Lehrer als Ressourcen
Bin ich nützlich? Seminararbeiten habe ich korrigiert, Empfehlungsschreiben verfasst, Bücher beschafft; ich habe gemeinsam mit Schülern Bewerbungsrunden überstanden, BOGY-Stellen erobert und Studienplätze. Ich war da, wenn jemand Rat brauchte und Hilfe. Das klingt nach Mühe und Aufwand. In der Tat: Ich werde oft gefragt. Dennoch: Ich glaube, dass ich bedeutend mehr tun könnte. Trauen sich die Schüler nicht, mich zu fragen? Wollen sie mir keine Arbeit aufbürden? Halten sie mich am Ende für ganz und gar untauglich?
Zugegeben: Der Titel dieses Essays hat mir einiges Bauchweh bereitet: Lehrer als Ressourcen! Das klingt nach kühler Verwertung des Menschenmaterials, nach Kalkül, nach Strategie. Fast scheint es, als spräche sich jemand selbst die Menschenwürde ab. Um eine begriffliche Klärung werde ich wohl nicht herumkommen: Ressourcen sind Quellen, denen Güter entfließen, Quellen, aus denen uns Kraft zufließt. Wir kennen den Begriff aus der Wirtschaft: Verfügbare Betriebsmittel bezeichnet er da. Wir kennen ihn aus der Psychologie, wo er Kräfte benennt, die ungenutzt in dir schlummern. Auch in der Schule gibt es den Begriff der Ressource. Schulleiter bangen um Ressourcen, wenn Lehrer ausfallen und das Budget erschöpft ist. Sagt der Lehrer, der Schüler habe noch „Ressourcen“, dann heißt das oft, dass sein Schützling im Grunde stinkfaul ist. Ich schlage euch vor, liebe Schüler, eure Lehrkräfte als Ressourcen zu betrachten – für die Dauer eines Gedankenexperiments.
Stell dir vor, du gehst zu deinem alten Klassenlehrer, weil Englisch dir schwerfällt. Im Unterricht bleiben viele Fragen offen. Ihr setzt euch hin, kommt ins Gespräch, nächstes Jahr willst du in die Ferne – ein Auslandsjahr steht an. Dein Lehrer ist sofort und ohne Zögern bereit, ein Gutachten zu verfassen. Weil er selbst im Ausland war, kann er deine Zukunftsschmerzen ein wenig lindern. Er leiht dir ein Buch, empfiehlt ein Stipendium. Als dein BOGY ansteht, bist du ein wenig nervös – trotz großen Bemühens hast du noch keine Stelle. Er kenne da jemanden, sagt dein Lehrer. Ein Telefonat – und eine Woche später hast du den Job. Seit Jahren kennt ihr einander, immer wieder plaudert ihr – über Fußball, über Schule, über Theodizee oder Rückenweh. Deshalb hilft er dir, weit über das Notwendige hinaus, als deine Mutter erkrankt, als dein Vater arbeitslos wird. Ohne dass du es weißt, wirft er in Konferenzen sein Gewicht für dich in die Waagschale. Du glaubst nicht, dass es solche Lehrer gibt? Es gibt sie, und sie sind gar nicht so selten. In den USA würde man so jemanden als „resourceful teacher“ bezeichnen.
Die Alltagswahrnehmung jedoch erschafft ein anderes Lehrerbild. Lehrer sind Vermittler ungewollten Wissens; sie erteilen Aufgaben, bewerten und benoten. Ihre Existenz ist begründet allein durch ihre Funktion, durch Amt und Lehre, ihre Persönlichkeit ist nicht viel mehr als eine wilde Collage aus markanten Gesten, überreizten Unterrichtsmethoden und platten Lehrersprüchen. Lehrer sind witzig und langweilig, mütterlich oder streng, blättern in Klett oder kommen zu spät. Was sie tun, ist gesetzt, geregelt und vorgegeben. Schon deshalb kommt kaum ein Schüler auf die Idee, im Lehrer mehr zu sehen als den verlängerten Arm der Schulleitung und als Manifestation des Bildungsplans. Der bezeichnende Ausdruck dieser Haltung ist die Fraglosigkeit, mit der viele Schüler in den Unterricht kommen.
Wer es jedoch schafft, im Lehrer mehr zu sehen als den dressierten Affen der Leistungsgesellschaft, der hat einen bedeutenden Schritt getan. Kein Lehrer ist nur der Schulbuch-Uhu, den man aus ihm macht. Selbst Berufsanfänger haben oft schon Einiges hinter sich: Entgrenzung und Experimente, Hoffnung, Eifersucht und Trauer. Sie haben studiert. Einige waren in ihrem Vorleben etwas anderes, haben Zeitungen verkauft oder Alte gepflegt. Die allermeisten kennen Glanz und Scheitern aus eigenem Erleben. Lehrkräfte schließen Versicherungen ab, zahlen Steuern, nehmen Tennisstunden oder backen Macarons. Daraus ergibt sich ihre Eignung als menschliche Ressource. Das wäre leicht zu begreifen, wenn man seinen Standpunkt wechselte: Frage nicht, was der Lehrer von dir will, sondern überlege, was du von ihm willst. Das abgedroschene Schlagwort von der Holschuld der Schüler muss man nicht mögen, es eröffnet jedoch neue Perspektiven.
Ich habe großartige Kolleginnen und Kollegen. Sie haben großes Leid erlebt und große Freude. Sie können viel und haben sich fortgebildet. Sie spielen Cello und machen Kunst oder wären fast beim VfB Stuttgart gelandet. Sie sprechen fließend Spanisch, Türkisch oder Italienisch. Sie sind belesen. Sie haben Häuser renoviert, in Pflegefamilien gelebt, gepredigt, gerockt und gekämpft. Sollte man nicht annehmen, es wäre nützlich, sie zu kennen, wenigstens eine Handvoll hochqualifizierter Akademiker? Man könnte Life Hacks lernen und solide Lebenserfahrung abschöpfen. Dummerweise bleiben diese Talente und Fähigkeiten oft unentdeckt, weil kaum ein Schüler seine Lehrer kennt. Und weil sich kaum einer vorstellen kann, dass sie durchaus zu etwas nütze sind.
Was kann eine Lehrkraft für dich tun? Sie kann dich beraten, in vielerlei Hinsicht– bei allem, was die Schule betrifft, aber auch bei Fragen des Umgangs und des Alltags. Lehrer können neue Türen aufstoßen, können Chancen vermitteln und Strategien. Lehrer können dir Gutachten schreiben, deine Bachelorarbeit korrigieren oder einfach für dich da sein, wenn du im Studium einen nüchternen, wohlwollenden Blick auf dich selbst benötigst. Lehrer können dir Kontakte verschaffen und Arbeitsstellen. Sie können Mentoren sein und Experten. Es liegt allerdings auf der Hand, dass du diese Leistungen nicht einfach so erhältst.
Der erste Schritt ist das Gespräch. Stell Fragen. Auch persönliche! Bitte deine Lehrer um ihre Meinung. Auch Lehrer wollen gesehen werden. Lass sie erklären, wie sie wurden, wer sie sind. Interesse ist ein Trumpf, der immer sticht. Bei aller Diskretion: Du solltest die Biographie deiner Lehrer verstehen. Weil Offenheit auch andere zur Offenheit einlädt, sei dabei auch selbst offen. Zeige, wer du bist und wo du hinmöchtest. Gib den Lehrern zu erkennen, wie sie dir helfen können. Viele Lehrkräfte werden es zu schätzen wissen, dass du sie als Menschen wahrnimmst – und dich gerne beraten. Grenzen gibt es jedoch auch, für dich und für sie.
Eine dieser Grenzen ist der Umstand, dass niemand sich gern ausnutzen lässt. Natürlich liegt im freimütigen Geben das Glück, anderen nützlich zu sein; aber man will doch wissen, dass Mühe und Zeit gut angelegt sind. Auf eine Gabe erfolgt nicht zwingend eine Gegengabe – aber ein Bewusstsein dafür, was es heißt, beschenkt worden zu sein. Ein Lächeln und freundliche Worte sind das eine und sind durchaus willkommen, aber ohne klare Haltung wirst du keine Hilfe erhalten. Dazu gehört, dass du in Notendingen nicht kleinlich sein solltest; hat dich ein Lehrer in der einen Sache unterstützt, solltest du nicht in anderer Sache um Punkte feilschen. Selbstverständlich freut sich der Pädagoge, wenn du Erfolg hast – aber will er sich als bloßes Werkzeug sehen? Immer dann wäre das der Fall, wenn du dich der Lehrkraft nur dann zuwendest, wenn du etwas brauchst, und sie abstreifst, wenn sie ihre Schuldigkeit getan hat. Vergiss nicht: Auch Schüler erziehen sich ihre Lehrer. Hinterlässt du verbrannte Erde, werden andere Schüler es umso schwerer haben, Vertrauen zu säen. Ich wurde nicht oft enttäuscht. Aber es kam vor. Und es hat länger an mir genagt, als ich zuzugeben bereit bin. Reden wir nicht mehr davon.
Vertrauen muss wachsen, langsam und stetig. Beziehungspflege ist wichtig. Sie beginnt mit der ersten Begegnung und hört nicht auf, wenn dein Abschluss überreicht ist. Zumindest gilt das für jene besonderen Lehrer, die an deiner Entwicklung maßgeblich mitgewirkt haben – und die dir wichtig sind. Sei nicht enttäuscht, wenn die Beziehung rasch auskühlt. Nicht jeder Lehrer wird innerlich Anteil nehmen an deinem weiteren Schicksal – für manche ist Zuwendung nur ein Rohstoff, der Klassen gefällig macht und Reibung verhindert. Du siehst schon: Beziehungspflege bedeutet nicht, dass du Lehrertaschen trägst und dem Klassenlehrer zum Geburtstag gratulierst. Wer dich berät, der sollte allerdings erfahren, was du mit dem Rat anfängst; wer dich unterstützt, sollte wissen, was daraus wird. Ziemlich oft stelle ich fest, dass Schüler nicht daran denken, sich zu bedanken. Wichtiger noch als der Dank ist jedoch der Hinweis, wie vergeblich oder wie wirksam die Hilfe war. Zur Beziehungspflege gehört auch, E-Mails zu beantworten – und zwar nicht irgendwann, sondern innerhalb weniger Tage. Vor allem sollte man hilfreiche Lehrer über jeden wichtigen Lebensschritt auf dem Laufenden halten.
Dass wir uns recht verstehen: Hier geht es nicht um Freundschaft. Wir lüften das Visier, aber der Abstand bleibt gewahrt. Was Lehrer für dich zu tun bereit sind, liegt auch in deiner Hand. Es hängt davon ab, wie sichtbar du bist – als Schüler und als Person. Es hängt davon ab, ob du nur um deinetwillen lebst oder höhere Ziele verfolgst. Es hängt davon ab, wie echt du bist – und wie offen. Ganz besonders hängt es davon ab, ob du fragst. Sei also mutig! Wer fragt, dem wird geholfen! Falls du dir Gedanken machst, dass du der Lehrkraft deiner Wahl Umstände machst, dann sieh es so: Helfen macht glücklich, den Helfenden mehr als den, der Hilfe empfängt.
Unabhängig davon gilt: Das Machtgefälle zwischen deinen Lehrern und dir birgt gewisse Gefahren. Lass dich nicht ein auf den Handel mit Gegenleistungen. Nicht jede Erwartung des ist statthaft, manche Forderung kannst du zurückweisen. Auch kleine Gefälligkeiten können rasch zu großen Pflichten anwachsen. Lass dich nie unter Druck setzen lassen. Deine Bitte, dich zu unterstützen, verpflichtet dich zu nichts. Im Gegenteil: Sie ist ein großer Vertrauensbeweis. Umso wichtiger ist es deshalb, dass Unterstützung frei gewährt wird und ohne Bedingungen. Wenn der Lehrer zögert und sich Bedenkzeit ausbittet, ist das in Ordnung. Das ist nichts Ungewöhnliches. Vielleicht hast du ja selbst gezögert, mit dir gerungen – in jedem Fall sollte die Lehrkraft anerkennen, dass du den Mut bewiesen hast, um Hilfe zu bitten.