Beispielinterpretationen: Parabeln und Kurzgeschichten

Wolfgang Borchert: Die Katze war im Schnee erfroren

Überschrift

Interpretation einer Kurzgeschichte: „Die Katze war im Schnee erfroren“ von Wolfgang Borchert

Einleitung

Der Krieg kennt nur Opfer – denn auch die Täter sind Opfer. Diese Mahnung formuliert Wolfgang Borchert in seiner Kurzgeschichte „Die Katze war im Schnee erfroren“, die 1947 bei Rowohlt in Hamburg und Stuttgart erschien. Sie entstammt dem Sammelband „An einem Dienstag“. Borchert zeigt darin, welches Leid leichthin befohlene Untaten bei den Opfern auslösen – und welche Folgen sie langfristig auch für die Täter haben.

Strukturierte Inhaltsangabe

Der Text beginnt mit einer Exposition, die Ort, Zeit und die handelnden Personen benennt. Der erste Abschnitt spielt im Krieg. Der Erzähler schildert eine Szene in einem zerstörten Dorf; der Blick schwenkt hinüber von den wegziehenden Soldaten zu den Bewohnern des Dorfes zwischen ihren brennenden Häusern. Dieser Abschnitt ist – wie die folgenden - ein Erzählbericht. Es wird dehnend erzählt. Auch die Zeitgestaltung überträgt sich auf alle weiteren Abschnitte. Ein Ortswechsel führt den Leser im zweiten Abschnitt zu einem benachbarten Dorf, dem der Überfall noch bevorsteht. Den dritten Abschnitt eröffnet ein weiterer Ortswechsel, der zugleich eine Rückblende bietet. Nun entsteht eine Szene im Quartier des Generalstabs. Ein Schlachtplan wird erstellt, der schließlich zum Überfall auf das erwähnte Dorf führt. Ein Zeitsprung führt in den vierten Abschnitt. „Männer“ (Z. 23), wohl die Soldaten aus dem ersten Abschnitt, machen einen abendlichen Spaziergang. Offenbar können sie die Bilder ihrer Kriegserlebnisse nicht abschütteln. Ein erneuter Ortswechsel kehrt im vierten Abschnitt zu einem der zerstörten Dörfer zurück. Kinder spielen mit Holz und Knochen. Der Text endet pointiert: Er offenbart, dass es sich beim Trommelstab der Kinder um einen Katzenknochen handelt.

Erzählanalyse

Der Erzähler ist auktorial. Er kann erzählen, was an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten geschieht. Er beansprucht jedoch nicht, allwissend zu sein, was man daran erkennt, dass er nur berichtet, was „vielleicht“ geschieht (Z. 16). Die Unbestimmtheit im Ausdruck und die Einfachheit der Sprache lassen den Erzähler naiv wirken, was die Wirkung des Grauens noch verstärkt. Borcherts Stil ist überwiegend parataktisch. Ellipsen wie „Ganz weit ab“ (Z. 22) lassen den Text wie eine mündliche Erzählung wirken.

Hauptteil

Der Erzähler lässt die Szene zunächst friedlich erscheinen: Nicht näher bestimmte Männer gehen summend durch die Straßen eines Dorfs. Erst nach und nach enthüllt der Erzähler, dass es sich um eine Kriegsszene handelt: Das Dorf steht in Flammen, die Dorfbewohner haben ihre Häuser verlassen und stehen im Schnee. Die Formulierung „[d]er Schnee schrie“ ist eine Personifikation, die das Grauen des mutmaßlich Vorgefallenen zum Ausdruck bringt. Die Dorfbewohner betrachten Ikonen, die als „hölzerne Bilder“ beschrieben werden. Die Ausstattung der Bilder „in gold und silber und blau“ steht im Kontrast zur weiß-roten Wirklichkeit des Dorfs. Ihre Hinwendung zum Christus der Ikonen, dem „dem sehr schönen Mann“ (Z. 23) ist vergeblich. So verzweifelt sie ihren vermeintlichen Beschützer ansehen, er wird die Flammen nicht aufhalten: Die Wiederholung des Verbs „brannten“ betont die Dauer und Bedeutung des Vorgangs, vor allem aber dessen Unaufhaltsamkeit.

Im zweiten Dorf, das der Erzähler nach einem Ortswechsel darstellt, wird deutlich, dass die Bewohner und ihre Tiere den bevorstehenden Angriff bereits ahnen: Die Dörfler sehen einander an (vgl. Z. 15) und nicken einander zu (vgl. Z. 16), die „Tierre bums[en]“ gegen die Stallwand“ (Z. 16). Der Neologismus „mondhell“ verstärkt die Wirkung des Bildes vom nächtlich daliegenden Schnee. Die Farbe Weiß dient dabei als Kontrast zum Rot des Feuers und des Bluts. Es handelt sich um eine Symbolfarbe – weiß ist die Farbe der Unschuld.

Nun nimmt der Erzähler einen erneuten Ortswechsel vor. Im Hauptquartier, das er nun schildert, fällt auf, wie beschaulich die Szene wirkt: Leicht wirken die Vorbereitungen zum Angriff – eine Linie wird gezogen, ein Anruf getätigt. Umso brutaler wirkt im Gegensatz dazu die knapp geschilderte Zerstörung des Dorfs mit den „den frierenden schreienden Katzen im rosanen Schnee“ (Z. 20). Die äußere Ferne des Krieges steht im Zusammenhang mit der inneren Distanz der kahlköpfigen Feldherren zu der Zerstörung, die sie anrichten. Der Gesang eines Mädchens, wohl eine Aufnahme, verschärft diesen Gegensatz noch.

Es liegt nahe, in den „Männern“ der sich anschließenden Frühlingsszene Soldaten zu vermuten – vermutlich dieselben, die im ersten Abschnitt als Täter geschildert werden: Auch sie summen, auch sie sind auf der Straße unterwegs. Das Rot der untergehenden Sonne ruft Erinnerungen an den Krieg und den „rosanen Schnee“ (Z. 27) wach. Der Erzähler betont in einer Vorausdeutung, dass sie diese Erinnerungen „nie wieder“ loswerden.

Mit der Schilderung eines Kinderspiels kehrt der nächste Abschnitt ins „halb[e] Dorf“ zurück, das der Krieg übriggelassen hat. Er zeigt die Folgen des Krieges im Kontrast zum Spiel der Dorfkinder. Die Kinder spielen mit Kohle und Knochen – sie haben das Grauen nicht erlebt. Dennoch ist der Krieg allgegenwärtig: Im lautmalerisch geschilderten Trommelschlag, der an Beschuss erinnert, im Trommelschlegel und im verkohlten Holz. Die Pointe, die den Trommelschlegel als Katzenknochen offenbart, ruft die Katzen aus dem ersten Abschnitt zurück: Sie sind das Symbol vergehender Zeit und zugleich eines unvergessenen Grauens.

Schluss

Borcherts Kurzgeschichte zeigt dreierlei: Zum einen wird deutlich, welche Zerstörungen der Krieg bei seinen Opfern hinterlässt; auch Gott, hier in der Ikone gegenwärtig, bietet keinen Beistand. Zum anderen wird klar, dass nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter traumatisiert sind. Zum dritten zeigt Borchert, wie ungerührt die Generalität die Zerstörung befiehlt. Einfühlung in die traumatisierten Soldaten und die geschädigten Dorfbewohner weckt Mitgefühl; dieses Mitgefühl wirkt gegen Propaganda und macht den Leser unempfindlich gegen Kriegshetze. Damit erweist sich Borchert als Pazifist. Die Schilderung der Kriegsgräuel dient vor allem dazu, neues Leid zu verhindern. Borcherts Kurzgeschichte erschien 1947, der Krieg ist gerade zwei Jahre vergangen, Europa liegt in Trümmern. Borcherts Mahnung trifft auf ein Publikum, das einerseits nichts mehr wissen will vom Krieg, andererseits die Kriegsfolgen vor Augen hat. Wie andere seiner Kurzgeschichten macht „Die Katze war im Schnee erfroren“ mit wenigen Strichen, in knappen Worten und mit gellen Bildern klar, dass Krieg kein Militärtheater sondern blutige Realität ist – eine Wirklichkeit, die wir verhindern können.

Wolfgang Borchert: Vielleicht hat sie ein rosa Hemd

Überschrift

Analyse und Interpretation zu Borcherts „Vielleicht hat sie ein rosa Hemd“

Einleitung

Ein Stück Stoff kann ein Träger von Erinnerungen sein. Gerade im Krieg hilft ein Andenken an die heile Welt der Heimat, Halt zu finden und das Erlebte zu verarbeiten. Eine vergleichbare Funktion hat ein rosafarbener Stofffetzen in Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte „Vielleicht hat sie ein rosa Hemd“, der 1947 in Borcherts Prosaband „An einem Dienstag“ erschien. Darin sprechen zwei Weltkriegssoldaten über ein Kriegserlebnis, das einem von ihnen besonders zusetzt. Der Text befasst sich wie viele Kurzgeschichten Borcherts mit den Nachwirkungen, die der Krieg in der Seele vieler Beteiligen hinterlässt. Daneben zeigt Borchert, wie die Kriegserlebnisse Anstand und Mitgefühl zerstören.

Strukturierte Inhaltsangabe

Der Einstieg beginnt mit einer knappen Exposition (Z. 1-5), die eine dehnende Beschreibung der Ausgangssituation liefert: Zwei ehemalige Soldaten beobachten das Straßenleben. Den Hauptteil der Kurzgeschichte nimmt eine längere Erzählszene ein (Z. 6-51,) die der Erzähler mit kurzen Schilderungen unterbricht. Mehrere Personen und Personengruppen passieren die Soldaten, was zeitdeckend erzählt wird; die beiden jungen Männer kommentieren Aussehen und Wirkung der Vorübergehenden. Der Wendepunkt ist erreicht, als ein junges Mädchen vorübergeht (Z. 17), das die Aufmerksamkeit der beiden erregt. Einer der beiden, Timm, erzählt daraufhin eine Episode, die sich an der Ostfront ereignet habe. Er habe einem ehemaligen Mitsoldaten ein Andenken an die Geliebte in der Heimat abgenommen; dieser sei verspottet worden und habe den Talisman weggeworfen. Am Tag darauf sei er gefallen. Im pointierten Ende (Z. 52-55) offenbart der Erzähler, dass Timm das erwähnte Andenken auch jetzt noch bei sich trägt.

Erzählanalyse

In Borcherts Kurzgeschichte herrscht eine personale Erzählsituation vor, wenngleich der Erzähler nicht konsequent einer Perspektivfigur zugeordnet wird, sondern wie ein naher Beobachter der Szene wirkt. Die Erzählszene wird jedoch durch Einwürfe eines auktorialen Erzählers unterbrochen, der vom Frieren beider Figuren weiß und ganz offenkundig auch einen „Asthmatiker“ unter den vorbeigehenden Männern erkennt (Z. 15-16).

Analyse und Interpretation

Die geschilderte Situation ist unterschwellig emotional: Die von starken Gefühlen begleiteten Sätze sind oft auf das Äußerte verknappt; wo der Satzbau nicht parataktisch ist, wird er oft elliptisch.

Zwei Weltkriegsveteranen stehen im Regen an einem Brückengeländer. Die beiden ehemaligen Soldaten sind dürftig bekleidet – man hat sie buchstäblich im Regen stehen lassen und setzt sie der Kälte aus. Ob sie obdachlos sind oder lediglich müßig herumstehen, das erfahren wir nicht. Sie tragen jedenfalls dünne Hosen und spüren das eisige Brückengeländer (vgl. Z. 1-2). Offenbar stehen sie schon länger da: raffende Wiederholungen, die das Kommen und Gehen des Regens andeuten, betonen die Länge des Aufenthalts; ebenso die Wiederholung des Verbs „sitzen“ (Z. 1, 3, 4). Ihr Blick gilt vor allem den Mädchen – hier bereitet der Erzähler das folgende Geschehen vor.

Zynisch kommentieren sie zunächst zwei Frauen im Hinblick auf deren Attraktivität. Ihre Sprache spiegelt in Knappheit und derbem Humor das Leben an der Front; beide reduzieren die Frauen auf ihre Körpermerkmale. Die eine hat einen „ganz schönen Balkon“, also große Brüste, die andere ist schon etwas älter: „Steinzeit“ und „voll Spinngewebe“ (Z. 11-129.

Der Erzähler schildert nun aufzählend die vorbeigehenden Männer als Berufs-, Gang- und Körpertypen, ohne ihnen über die augenblickhafte Wahrnehmung hinaus besondere Bedeutung zuzumessen.

Das Erscheinen eines jungen Mädchens regt die beiden Beobachter, die der Erzähler mit „man“ einbindet. In der Phantasie der beiden Männer duftet sie verführerisch nach „Pfirsich“ und „sauberer Haut“, ein Symbol der Erotik, ebenso wie der französische Name Evelyne (Z. 20). Insbesondere Timm spekuliert darüber, dass sie wohl ein „rosa Hemd“ habe (Z. 23) und verteidigt seine Auffassung heftig. Die peinliche Stille, die nach Timms Ausbruch folgt, wird durch das Motiv der Kälte erlebbar, das der Erzähler hier wiederaufnimmt: „Das Brückengelände war eisig durch die dünnen Hosen“ (Z. 29). In einem längeren Gesprächsbeitrag, der durch Ellipsen und sprachliches Verschleifen umso alltagssprachlicher wirkt, bekennt er seine Schuld. Einen Kriegskameraden habe er bloßgestellt, indem er dessen „Talisman“ hochgehalten habe, „son Stück rosa Zeug“ (Z. 29-30). Dieser habe den Talisman daraufhin entsorgt. Auch, dass Timm beim Erzählen auf seine Knie sieht, zeigt seine Reue. Denn den anderen, das betont er durch eine Epipher, habe es „erwischt“ (Z. 46).

Das nachfolgende Schweigen markiert den Höhepunkt, ehe Timms Gesprächspartner die Geschichte als „Blödsinn“ abtut, eine Abwehrreaktion (Z. 47). Dass Tim dennoch verunsichert ist, zeigt die Repetitio des umgangssprachlichen Adjektivs „komisch“, das er dem Geschehen zuweist.

Mehrdeutig ist nun das geschlossene Ende der Kurzgeschichte. Beide lachen zunächst, um die Beklommenheit loszuwerden, die Timms Geschichte auslöst (vgl. Z. 52). Dann stellt sich heraus, dass Timm das rosafarbene Stück Stoff aus Russland mitgebacht hat und nun aufbewahrt. Warum er den Stofffetzen bei sich trägt, ist unklar. Es könnte sein, dass er seine Schuld nicht loswerden kann und deshalb das „rosa Hemd“ mitführt. Denkbar ist auch, dass er Ähnliches erlebt hat und das „rosa Hemd“ als Symbol bei sich trägt – oder dass er in seiner Erzählung einen Rollentausch vornimmt und im Grunde seine eigene Geschichte erzählt, ist durchaus möglich. Auch dass er es selbst als Talisman verwendet hat, ist nicht auszuschließen. Eine letzte Möglichkeit wäre, dass das Mitführen des Stoffs Timms Sehnsucht nach Nähe befriedigt.

Schluss

Borcherts Erzählung befasst sich mit den Folgen, die der Krieg für die Beteiligten hat: Sie sind materiell arm geworden und auch seelisch verroht. Sie zeigt aber auch, wie Menschlichkeit auch die Gräuel eines Krieges übersteht. Wir wissen nicht, warum Timm den vermeintlichen „Talisman“ mitnimmt, aber wir erleben ihn als schuldbewusst. Diese Schuld ist nicht in einer Handlung begründet, sondern im Entsetzen über sein moralisches Scheitern. Weil er nicht abschließen kann, behält er das sichtbare Symbol seines Versagens. Ebenso ist denkbar, dass ihn – den Einsamen – diese Liebesgabe berührt hat, ihn wärmt; auch das könnte ein Grund sein, weswegen er das „rosa Hemd“ mitführt. Als Leser empfinden wir dieses Schuldgefühl, wenn sich Timms Hand krampfhaft um den Talisman schließt – wir sind aufgefordert, es uns nicht zu leicht machen, wenn wir Kriegsteilnehmer beurteilen. Die Knappheit im Ausdruck, die Einfachheit des Satzbaus spiegeln die Erschütterung der ersten Nachkriegsjahre – Borchert erzählt in „Vielleicht hat sie ein rosa Hemd“ vom Alltag heimgekehrter Soldaten zwischen den Trümmern zerstörter Städte.