Literatur
Exotisches in der Literatur
Was bewirkt Exotisches im Text?
Wer tropische Inseln oder arabische Suqs darstellt, die sein Leser nie erreichen wird, hat wie der Utopist die Freiheit, es mit der Lebenstreue nicht allzu genau zu nehmen. Er hat die Leser ganz auf seiner Seite; gleichwohl mag er andeuten, dass die entworfenen Welten künstliche Welten sind. Jedenfalls bewirkt die Darstellung des Exotischen eine Aufhebung des Wahrheitsanspruchs: das unerreichbar Fremde ist nicht zu überprüfen. Die Wahrscheinlichkeit des inneren und äußeren Geschehens, die Folgerichtigkeit des Erzählgangs, muss dabei nicht außer Kraft gesetzt sein. Der exotistische Realismus ist prinzipiell nicht zu überprüfen, sehr wohl aber müssen exotistische Texte bestimmten Normen genügen, die ihre Wahrhaftigkeit erweisen sollen. Diese Normen sind literarisch vermittelt. Als Marco Polo seinen Reisebericht veröffentlicht, glaubt ihm zunächst niemand. Nicht etwa deshalb, weil er Ungeheuerliches unglaubwürdig vorträgt. Man zweifelt seine Glaubwürdigkeit an, weil er es unterlassen hat, Ungeheuer zu schildern, wie sie auf den Weltkarten und Portulanen der Zeit zu sehen sind. Im politischen Schrifttum tut Verhüllung not, nicht nur aus Gründen der Zensur. Thomas Morus hat seinen Idealstaat auf eine ferne Insel verlegt, Friedrich der Große lässt Chinesen aus dem noch unaufgeklärten Europa berichten. Besonders häufig ist der Exot als vir bonus der Kultursatire: die Anzahl polynesischer, afrikanischer, indianischer oder chinesischer Erzählerfiguren ist unüberschaubar. Auch im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts sind Exoten als Erzähler nicht ungewöhnlich: Paasches moralisierender Afrikaner Lukanga Mukara oder Scheurmanns naiv staunender Tuiavii sind die bekanntesten Beispiele.
Verfremdung ist eine der wichtigsten Funktionen exotistischen Schreibens. Das bis zum Überdruss Vertraute wird fremd, wird außergewöhnlich, das lockend Fremde zum Eigenen. Neben dem Schutz vor rechtlicher Verfolgung dient das Exotische auch der Objektivierung, der Distanzierung: der Leser soll allein das Dargestellte beurteilen, soll Vorurteile beiseite lassen, soll seinen kritischen Verstand bemühen. Vielleicht ist deshalb gerade im Zeitalter des Lichts das Exotisieren ein so beliebtes Schreibverfahren. Nicht selten geht der Exotist dabei so weit, alles Eigene in sein schroffes Gegenteil zu verkehren.
Eine andere, gleichwohl verwandte Funktion des exotistischen Schreibens ist das Erzeugen von Fremdheit als Selbstschutz. Das Fremde liefert die Berechtigung, auch das Verbotene zu erlesen. Normen werden durch die Übertragung des Gegenstands ins Exotische außer Kraft gesetzt. So lassen sich die innere und äußere Zensur trefflich umgehen, wenn das Erotische im weißen Gewande der Wissenschaft auftritt. Das gilt für die wissenschaftliche Darstellung des Erotischen in der Sexualpathologie, etwa bei Krafft-Ebing, es gilt aber auch für eine Vielzahl völkerkundlicher Abhandlungen und Reiseberichte. Das Weib im Leben der Völker, 1910 in zwei Bänden von Albert Friedenthal veröffentlicht, ist eine reich illustrierte wissenschaftliche Abhandlung, die über die Frauen der Wilden "wie ein Männermagazin" berichtete. Schutz vor innerer und äußerer Zensur schafft beispielsweise auch das fadenscheinige orientalische Gewand, das Scheerbart seiner Erzählung um die Bagdader Köchin Tarub anlegt. Die Handlung spielt im Jahr 892, genau 1000 Jahre vor der Entstehung des Romans, enthält jedoch zahlreiche Anspielungen auf die Berliner Gesellschaft zu Scheerbarts Zeit.
Isolation. der Handlungsträger wird aus seinem Umfeld entbunden, die Aufmerksamkeit des Lesers wendet sich ganz ihm zu, das Wesentliche der Handlung wird hervorgehoben. Dieses Verfahrens bedient sich Joseph Conrad in Heart of Darkness ebenso wie Saul Bellow in Henderson the Rain King. Der Kontrast der europäischen Figur zur fremdartigen Umwelt löst ein Erzählen aus, das die Figuren an neuen Maßstäben misst. Die zurückweisende Fremdheit der Umgebung löst eine Folge von Selbstbespiegelungen aus, eine Konzentration auf den nicht selten als Ich-Erzähler auftretenden Haupthandelnden.
Identifikationsangebot. Das Fremde bietet eine breitere Projektionsfläche als das Eigene, stellt Wissensgleichheit bei verschiedenen Lesern her, erlaubt ein von den Verboten und Geboten der Gesellschaft weitgehend unberührtes Ausagieren der eigenen Statusbedürfnisse.
Eskapismus. Nicht selten – aber eben nicht nur! – geht exotistisches Erzählen den Fluchtwünschen der Leser entgegen. Fluchtphantasien mögen eine wichtige Rolle bei Entstehung und Aufnahme exotischer Erzählwelten gespielt haben: diese psychische Disposition der Leser halte ich aber nicht für einen Gegenstand, mit dem sich die Literaturwissenschaft kundiger zu befassen wüsste als die Psychologie.
Information. Der Leser wird über die vermeintlichen Zustände in der Fremde unterrichtet. Wozu er diese Informationen benötigt und wozu er sie verwendet, das ergibt sich aus der Lebenspraxis einzelner Leser und kann schon allein deshalb nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Herstellen von Wissensgefällen. Das Wissen des Lesers über das Fremde wird herausgestellt, weil es sich vom überlegenen oder unterlegenen Wissen des Erzählers abhebt. Der Leser ist dem Erzähler auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, sieht das Fremde nur durch dessen Augen: völlig gleichgültig, ob der Erzähler als Heimischer oder als Exot auftritt. Dieser Pakt, der für jede Erzählung geschlossen wird, gilt insbesondere für dieses Genre: glaubhaft ist, was erzählt wird.
Aufbau von Fremdheitskompetenz. Der Leser wird mit Innensicht auf das Fremde versehen, gleichzeitig aber gewarnt, diese Außensicht mit Allgemeingültigkeit auszustatten. Diese literarische Hermeneutik des Fremden zielt darauf, so Werner Nell, die "jeweiligen Gestaltungen des Fremden als Resultate historischer Sinn-Definitionen, aber auch als Ergebnisse individueller und kollektiver Abgrenzungsprozesse zu verstehen."
Aufbau dichterischer Freiheit. Gattungsnormen werden außer Kraft gesetzt, neue Darstellungsregeln (auch ästhetische) werden konstituiert. Am fremden Gegenstand vermag sich eine neue Ästhetik deshalb leichter zu entfalten, weil die ästhetischen Regeln am Vertrauten entwickelt wurden, weil im Vertrauten das Richtmaß der Naturtreue angelegt wird. In exotischen Erzählwelten ist dieser Darstellungsrealismus weitgehend funktionslos: exotische Ästhetik ist nicht an aristotelische Weisungen gebunden, und so vermag sich auch das exotistische Schreiben von den Forderungen der Regelästhetik zu befreien.
Abbau poetischer Normen. Exotistisches Schreiben fordert den Leser heraus, gewohnte Überzeugungen aufzugeben – auch in der Poetik. So sieht Sprengel im Exotismus Else Lasker-Schülers und Scheerbarts "ein Votum gegen die Mimesis-Ästhetik des Naturalismus und die krude Stofflichkeit einer ihr verpflichteten Literatur."
Wie wird Exotisches geschrieben?
Gibt es eine spezifisch exotistische Schreibweise? Einen exotistischen Stil, der alle anderen miteinander verwandten Schreibweisen für China, Indien und, Hinterindien verbindet? Gibt es eine Grammatik des Exotischen? Trifft auf alle Exotismen zu, was Edward Said in der ihm eigenen Allgemeinheit an der Sprache der Orientalisten beanstandet?
"They are all declarative and self-evident; the tense they employ is the timeless eternal; they convey an impression of repetition and strength; they are always symmetrical to, and yet diametrically inferior to, a European equivalent, which is sometimes specified, sometimes not. For all these functions, it is frequently enough to use the simple copula is. ["¦] Orientalism is absolutely anatomical and enumerative: to use its vocabulary is to engage in the particularizing and dividing of the things oriental, into manageable parts."
Fremd anmutende Stile gibt es spätestens seit hellenistischer Zeit, man darf vermuten, dass es sie auch schon länger gab. Der Asianismus, begründet von Hegesias von Magnesia am Sipylos, wendet sich als Prägung des Orients gegen die griechische Norm, wie sie die Attizisten verfechten. Gegen Archaismus und kantige Strenge setzten die Asiatici Neuprägungen und rhetorische Eleganz. Dieser erste Manierismus Europas begründet eine Traditionslinie, die auch das exotistische Schreiben prägt. In Reiseberichten, so scheint es, soll die Sprache die fremde Umwelt bewältigen, in dem sie sich anpasst, indem das Fremde in Satzbau, Wortbildung und Prosodie eingeht. Das Fremde lässt sich nicht prädizieren, solange nicht klar ist, in welche Klasse es gehört, und so muss es zunächst beschrieben werden. Die Folge ist eine Überbestimmtheit des exotischen Gegenstands, die im Leser genau jenen Zustand der Betäubung hervorruft, den die exotische Fremde im Sprecher bewirkt. Wer das Fremde beschreibt, bedient sich also einer Fülle von Attributen, adverbial, attributiv, prädikativ gestellt. Ein Beispiel aus den Briefen Max Dauthendeys an seine Frau aus Bombay: "Die Häuser sind wie dreistöckige, grüne, blaue, weiße und farbige Vogelkäfige, die Indier halbnackt, schön braun"; einmal gesetzt, dass wir gerade einmal sieben Gedächtniseinheiten behalten können, dann hätte der Leser im nächsten Satzteil all diese Attribute wieder vergessen. Es sind vor allem die Farben, die dem beschreibenden Exotisten zur Hand sind: sie sind die sichtbarsten, repräsentativsten Begriffe. Er folgt darin dem Maler, der das Unbekannte in seiner Erscheinung abzubilden vermag. Exotistische Prosa neigt in manchen Fällen zur Vagheit trotz Fülle, Thomas Manns indische Novelle Vertauschte Köpfe ist mit ihrer übergenauen Begrifflichkeit das treffendste Beispiel. Akribisch wird der Gegenstand bestimmt, klassifiziert, beschrieben – und bleibt doch blass, oder bleibt gerade deswegen blass. Die Fülle der Neuheiten, unverständlich, keiner Wahl und keiner bekannten Ordnung zu unterwerfen, stumpft zuletzt nicht allein den Fernreisenden ab, indem sie ihn überfordert, sie mindert auch die Empfänglichkeit vieler Leser für das Neue, das unverbunden auf ihn einstürmt – je genauer der Gegenstand bestimmt wird, desto mehr löst er sich auf. Exotismus, meint Edward Said, biete "a confusing amalgam of imperial vagueness and precise detail." Verwandt ist das Merkmal der Überdeterminiertheit: der Exotist, selbst dann, wenn er aus der Perspektive des Einheimischen erzählt, müht sich redlich, alle Zusammenhänge der fremden Kultur zu erläutern, alle Gegenstände kenntnisreich zu benennen: darin unterscheidet er sich von Erzählern, die das Fremde übersehen. In der Geläufigkeit seiner oft allzu kenntnisreichen Erläuterung erweist sich der Fremde, außerdem im unbegrenzten Vermögen zu unterteilen. Wer mit dem Dargestellten vertraut ist, der hat nicht nötig, davon Kunde zu geben. Ich möchte diese Erscheinung das Paradox des exotischen Erzählers nennen: das Fremde kann ich nur mit Mitteln darstellen, die dem Leser den Eindruck des Fremden hervorrufen. Damit aber trete ich aus der Selbstverständlichkeit heraus, die für den heimischen Erzähler im Hinblick auf die eigene Kultur kennzeichnend ist. Ein Musterbeispiel dieses verwirrenden Wechselspiels zwischen Eigenem und Fremdem liefert erneut Thomas Manns Vertauschte Köpfe – der Erzähler gewährt dem Leser den Blick auf ein exzessiv erläutertes Eigenes und gibt durch die scheinbare Akkuratheit seines Redens zu erkennen, das er der Kultur, die er so beredt darstellt, im Grunde nicht angehört, nicht Inder ist, sondern Indologe. Ein drittes, semantisches Merkmal exotistischen Schreibens ist die erhöhte Bereitschaft zur semantischen Vagheit, zu paradoxen, unscharfen und redundanten Aussagen. Es bedarf kaum des Hinweises, dass Dauthendeys Vogelkäfige "farbig" ja bereits sind, wenn ihnen die Farbadjektive grün, blau und weiß beigefügt werden. Und noch ein Kennzeichen exotistischen Schreibens sei an Dauthendeys Teilsatz ausgewiesen: die Neigung zum Vergleich. Da das Fremde ohnehin mit dem Wortschatz der Heimat bestimmt wird, oft genug mit dem Bewusstsein, das Unsagbare dennoch zu sagen, ist die Brücke zur Heimat ein Vergleich, der oft etwas hinkt: "wie Vogelkäfige" erscheinen die Wohnhäuser zu Bombay. Das exotische Stilmittel schlechthin jedoch ist der Neologismus, was nicht verwundert, liegt es doch näher, das Unbekannte prägnant zu benennen als eine weitschweifige Erläuterung anzubringen. Beispielhaft dafür ist Goethes ätzendes Indien-Gedicht aus dem Diwan, das exemplarisch den alten Gegensatz zwischen attischer Klarheit und orientalischem Gewimmel zur Sprache bringt. Es enthält Neologismen in Fülle: zum "Schlangen-Genüssel" gesellen sich "Zierat-Brauerei" und "Troglodytengewühl". Neologismen sind das erste lexikalische Mittel exotistischen Schreibens, das zweite und mindestens so wichtige ist das Fremdwort und mit ihm der exotische Name: oft ist es nicht allein dem uneingeweihten Leser fremd. In Goethes Gedicht sind es die Namen des hinduistischen Pantheons, die nur einem Bruchteil seines Publikums vertraut waren. Nicht jeder dürfte zur Vorbereitung Schlegels Aufsatz Ueber die Sprache und Weisheit der Indier gelesen haben, um "Sakontala, Nala" oder "Megha-Duta" zu kennen, und auch mit "Wischnu, Kama, Brahma, Schiven" und dem "Affen Hannemann" hatte wohl nur der Vorgebildete etwas anfangen können. Es zeigt sich ein weiteres Stilmittel des exotistischen Schreibens: das unbekannte Wortmaterial wird in bloßer Aufzählung und großer Dichte präsentiert, oft nicht nach sachlichen Gesichtspunkten sondern aufgrund zufälligen Gleichklangs montiert. Zumindest jedoch ist das Spiel mit dem Klang, hinter dem sich die Bezüge verflüchtigen, ein häufig gebrauchtes Mittel. Die Neigung exotistischer Prosa zur Katachrese ist erklärlich: exotisches Schreiben bedient sich häufig kombinatorischer Techniken, die Gegensätzliches zusammenbinden und Bilder aus unvereinbaren Bereichen aneinander fügen. Die Synästhesie als sprachliches Mischen der Sinneseindrücke entspricht ganz dem Eindruck, den das Fremde dem Exotisten hinterlässt: ringend mit einer Flut unerkennbarer Formen, Töne und Farben verschränkt er sie, verbindet er sie. Exotistisches Schreiben ist um 1900 aber keineswegs auf die Belletristik beschränkt, es kann auch darstellende Texte erfassen. Als Beleg sei die folgende Stelle aus dem Schlusswort zu Friedrich Delitzschs Vortrag Im Lande des einstigen Paradieses hinzugefügt, die nicht weit von den orientalistischen Schreibmustern Scheerbarts abgeht. Der Vortrag endet übrigens mit der uns heute kurios anmutenden Schlussformel "inscha Allah!":
"Babel ist eine Trümmerstätte geworden, und Schakale wohnen in seinen Ruinen. Aber noch wölbt sich Gottes blauer Himmel und waltet ar-Rahmân ar-Rahîm, `der Allbarmherzige`, auch über dem babylonischen Lande, er wird den glimmenden Docht gewiss nicht für ewig verlöschen."