Über das Glück, Lieblingsschüler zu haben
Quatsch, wir haben natürlich keine Lieblingsschüler. Wir doch nicht! Unsere Noten würfeln wir eh aus, ohne Ansehen der Person. Am Kaffeetisch, oben im Lehrerzimmer. Wisst ihr doch! So wie bei Kniffel. Juhu, fünf Fünfer! Kaltblütig, leidenschaftslos. Restlos gerecht. Genau: Für uns seid ihr Nummern. Nummern, die sich lediglich durch ihre Position in der Klassenliste unterscheiden. Nach Gauß nivelllierte Schäflein in Schwarzweißgrau. Lieblingsschüler? – Gibt’s nicht! Wir lieben euch alle! Wir sind doch Profis!
Jetzt mal ehrlich: Was soll das Theater? Tut doch nicht so scheinheilig. Grade ihr! Habt ihr denn keine Lieblingslehrer? Ich weiß ja nicht, wie die Kollegen das sehen – ich jedenfalls will Lieblingsschüler haben dürfen. Nur die Ruhe, ich fordere ja kein schulverfassungsmäßig verbrieftes Recht auf Lieblingsschüler. Aber hört mal: Beati omnes esse volumus, wir wollen doch alle glücklich sein. Auch wir Lehrer. Gerade wir Lehrer! Und Lieblingsschüler machen glücklich. Wem das nicht genügt: Lehrerglück verbessert den Unterricht. Wirkt immer! Besser als Fragebögen! Denn für Lieblingsschüler reißt man sich zusammen. Zum Wohle der Allgemeinheit! Lieblingsschüler verhindern Kreidegewitter, erzeugen Dauersonnenschein.
Lieblingsschüler wecken unsere Vergangenheit, erinnern an unsere Zukunft. An unsere Zweifel, unsere Hoffnungen. Daran, wozu wir Lehrer geworden sind. An uns selbst, wer wir sind – oder vielleicht gerne wären. An das Beste in uns. Es wäre doch schön, wenn man sich so etwas auch sagen könnte: Ich möchte dich so sehen, wie du warst, wie du bist, wie du sein wirst! – Du bist frei, so zu sein, wie du sein willst. Man erwartet ja nicht viel. Wir sind Brücken ins Leben; wir vergessen, wir werden vergessen.
Es heißt ja immer, seine Lehrer könne man sich nicht aussuchen – oder: seine Schüler. Völlig falsch! Beides geschieht! Insgeheim sucht ihr uns aus, ihr nehmt nicht jeden, den ihr grade habt. Auch wir wählen, wer unsere gewagten Ideen, unsere waghalsigen Träume ins Leben ruft. Unterricht macht man so oder so. Aber es geht um mehr! Wer den Mut hat, seine Lehrer als Menschen zu sehen, der lernt etwas. Fürs Leben. Etwas Besonderes: Weisheit. Mut. Kritisches Denken. Phantasieren. Philosophieren. Träumen. Richtig, wir sind keine Zen-Meister und keine Gurus. Man muss uns nicht bewundern, uns verbeamtete Kreidehelden mit Bildungsplangewissen. Wer uns so sehen möchte…!
Ihr fragt euch sicher: Wie wird man Lieblingsschüler? Jedenfalls, soviel steht fest, nicht durch Taschennachtragen und Dauerstrecken. Es sind Augenblicke. Oft genügt ein Wort, ein Vers. Eine Träne. Ein Lächeln zur rechten Zeit. Ja, kann sein, vielleicht spielt Eitelkeit auch eine Rolle. Mögen wir nicht die, die uns ähneln? Aber vielleicht ist etwas Anderes wichtiger: Humor. Charakter. Mut, Vertrauen und Offenheit. Interesse. Treue und Mitgefühl. Ein Zusammenstimmen in Schwermut oder Fröhlichkeit. Vielleicht auch die Stärke, sich zu behaupten. Mit Haltung und Herz. Vor allem aber: Die Fähigkeit, echt zu sein – und auch Lehrer als Menschen anzunehmen, ihre Schwächen, ihre Stärken. Und ihr anderen: Behelligt uns nicht mit eurem Hass. Zuneigung ist die stärkste Waffe, die ihr habt. Ihr rennt offene Türen ein. Wohlwollen gehört bei uns zum Geschäft. Wer sich seine Lehrer verdirbt, ist nämlich selbst schuld.
In einer Sache liegt ihr falsch: Lieblingsschüler sind keine Schleimer, keine Streber. Sie werden nicht gehätschelt, nicht gepuscht, nicht bevorzugt. Sie werden härter geprüft, strenger gefordert. Denn Lieblingsschüler sind besonders, außergewöhnlich, unverzichtbar: Rechenkünstler, die nicht berechnend sind. Sensible Pedanten, die aus dem Effeff alle Inselstaaten im Südpazifik aufzählen. Begnadete Chaoten, die in bestürzendem Italienisch drauflosfabulieren. Stille Träumer, die von Mathe, Manna und Morgentau leben. Himmelblaue Seelen, die nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Fromme Schlawiner, die es verdammt nochmal nicht hinkriegen, ihre Anführungszeichen unten zu setzen. Wenn ich’s mir recht überlege, habe ich viele Lieblingsschüler, bin ihnen verbunden durch gemeinsame Erfahrungen, gemeinsames Schicksal. Oft lange über die Schulzeit hinaus.
Was für ein Glück jedenfalls, Lieblingslehrer seiner Lieblingsschüler zu sein! Ins Vertrauen gezogen werden. Anregungen geben, Anregungen empfangen. Verteidigt werden, sich verkämpfen. Unverbrüchliche Treue im Kreuzfeuer. Aber auch: In Frage gestellt werden, herausgefordert sein. Mensagespräche, Pausenplausch. Und dann, vielleicht, Jahre später: Einladungen zum „Faust“ – von Gretchen persönlich. Briefe aus Rom, Postkarten aus Peking. Kaffee, Kuchen, Kaminfeuer; Gespräche über Cicero, Crick oder Camus. Erinnerungen an Tiefpunkte, Nullstellen, Höhepunkte. Erfahren, dass man gebraucht wurde. Dass sich der Einsatz gelohnt hat. Irgendwann, wenn das Leben die feinen Unterschiede einebnet, wird daraus – in gar nicht so seltenen Fällen und allen Vorbehalten zum Trotz– etwas Kostbares: eine dauernde Freundschaft.
Solltet ihr Lehrern eure Zuneigung erklären? Dürfen wir Lieblingsschülern sagen, dass wir sie mögen? Schwierig! Ein solches Bekenntnis ist selten und lässt sich nicht zurücknehmen. Es erfordert Vertrauen. Man muss darauf vertrauen, dass Zuneigung nicht zu Ungerechtigkeit führt. Dass man Schwächen offenbaren darf, ohne verletzt zu werden. Dass man dem andern in Freiheit begegnet und mit Respekt. Das gilt für beide Seiten. Erforderlich ist: der unbedingte Glaube an den Wert und die Würde des jeweils anderen; der Glaube, dass wir einander etwas zu sagen haben, wir Pilgerseelen, die im Ozean der Zeit einander grüßen. Und: Wir müssen bereit sein, diese gefährdete Beziehung zu pflegen. Sie notfalls auch zu verteidigen. Dazu gibt es allzu oft Gelegenheit. Und viele knicken ein, reden sich heraus.
Denn leider sind unsere Lieblingsschüler auch unsere verwundbarsten Stellen. Lindenblätter auf unserer Drachenhaut. Eben will Dr. Siegfried von der Quelle des Wissens schöpfen, schon trifft’s ihn, ein Speer von hinten, durch die Flanke ins Herz. Eine starke Meinung, halb im Scherz, halb im Vertrauen preisgegeben, macht ihn zum Pausenhofgespräch. Oder so: Plötzlich rumort’s in der Klasse von Frau Schniebel-Schnaff. Fritz! Wird er nicht zärtlicher gelobt? Kommt er nicht öfter dran? Ist Fritz nicht länger im Klassenzimmer geblieben neulich? Ja – und das war’s dann. Lebwohl! Lieblingsschüler zu verlieren ist schmerzlich. Ein Verlust, mehr als ein Abschied, oft schwer zu verwinden. Ein kleiner, ein alltäglicher Tod, a road not taken. Manche von uns haken das ab, manche kämpfen ein Weilchen, manche hoffen noch lange. Man kann sie nicht zurückholen, man kann nur die Tür offenhalten. Wer wird ihnen verdenken, wenn sie ausbleiben? Die Messerwerfer stehen bereit, ewig neidisch, ewig selbstgerecht, moralisch überlegen.
Natürlich versucht man, seine Lieblingsschüler zu schützen. Man vermeidet längere Gespräche, achtet darauf, niemanden zu übervorteilen. Lächelt weg, leugnet, grüßt lieber nicht. Man zügelt seine Begeisterung, verteilt Nadelstiche, ruft den Nebensitzer auf. Vor allen Dingen gibt man eines niemals, aber auch wirklich niemals zu: Lieblingsschüler zu haben. Erwartet keine Liste von mir, aber das sei verraten: Ich habe Lieblingsschüler. Ihnen ist dieser Essay gewidmet.