Ritter des Rotstifts
An die mitleidigen Blicke meiner Oberstufenschüler habe ich mich gewöhnt – und an das Mitleid meiner Sport-, Musik- und Kunstkollegen auch. Ich weiß, dass es nicht angenehm ist, einer Horde blutgrätschender Trolle oder klecksender Klabautermänner Einhalt zu gebieten. Aber mein Fatum sind und bleiben die Aufsätze. Die Korrekturen!
Ich finde, ein wenig Mitleid habe ich schon verdient, wegen der unsäglichen Mühen des Korrigierens. Wer nach siebzigstündigem Rotstiftmarathon hervorkroch aus einem kafkaesken Haufen verwirrender Manuskripte – der weiß, wovon ich spreche. Verstaubt, ergraut, die Augen rotgerändert, so hebt sich der Deutschlehrer in einem Duft von Schweiß und Coffea arabica aus seiner Qual. Wer hätte nicht gerne, zumindest einmal, den ganzen Kladderadatsch verbrannt, unter grausam sardonischem Gelächter?
Natürlich könntet ihr auch etwas größer schreiben, ihr Schüler, den Schreibarm auf Arial 18 einstellen. Natürlich könntet ihr euch des lateinischen Alphabets bedienen statt kurios krakeliger Arabesken. Natürlich wäre denkbar, dass Korrekturränder eingehalten und Fressränder beseitigt würden. Es geschieht aber nicht. Warum auch? Wer würde dafür etwas abziehen? In Deutsch!
Hat man sein Werk vollendet, tritt man also irgendwann ans Pult (als ob es noch Pulte gäbe auf dieser Welt!) und wirft den gewichtigen Stapel mit ebensolcher Miene und kalkuliertem Effet auf den erstbesten Schülertisch. Wie glänzen die unzähligen Siglen, Kommentare, Interlinerarglossen, die gewellten, doppelten, unterbrochenen und zitternden Linien, teils freihand komponiert, teils sorgsam geplant mit dem Plastiklineal! – Aber nichts davon interessiert den Schüler, nichts! Er sieht die Note, achselzuckend, lässt das Produkt unserer gemeinsamen Mühen achtlos und mit müden Blicken in seiner lappigen Tasche verschwinden. Und dafür habe ich anderthalb Stunden über deinem Text gebrütet?
Immer wieder liest man von schier unglaublichen Ereignissen beim Korrigieren. Mir passiert dergleichen nicht. Gut, einmal hat der Westwind (breath of autumn’s being) einen Elfer-Aufsatz in die Wassertonne geweht, ich muss mir aber zugutehalten, dass ich ihn noch zur Hälfte bergen konnte. Kaffeeflecken, Rotweinflecken, Soßenflecken – das kommt vor.
Wo habe ich nicht schon korrigiert? Im Zug nach Süden, am Esstisch, im Auto, auf Geburtstagsfeiern und beim Leichenschmaus. Noch bei meiner eigenen Beisetzung werde ich wohl den angelsächischen Genitiv dreifach unterstreichen.
Hin und wieder fragen Schüler mich, ob ich sie vor mir sehe beim Korrigieren – ob ich etwas empfinde? Zugegeben, oft komme ich ohne Augenrollen aus und ohne Haareraufen. Ich habe aber durchaus ein lebendiges Bild des Verfassers vor Augen – oder der Verfasserin. Ich sehe, wie sich bei A mühsam Buchstabe an Buchstabe reiht, wie die Feder kratzt; B sehe ich mit der Präzision eines Laserdruckers Sätze ins Papier stanzen; C sehe ich mit orgiastischen Schwüngen ihre Meinung zu Papier bringen. Und, ja – ich höre euch! Ich höre euch raunen und murmeln, wenn ich korrigiere, höre euch unsichere Hypothesen vortragen und knallharte Fakten. Euer Stil verrät mir mehr über euch, als ihr denkt! Cringe!
Manchmal, aber viel zu selten, muss ich schallend lachen. Über Fehler. Zuletzt ist mir das während einer Neunerklausur widerfahren, bei der ich Achter-Hefte vor mir liegen hatte. Und noch etwas sei zugegeben, was ihr vielleicht schon ahnt: Eure lustigsten Fehler schicken wir uns auch gegenseitig zu. Ein schwacher Trost zwar, eine halbgare Genugtuung, aber besser als nichts – dass unzweifelhaft Falsche entschädigt uns für die Zwänge unseres oft zweifelhaften Geschäfts.
Zweifelhaft ist unser Geschäft vor allem aus Schülersicht. Nicht selten werft ihr uns ja Geschmäcklertum vor! Als ob wir die Wahl hätten, es uns leicht zu machen! Eine Deutschkorrektur erfordert ein hohes Maß an Konzentration, Stil- und Sprachvermögen. Kein Wunder, dass viele Kollegen nur noch Rechtschreib- und Kommafehler anstreichen. Über Geschmack will man sich nicht streiten, und vielen ist es wurscht, wie der Schüler seine Sätze frisiert. Dass es gerade auf Satzbau, Stil und Ausdruck besonders ankommt – sei’s drum!
Die Geschwindigkeit beim Korrigieren ist dem Deutschlehrer, was anderen ihr Hubraum ist und den dritten ihr Handicap. Dabei ist eines paradox: Während der Schnellkorrektor sich des Beifalls seiner Kollegen erfreut (und auch der Schüler, in dieser Hinsicht nicht verwöhnt), kann auch der Langsame Ruhm erwerben. Ich habe bei Deutschlehrersitzungen schon spektakuläre Überbietungswettbewerbe erlebt, aus denen am Ende jener Kollege als Sieger hervorging, der nach eigenen Angaben zweieinhalb Stunden brauchte für seine Bemühungen, pro Aufsatz, versteht sich. Ich dagegen halte eine gute Stunde für realistisch. Wer seine Oberstufenkorrektur weiter ausdehnt, ist selbst schuld. Außerdem ist zu beachten: Wer mehr als drei Arbeiten in Folge korrigiert, riskiert geistige Zerrüttung.
Wie kommt es in der Korrekturgeschwindigkeit zu solch krassen Unterschieden? Außer den Faulen und den Aufschiebern gibt es im Wesentlichen zwei Typen von Korrektoren: Die Aufsätzchen-Schreiber und die Tabellen-Macher. Die ambitionierte dritte Gattung schreibt zu ihren Tabellen Aufsätzchen. Das eine Verfahren nennt sich kriteriengestützt, das andere holistisch. Interessanterweise ist das Ergebnis meist dasselbe. Scharf formuliert bedeutet das: Ich könnte mir den ganzen Mist sparen, den Erwartungshorizont, das Punkteverteilen und Austarieren. Denn: Ich könnte die Note ja auch, rein theoretisch, fühlen!
Das allerdings, liebe Schüler, würde euch in eurer Meinung bestärken, Deutsch sei ein Lotteriespiel. Dieser Meinung setze ich entgegen: Rotstift, Schweiß und Tränen. Wir kämpfen um jede Note, bis wir als Ritter des Rotstifts in den Sonnenuntergang reiten!