Literarische Funktionen
Literarische Funktionen: Kunstwerke in der Erzählung
Bildbeschreibungen sind entweder eigenständige Texte und als solche Teile einer Sammlung, oder sie sind Elemente eines sie umfassenden Texts. Als Elemente eines Texts werden sie, wie andere Strukturkomponenten, wie Porträts oder Dialoge, so angeordnet, dass sie etwas für das Textganze leisten. Sie stehen mit diesem Textganzen in fester oder loser Bindung. Als Versatzstücke sind sie recht beweglich, im Gegensatz zum an Figuren gebundenen Dialog, sie können an unterschiedlichen Stellen im Text eingesetzt werden. Vergleichbar darin sind sie rhetorischen Figuren oder rhetorischen Topoi, die gleichfalls frei angeordnet werden. Betrachtet man ihr "tropisches" Verhältnis zum Gesamttext, so lassen sich etwa metaphorische, synekdochische und metonymische Bildbeschreibungen unterscheiden. Betrachtet man ihr "syntaktisches" Verhältnis zu anderen Strukturelementen, dann können sie in den Zusammenhang einer Klimax oder Antiklimax treten, sich zu Parallelismen binden oder verschiedenste Formen der Wiederholung prägen. Beschreibungen wirken sich vielfach aus auf die Texte, deren Bestandteil sie sind:
Kunstwerke illustrieren. Gemäß der Forderung des Horaz, Texte müssten bildhaft sein kommt ihnen die Aufgabe zu, Handlungselemente so vorstellbar zu machen, dass sie sich in die erfundene Welt des Textes fügen. Dem Grundsatz der Illustration ist als stilistische Vorschrift die Anschaulichkeit zugeteilt.
Kunstwerke exponieren. Das Thema eines Texts wird im Rahmen eines Kunstwerks angedeutet, der Leser wird zum eigentlichen Thema hingeführt. Kunstwerke dienen als Erinnerungshilfen, die mittels ihrer Bildhaftigkeit oder ihrer stofflichen Verweiskraft Geschichten erzeugen. Ein Beispiel für diese Wirkung des Beschreibens liefert die Titelerzählung der Sammlung Lingam von Max Dauthendey: ein Ich-Erzähler dreht in seiner Hand "einen kleinen Kupfernapf mit breitem Rand, der im Licht rötlich blitzt"; er umfasse ein "schwarzes Marmorei", beide "stellen zusammen ein Lingam dar, das indische Symbol geschlechtlicher Vereinigung, das heiligste Liebessymbol und Symbol des ewigen Lebens". Der Erzähler erläutert nun die näheren Umstände des Kaufs und schließt unvermittelt einen kosmologischen Mythos an, der – so stellt die nachgereichte Exegese heraus – die Bedeutung des Gegenstands erläutert: die Bedeutung des Bildes, aber auch die Bedeutung für die anschließende Sammlung asiatischer Novellen.
Kunstbeschreibungen dehnen oder raffen die Erzählzeit. Der Handlungsverlauf eines Prosawerks wird durch die Bildbeschreibung gedehnt oder beschleunigt, die Erzählzeit wird erweitert (um die Datierung, die dargestellte Zeit des Bildes). Dehnungen haben nicht selten die Funktion, Spannung zu erzeugen. Tschun, der chinesische Christ aus Elisabeth von Heykings gleichnamigem Roman, sucht die Kaiserwitwe Cixi im Sommerpalast zu Peking auf: dessen ungewiss, was ihn erwartet. Tschun, vom Erzähler durch die kaiserlichen Gärten geführt, ergeht sich in gedehnten Betrachtungen des figuralen Schmucks, der Dächer, die "wie große goldene Flügel wirkten" und der Standbilder, "die selbst so aussahen, als seien sie in einen tiefen Zauberschlaf gefallen." Das verlangsamte Erzählen, aufgeladen mit ominösen Vorausdeutungen auf den Zorn jener übermächtigen Despotin, baut jene Spannung auf, die sich im weiteren Verlauf der Audienz gewaltsam entladen wird.
Kunstbeschreibungen steuern die Phantasie der Leser. Bildbeschreibungen verringern die Zahl möglicher Aussagen des Lesers über die dargestellten Gegenstände. Diese Wirkung des Beschreibens fällt im exotistischen Erzählen umso mehr ins Gewicht, als unbekannte Namen keine Vertreter in der Vorstellung der Lesenden haben. Je genauer der Erzähler seine Gegenstände beschreibt, desto höher ist sein Erkennungswert, desto leichter kann er ins Gespräch einfließen und über die Grenzen der Erzählung neue Bildungen anregen.
Kunstwerke verweisen auf den Erzählrahmen. Solche Episoden, die den Leser und seine Welt, nicht aber den Handlungsverlauf selbst angehen, werden als Bild erzählt. Solcherlei Einschlüsse können, so zum Beispiel der Schild des Achill in der Ilias, den Erzählort abstecken, deutlich machen, wie die erzählte Welt beschaffen ist.
Kunstwerke prägen Figuren. Kunstbeschreibungen dienen der Charakterisierung von Figuren, schaffen Stimmungen und Situationen. Als Teil im Ganzen der Erzählung ist der Beschreibung zunächst unterstellt, dass sie andere Handlungsteile beeinflusst, den Erzählgang prägt und die Figuren klärt. Kunstwerke können feste Attribute sein oder Aspektfiguren, die das Innere einer literarischen Figur nach außen kehren. In Hugo von Hofmannsthals Das Märchen von der 672ten Nacht vertritt eine rätselhafte Götzenfigur die bedrohliche Weiblichkeit der jungen Dienerin: wie Dorothea den Rosenbund oder Barbara ihren Turm trägt sie das Standbild vor sich her. In D. H. Lawrences Women in Love von 1921 dient eine afrikanische Frauenskulptur dazu, den großstädtischen Geist Londons, erschöpft und verkümmert, ein sichtbares Bild zu verleihen: bloß dekorativ wirkt sie im Wohnzimmer des Oberschicht-Dandys Halliday.
Kunstbeschreibungen sind verhüllte Ansprachen. Unsagbares und Tabus werden mit Hilfe von Bildern dargestellt. Kunstwerke haben den Vorzug, dass sie Gesprächsanlässe über Menschlich-Allzumenschliches bieten, ohne dass sich die Betrachter durch Selbstaussprachen in Gefahr brächten. In der Erzählung ist insbesondere dann ein solcherart um ein Bild gelenktes Sprechen dann anzunehmen, wenn Figuren ihre Eindrücke vom Kunstwerk in Gegenwart anderer Figuren berichten.
Kunstbeschreibungen gestalten Übergänge im Erzählen. Die Aufmerksamkeit des Lesers soll vom Handlungsfortgang abgelenkt werden, um einen Handlungsumschwung einzuleiten. Während sich die Beschreibung am Gegenstand aufhält, springt der Erzähler in eine andere Erzähllage, wechselt den Ort und die Zeit des Erzählens. Es ist bemerkenswert, dass Bildbeschreibungen bevorzugt dort auftreten, wo Bauformen des Erzählens aufeinander stoßen. Wie die Kapitelle im griechischen Tempel und die Bogenfriese in der romanischen Basilika gliedern sie die Erzählung, nehmen den Übergängen ihre Schroffheit.
Kunstbeschreibungen ermöglichen Vorschau und Rückblick. Bildbeschreibungen nehmen als Prolepse Handlungselemente vorweg oder rufen sie als Anapher noch einmal ins Gedächtnis. So ist die despotische Natur der chinesische Regentin Tzü Hsi in Elisabeth von Heykings Tschun bereits an der Einfriedung ihres Palasts zu erkennen: "Die blutrote Umfassungsmauer wand sich wie ein seltsames Schlangenungetüm in Zickzacklinien um das ganze Gelände." Verschlagenheit und Gewaltherrschaft: Farbe und Form der Mauer deuten sie vorausschauend an.
Kunstbeschreibungen bürgen für Wahrheit. Bildbeschreibungen stellen Echtheit her, machen den Leser glauben, es werde ein wirkliches, durch Objekte verbürgtes Geschehen erzählt; Bilder belegen die Zuverlässigkeit des Erzählers. Was der Leser mit eigenen Augen sieht, was er in der Vorstellung deutlich wahrnimmt, das verbürgt die Wahrheit des Erzählten viel sicherer als das Gerede eines zwielichtigen Erzählers und seiner nicht minder unzuverlässigen Figuren.
Kunstwerke verweisen auf Künstlichkeit. Durch die Verschränkung von Bildwelt und erzählter Welt wird dem Leser die Gemachtheit des dichterischen Werks vor Augen geführt. Wenn Bilder ihre Gegenstände in die Erzählung freisetzen, dann fordern sie die verunsicherten Leser auf, das Verhältnis ihrer eigenen Wirklichkeit zur erzählten Wirklichkeit zu ergründen.
Kunstwerke motivieren. Kunstwerke lösen Geschehnisse und Handlungen der Figuren aus. Götzenbilder erzwingen Handlungen: Schillers Jüngling im Verschleierten Bildnis zu Sais wird vom Rätsel, das die verschleierte Isis umgibt, zur Lüftung des Schleiers bestimmt. Obgleich das Bild nur vage umschrieben wird, beherrscht es den Betrachter, beherrscht die Ballade, eröffnet den Spannungsbogen und schließt ihn.