäre fast Hungers gestorbenn. Auch ein Krug stand dabei, aber so groß und schwer, daß ich ihn nicht in die Höhe heben mochte und lieber Durst litt."

Wann immer Faulheit der Hauptstoff eines Märchens ist, dann erscheint jede Zurichtung von Essen als Mühe, die sich der Faule gerne erspart. Selbst das Ein- und Austreiben der Ziege ist dem trägen Heinz und seiner dicken Trine in Der faule Heinz zuviel, und so tauscht man das Tier gegen einen Bienenstock. Der so gewonnene Honig ist den Faulen das geeignetste Nahrungsmittel. Trine: "Die Bienen brauchen nicht gehütet und nichts ins Feld getrieben zu werden: sie fliegen aus, finden den Weg nach Haus von selbst wieder und sammeln Honig, ohne daß es uns die geringste Mühe macht." Heinz: "außerdem schmeckt der Honig besser als Ziegenmilch und läßt sich auch länger aufbewahren. Vor diesem Hintergrund scheint erklärlich, weshalb Honig die Speisekarte der Schlauraffen bereichert: Nichtstun ist süß.

Fressen und Gefressenwerden. Es verwundert, welches Gewicht der Menschenfresserei im Märchen zukommt - als angedrohter Verzehr in Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM, 29) und in Hänsel und Gretel (KHM, 15), als Verzehr des ganzen Menschen wie in Rotkäppchen KHM, 26) oder als angedrohter und vollzogener Verzehr des zerhackten und mit Salz bestreuten Leibes im Räuberbräutigam (KHM, 40). Beim bloßen Zerhacken belässt es der Zauberer, offenbar ein Blaubartverwandter, im Märchen von Fitchers Vogel (KHM, 46). Kannibalismus deutet sich auch im Märchen von Fundevogel (KHM, 51) an. Die alte Köchin des Förstersbekundet, das Findelkind in heißem Wasser aufkochen und verzehren zu wollen. Zum bis dahin unverstandenen Spruchschatz gegnerischer Märchenfiguren gehört jedenfalls der Satz: "Ich wittere Menschenfleisch!" Ihn spricht der Teufel in Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, der Anderwelt-Riese in Hans und die Bohnenranke, ihn spricht der Bär im zweiten Märchen aus Musäus' Chronika der drei Schwestern (II: 41).

Bibliographie

  • Musäus, Johann Karl August: Volksmärchen der Deutschen. München: Winkler, 1976 [Winklers Dünndruckausgaben]
  • Grimm, Jacob und Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen, 4 Bde. [nach der Großen Ausgabe von 1857] hrsg. v. Hans-Jörg-Uther. München: Diederichs, 1996 [Die Märchen der Weltliteratur]