Kunst
Exotistische Kunst
Exotistische Kunst hat eine zweifache Aufgabe: sie bildet fremde Kulturen ab und dient der Verständigung der eigenen Kultur über sich selbst. Dies leistet sie, indem sie deren Teilbereiche in einer anderen Wirklichkeit darstellt. Sie bildet also eine fremde Kultur ab, deren Teilbereiche sich in einer Weise anordnen, die sich vom Eigenen deutlich unterscheiden. Zugleich ist sie selbst ein Teilbereich der eigenen Kultur und stehen mit anderen Teilbereichen im Wechselspiel. Zuweilen eignet sich die Kunst fremde Deutungsmuster an und baut sie in der eigenen Kultur nach. Häufiger noch versucht sie, das fremde Kunstwerk in die eigene Kultur einzufügen und mit vertrauten Deutungsmitteln zu erschließen. Daraus ergeben sich zwei Standpunkte: der relativistische, der fremde Kunst auf die Kultur bezieht, aus der sie stammt, und der universalistische, der Fremdes und Eigenes in ein Ganzes einordnet, das beides gleichermaßen umfasst. Wer nun meint, dies Ganze sei wie das Eigene geordnet, der verhält sich ethnozentrisch. Lichtenberg etwa kreidet der chinesischen Malerei an, sie scheitere am Darstellen der Fluchtpunktperspektive. Dieser Vorwurf ist in der Chinaliteratur bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ständig wiederholt worden, etwa in Alma M. Karlins Mein kleiner Chinese von 1921. Er setzt voraus, dass sich auch die chinesische Kunst der Fluchtpunktperspektive bedienen müsse, dass sie sich, mit anderen Worten, der Geometrie zu unterwerfen habe. Die Kategorie der geometrischen Stimmigkeit wird zur Universalie: an ihr gemessen ist chinesische Kunst geringrangig, weil die Bildfiguren nicht der Logik des gefluchteten Raums gehorchen. Wäre Lichtenbergs Maßstab die Bedeutungsperspektive gewesen, hätte die europäische Kunst als minderwertig gelten müssen, weil die dargestellten Figuren nicht ihren Rollen entsprächen. Europäische Kunst beruft sich auf den Teilbereich der Geometrie, die chinesische auf den Teilbereich der Herrschaft. Exotismus in der Kunst hat also grundsätzlich drei Merkmale: Annahmen über den Teilbereich der Kunst in einer fremden Kultur, Annahmen über das Verhältnis der Teilbereiche in dieser Kultur, und zuletzt Annahmen über das Verhältnis der fremden zur eigenen Kultur.
Exotische Kunstwerke sind nur solange exotisch, bis sie mit den Mitteln westlicher Kunstdeutung aufgeschlossen werden, das heißt, bis ihnen jene Geschichte umgehängt wird, mit der man auch die namhaften Werke der eigenen Kultur bekleidet. Gesucht wird ein Hersteller, ein Entstehungsraum und eine Entstehungszeit, ermittelt durch Zuschreibung, Lokalisierung und Datierung. Weitere Bestandteile der Werkbeschreibung sind neben der Zuweisung eines Anlasses und Zwecks, der Bestimmung möglicher Quellen die Klärung der Bildgegenstände. Exotische Kunstwerke sperren sich diesen Zumutungen jedoch bis zu ihrer endgültigen Aneignung:
- Sie haben keinen namentlich feststellbaren Erzeuger oder stammen von Erzeugergruppen.
- Die Regeln ihrer Gestaltung entsprechen nicht den anerkannten Gesetzen der jeweiligen Kunstform.
- Über ihren Herkunftsort und dessen kulturelle Verfassung ist nichts oder wenig bekannt.
- Die abgebildeten Gegenstände sind unbekannt, mithin selbst exotisch.
- Über die Art der Leseweise ist nichts bekannt, Deutungen können weder bestätigt noch bestraft werden.
- Auf der Ebene der Darstellung bleiben sie stumm, lassen sich nicht an Texte anbinden.
- Sie sind geschichtslos.
- Ihre Herstellungsart und die dazu gebrauchten Werkzeuge sind weitgehend unbekannt.
- Ihre Bestimmung in der Herkunftskultur ist weitgehend unbekannt.
Zumindest der Materialwert und der Alterswert mancher exotischer Kunstwerke waren auch in wilhelminischer Zeit unbestritten. Je nach Ausführung wurde zuweilen auch ästhetischer Wert unterstellt, eines ist bis heute zweifelhaft: der Kunstwert, die einem Kunstwerk zugebilligte Eigenschaft, keiner bestimmten Anwendung zu entsprechen. Im Vordergrund der Betrachtung steht zunächst der Kultwert des exotischen Gegenstands, seine scheinbare Magie. Dies ist der fundamentale Unterschied zur europäischen Kunst, die weitgehend entheiligt ist und ihre Zauberkraft eingebüßt hat. Jedoch nicht ganz: die vorgetäuschte Wirklichkeit des Bildes verführt zur Annahme, es könne in geheimnisvoller Wechselwirkung mit der eigentlichen Wirklichkeit stehen, die, platonisch gewendet, ihrerseits ein bloßes Bild, nur täuschender Schein ist. Dorian Gray und sein Portrait geben davon Auskunft. Die literarische Entfesselung der Bildmagie gelingt beim exotischen Kunstwerk deshalb so vollkommen, weil es nicht dem Bann der Ästhetik unterliegt, der die Grenze schützt zwischen der vorgetäuschten Wirklichkeit des Bildes und der erfahrenen Wirklichkeit des Betrachters. Der Betrachter weiß in diesem Falle eben nicht, "dass er einem Kunstwerk und nicht einem sakralen Fetisch oder einem profanen Gebrauchsgegenstand gegenübersteht", die Grenze zwischen "erster und zweiter Welt, zwischen Realität und Fiktion" bleibt unbestimmt. Gegenläufig dazu entsteht recht bald das ikonographisch treffende Beschreiben, das sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bereits auf die Vorarbeiten geschulter Orientalisten stützen kann und bald in den Baedeker eingeht. Der Erzähler Elisabeth von Heykings lässt zwar, als er eine ausländische Dame, eine "Taitai", mit dem Chinachristen Tschun in einen buddhistischen Tempel führt, keines jener Schauerbilder aus, die in anderen Chinaromanen nachhaltiges Entsetzen auslösen oder gar lebendig werden wie die Guanyin Döblins, er entschärft sie jedoch durch den touristischen Blick der völkerkundlich gebildeten Dame, die dank Kodak und Skizzenblock gegen Bilderzauber jeder Art gefeit scheint. Jenes prickelnde Grauen, das die im Dunkeln des "chinesisch-kuriosen" Raums zu ahnenden "phantastisch fratzenhaften Gestalten riesiger Götter" auszulösen vermögen, jene Lust am Grotesken zerfällt in jenem Augenblick, als die Taitai lacht. Kein Zweifel an der Künstlichkeit der Bilder bleibt zurück, wenn die Europäerin den Mönchen, "Geschorenen mit den gelben Wachsgesichtern", die Deutung der chinesischen Hölle abzulauschen versucht. Gebannt ist die Kraft der heiligen Bilder, wenn sie schließlich beim Abendmahl zum Gegenstand gepflegter Unterhaltung werden.
Völkerkunde und Kunst sind zwei Felder, die sich in Deutschland, anders als in den USA, auch heute noch nicht berühren. Indonesische Buddhas oder afrikanische Masken wird man neben Altdorfer und Cranach in deutschen Kunstmuseen jedenfalls vergebens suchen. Das verwundert. Guillaume Apollinaire hatte in seiner Schrift über Museen bereits 1909 dazu aufgerufen, "gewisse exotische Meisterwerke" in den Louvre aufzunehmen, sie seien nicht weniger bewegend als ihre westlichen Gegenstücke:
"Il faudrait aussi faire un effort en faveur de certaines manifestations artistiques que l`on a complètement négligées jusqu`ici. ["¦] Jusqu`à présent on n`a guère admis les œuvres d`art issues de ces pays dans les collections ethnographiques où elles ne sont conservées qu`à titre de curiosité, de document, pêle-mêle parmi les objets plus vulgaires, les plus communs et parmi les productions naturelles de leurs régions. Le Louvre devrait recueillir certains chef-œuvres exotiques dont l`aspect n`est pas moins émouvant que celui des beaux spécimens de la statuaire occidentale. Il y a longtemps déjà qu`un grand nombre des artistes ne cachent plus leur admirations pour les sculpteurs inconnus du Congo, pour la précision passionée de quelques ouvrages des Canaques ou des Maoris."
Bis dahin waren exotische Kunstwerke lediglich Kuriositäten gewesen, erst die Publizistik der Indépendants bewirkte, dass man afrikanische Holzskulpturen oder indische Steinbilder ernsthaft als Kunstwerke zu betrachten und auszustellen begann. Die Forderungen Apollinaires sind deshalb so revolutionär, weil er die Bildwerke der Wilden als Kunst ansprach. Er fordert den Übergang vom neugierigen Gaffen zum erkennenden Schauen, von der wissenschaftlichen Aufbereitung im Völkerkundemuseum zur künstlerischen Darbietung in der Kunstgalerie. Solcherlei Gedanken finden sich oft in der Kunstliteratur jener Zeit. Der amerikanische Künstler und Schriftsteller Gelett Burgess hielt nach einem Besuch im Salon fest:
"It was an affording quest, analyzing such madness as this. I had studied the gargoyles of Oxford and Notre Dame, I had mused over the art of the Niger and of Dahomey, I had gazed at Hindu monstrosities, Aztec mysteries and many other primitive grotesques; it had come over me that there was a rationale of ugliness as there was a rationale of beauty; that, perhaps, one was but the negative of the other, an image reversed, which might have its own value and esoteric meaning. Men had painted and carved grim and obscene things when the world was young. Was this revival a sign of some second childhood of the race, or a true rebirth of art?"
Heftig waren allerdings die Reaktionen, als in Dresden die ersten kubistischen Plastiken gemeinsam mit afrikanischen Skulpturen ausgestellt wurden. Als "Irrweg" bezeichneten Kritiker wie Emil Waldmann das kubistische Verfahren und die afrikanischen Objekte als "elende Erzeugnisse einer im Dschungel steckengebliebenen ägyptischen Provinzkunst". Zuvor war die Ausstellung bereits in Berlin zu sehen gewesen, wo sie nicht minder übel beleumundet wurde, hauptsächlich zu Lasten Picassos. Den afrikanischen Skulpturen hingegen unterstellte der Kunstkritiker Karl Scheffler, es sei ihnen wenigstens die Schaffenskraft der Natur anzumerken. Schon 1902 hatte Karl Ernst Osthaus im neuen Folkwang-Museum in Essen außereuropäische und moderne europäische Kunst zusammengeführt, ohne dass dies allzu großen Anstoß erregt hätte. Auch die Entdeckung der Kinderkunst durch Ricci im Jahr 1906 förderte die Anschauung, dass die Kunst der Primitiven nicht mehr als rückschrittlich zu betrachten sei. Wie aber nahm das schaffende Publikum in Deutschland die "Negerplastik" auf? Die Münchner Expressionisten, der Blaue Reiter und die Brücke begrüßten die neuen Formen überschwänglich, die akademische Kunstgeschichte – mit wenigen Ausnahmen – diffamierte und pathologisierte sie. Sein Erlebnis des Fremden, durch die Darbietung im Völkerkundemuseum keineswegs gemildert, beschreibt Franz Marc seinem Künstlerfreund August Macke in einem Brief vom 14.1.1911, den ich stellvertretend für viele andere Zeugnisse zitiere:
"Ich war sehr ausgiebig im Völkerkundemuseum, um die Kunstmittel `primitiver Völker` (wie sich Koehler und die meisten Kritiker von heute ausdrücken, wenn sie unsere Bestrebungen charakterisieren wollen) zu studieren. Ich blieb schließlich staunend und erschüttert an den Schnitzereien der Kameruner hängen, die vielleicht nur noch von den erhabenen Werken der Inkas übertroffen werden."
Ein "anderer Mensch" sei er geworden, fährt Marc fort, er habe angefangen zu "begreifen, auf was es für uns ankommt, wenn wir uns überhaupt Künstler nennen wollen." So euphorisch freilich äußern sich nur wenige Künstler, die nahezu ausnahmslos vom warmen Schoß der Mimesis in die Abstraktion streben. In der Reiseliteratur hingegen ist es auch nach der Jahrhundertwende noch durchaus üblich, die künstlerischen Erzeugnisse fremder Völker zwar ikonographisch treffend zu beschreiben, dabei aber mit wenig Wertschätzung an den Tag zu legen. Lange noch sind chinesische oder indische Tempelskulpturen "ungeheuerlich" oder "scheußlich", bestenfalls "phantastisch". Genschow etwa, als Dolmetscher-Offizier nach China gelangt und in seiner Beschreibung der Chinesen nicht zimperlich, schreibt über einen buddhistischen Tempel, der ihm zugleich als Herberge diente:
"Der Tempel machte wie alle übrigen im Reiche der Mitte durchaus nicht den Eindruck der Heiligkeit. Ein scheunenartiger Bau, finster und schmutzig, liegt er gewöhnlich in einem Winkel oder an einem Eingange des Ortes. Scheußliche Götzenbilder stehen umher, Weihrauchdunst erfüllt die Räume."
Als Bildunterschrift der dazugehörigen Lithographie, abgebildet sind zwei hockende männliche Figuren, steht bei Genschow kurz und bündig: "Götzen." Das heißt nicht, dass es nicht auch Reisende gegeben hätte, die der Kunst Chinas offen gegenüberstanden. Der preußische Professor Bockenheimer, der den 1909 veröffentlichten Bericht seiner Fahrt Rund um Asien bezeichnenderweise dem Afrikaforscher Adolf Friedrich von Mecklenburg widmet, beschreibt ausführlich die Kunstfertigkeiten der Chinesen in der Porzellanherstellung, in der Lackverarbeitung und insbesondere auch in der Malerei. Bockenheimer mutmaßt, Mängel im Verständnis chinesischer Tuschbilder seien durch vermehrte Kenntnis der chinesischen Kultur und Geschichte zu beheben.
Es scheint, als habe der Kunstbetrieb der Jahrhundertwende und der ersten beiden Jahrzehnte, sieht man von den Künstlern der Avantgarde ab, keine Vermengung exotischer und europäischer Kunst geduldet. Dies kann auch daran gelegen haben, dass man europäische Kunst auf übergeordnete Werte bezog, während man die Kunst der Wilden als Teil einer Stammesüberlieferung ansah. Ich möchte nun darstellen, wie sich völkerkundliche Darbietung und Kunstschau unterschieden und in vielen Dingen noch heute unterscheiden.