Kalmus

Acorus calamus L.

Acoraceae

I - Trivialnamen:

ALLG.: Kaninchenwurzel, Karremanswurz(el) (volksetymologische Umdeutungen zu Kalmuswurzel), Schwertheu (Blattform), Magenbrand, Magenwurz (Verwendung als Heilpflanze; daraus wohl verschrieben Nagenwurz), Ackerwurz (aus lat. acorus, mit Angleichung an deutsch Acker), Würtzriedt oder Gewürzkalmus (Übersetzungen von Calamo aromatico), Rotting und vereinzelt Zehrwurz (sonst Arum maculatum); HAMBURG: Ackermagenwurz, Ackermann, Ackermannswurzel ; OLDENBURG: Bajonnetstangen, Sabels; SCHLESIEN, ÖSTERREICH: Brustwurz, ST. GALLEN: Chalmis, BREMEN: Kalms, BERN: Kalmus, Kalmuswürzen, OSTFRIESLAND: Karmeswurzel, Karmsen, Runksigge, Sigge, Sierg (Aurich), NORDHESSEN: Schiemen, BÖHMEN: Kalkan

II - Etymologie:

Proto-IndoE.: *kole-mo > altgr. κάλαμος (kalamos = Rohr) > lat. calamus > mhd. Kalmus, kalmuz > nhd: Kalmus

III - Weitere Sprachen:

ENGL: sweet flag, calamus, beewort, bitter pepper root, calamus root, flag root, gladdon, myrtle flag, myrtle grass, myrtle root, myrtle sedge, pine root, rat root, sea sedge, sweet cane, sweet cinnamon, sweet grass, sweet myrtle, sweet root, sweet rush, sweet sedge --- FRZ: acore, roseau aromatique, acore aromatique, acore odorant, acore vrai, acori, acrois, galanga des marais, roseau odorant --- IT: acoro; calamo aromatico --- KAT: càlam --- LIT: ajeras --- POLN: tatarak; kalamus; lepiech; tatarskie ziele; (bot.) tatarak zwyczajny; (reg.): ajer --- PORT: cálamo; cana-cheirosa --- RUM: obligeană --- RU: аир (aír) --- SCHWED: kalmus --- SLOWAK: puškvorec --- SLOWEN: kolmež --- SPAN: ácoro; cálamo aromático --- UKR: аїр (ajír), татарське зілля (tatárs’ke zíllja); лепеха (lepechá); (dial.): аєр (ajér); лепех (lépech) --- BULG: ратанова палма (ratanova palma) --- ISL: kalmusrót --- JAP:菖蒲 (shoubu) --- NL: kalmus, zwanenbrood --- HINDI: bach, ghorabach, safed-bach --- ASSAM: themepru --- BENGAL: bach --- GUJARAT: ganghilovaj --- KANNAD.: bajegida --- MALAYALAM: vashampe --- MARATHI: vekhand --- SANSKR: bhuta-nashini --- TAMIL: vasambu --- TELUGU: vasa --- PAWNEE: kahtsha itu (Medizin, die im Wasser liegt) --- OSAGE: peze boao ka (flaches Kraut) --- LAKOTA: sinkpe tawote (Bisamratten-Futter-Wurzel), sunkace (Hundepenis)

IV - Sprache:

Vom gr. Etymon κάλαμος (Schilfhalm, Rohr) leiten sich zahlreiche Begriffe her, die mit dem Pflanzennamen Kalmus jedoch nur durch die Herkunft verwandt sind: der Karamel, die Kalamari, arab. قلم qalam (Stift, Rohrfeder), Kalumet (Friedenpfeife, häufig aus Rohr), Kalamitäten (Misswuchs des Getreides, übertragen: Notlage).

V - Literatur:

LIT: Altägyptische Literatur: Kalmus erwähnt im Chester Beatty Papyrus VI (1500 v. u. Z.) --- Altes Testament: Jesaja 43, 20: „mir hast du nicht um Geld Kalmus gekauft“ --- Ezechiel 27,19: „Dan und Javan und Mehusal haben auch auf deine Märkte gebracht Eisenwerk, Kassia und Kalmus, daß du damit handeltest.“ --- Hohelied 4, 14: Vergleich der Geliebten mit einem Garten: „Narde und Safran, Kalmus und Zimt, mit allerlei Bäumen des Weihrauchs, Myrrhen und Aloe mit allen besten Würzen.“ --- Exodus 30, 23: „Nimm zu dir die beste Spezerei: die edelste Myrrhe, fünfhundert Lot, und Zimt, die Hälfte soviel, zweihundertfünfzig, und Kalmus, auch zweihundertfünfzig“ --- Walt Whitman: Calamus (Zyklus aus Leaves of Grass) --- Peter Rühmkorf: Naturlyrik (Gedicht): Kalmusduft kommt wild und würzig --- Karl Wilhelm Ramler: Lied der Nymphe Persante (Ode): „Ihm selbst will ich, wann er den Strand begrüsset, / Auf seine Wege Kalmus streun / Und Muscheln“ --- Lovis Corinth: Legenden aus dem Künstlerleben: Aus meinem Leben, S. 20 f.: „‚Hi, hi, hi Kal! dree Bund fer en Penn!‘ sangen Jungens, die Kalmus feilboten zum Auslegen der Stubendielen.“ --- Hugo Ball: Tenderenda der Phantast (Roman): „Er [der Journalist Lilienstein] nährte sich von Kalmus, Kefir und Konfekt.“ (I, Satanopolis, 388) --- Clemens von Brentano: Am 17. Mai 1817 (Gedicht; d. Lyr. Ich ist Gott selbst): „Pilger wenn die Sehnsucht singt / Und ein Kind die Ärmchen schwingt / Fliegen möcht', ein Nestchen bauen / Brüten in des Kalmus Rohr / Schau du so zum Kreuz empor / Daß ich dir ins Herz kann schauen.“ --- Gustav Freytag: Die Ahnen: Ingo und Ingraban: Ingo (Roman): „Draußen aber fuhr Wolf einen großen Wagen mit Binsen und Kalmus heran, den er am Ufer des nahen Teiches geschnitten, um den Fußboden zu bestreuen.“ (Das Festmahl, S. 19) --- August Wilhelm Schlegel: Lebensmelodien (Rollengedicht, es spricht: Der schwan): „Mich erquickt das Blau der heitern Lüfte, / Mich berauschen süß des Kalmus Düfte, / Wenn ich in dem Glanz der Abendröthe / Weich befiedert wiege meine Brust.“ (III) --- Clemens von Brentano: Die Gründung Prags (Drama; I; Wirschowetz, über den Schwan): „Er weiß zu leben, denn um seine Zelle / Liebt er des edlen Kalmus duftend Rohr!“ --- Paul Gerhardt: Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld (Geistl. Lied): „Erweitre dich, mein Herzensschrein, / Du sollst ein Schatzhaus werden / Der Schätze, die viel größer sein / Als Himmel, Meer und Erden. / Weg mit dem Gold Arabia! / Weg Kalmus, Myrrhen, Kassia!“ (VII) --- Theodor Fontane: Vor dem Sturm (Roman, es spricht: Hanne): „‚Dat‘s all nich so schlimm, junge Herr. Rysselmann kachelt in, und upp ‘n Rohrwerder, doa wihr et man küll. Bi Winterdag wüll'n se all insitten; awers wenn de Kalmus kümmt, denn is et wat anners, denn wüll'n se all wedder rut.‘“ (Kap. 19, S. 363) --- Theodor Fontane: Was mir gefällt (Gedicht): „Lieber Freund, mir gefällt noch allerlei: / Jedes Frühjahr das erste Tiergartengrün, / Oder wenn in Werder die Kirschen blühn, / Zu Pfingsten Kalmus und Birkenreiser“ (II, 1-4) --- Fanny Lewald: Meine Lebensgeschichte (Autobiographie): „mit dem ersten kleingeschnittenen Kalmus, mit den ersten frischen Tannensprossen konnten wir ihr, die diesen Duft liebte, Guirlanden um die Schränke und Tische legen“ (I, 13) --- Wilfried Legat: Duft von Kalmus: Geschichte einer ostpreußischen Familie. Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, 1995 --- Friedrich Leopold Graf von Stolberg: Lied auf dem Wasser zu singen, für meine Agnes (Gedicht): „Unter den Zweigen des östlichen Haines / Säuselt der Kalmus im rötlichen Schein“ --- ALS NAHRUNGSMITTEL: Ludwig Richter: Lebenserinnerungen eines deutschen Malers: Kinderjahre (Roman): berichtet über den Laden seiner Großeltern, dort habe es „Büchsen mit bunten Zuckerplätzchen, Kalmus, Ingwerblättchen, Johannisbrot“ gegeben (S. 16) --- Wilhelm Hauff: Der Mann im Mond (Roman): „ da machte er ein ganz eigenes Gesicht, wie wenn man beim überzuckerten Kalmus endlich aufs Bittere kommt“ (I: Der selige Berner) --- ALS ARZNEIMITTEL: Odilo Schreger: Lustiger und nützlicher Zeitvertreiber: „Oder iß öfters Kalmus, oder Wachholderbeere, oder Zimmetrinde.“ (Kap. 15) --- Ernst Schuchardt: Sechs Monate Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters: Im Arbeitshaus: Der erste Sonntag: „‚Na, Kollex, wie gefällt Dir denn die Arbeit? Ja hier, da lernen sie einen auf den Kalmus pfeifen! […]‘“ --- Franz Schönwerth: Oberpfälzer Sagen: II, 11, 4:34:11: Ein Holzweiblein verbietet Kindern, nach der Verwendung von Kalmus zu fragen --- Johann Heinrich Voss: Luise (Idylle): „Nicht so verzagt! Sieh, Michel, wie rasch heut alles mit Kalmus, / Blumen und Maien sich schleppt“ --- Johannes Bobrowski: Wiesenfluß (Gedicht): „Ich bin gewachsen zu hören / die Quelle im Kalmusherzen, / weiß und rötlich, die Dehnung“ (II,1-3)

VII - Bildende Künste:

In der westlichen Kunst gibt es keine nennenswerte Tradition in der Abbildung des Kalmus. Anders dagegen in Ostasien, insbesondere in Japan. Beispiele bekannter Kalmus-Arbeiten sind:

  • Utagawa Hiroshige: Eisvogel und Kalmus (Kakitsubata ni kawasemi), ca. 1830, Farbholzdruck, 22,1 x 16,4 cm
  • Nakayama Sugakudo: Weißer Reiher Kalmus (Shirasagi hanashobu), 1859, Farbholzdruck, 33,7 x 22,2 cm

VIII - Darstellende Künste und Musik:

Franz Schuberts Auf dem Wasser zu singen (D.774) von 1823 basiert auf Friedrich Leopold zu Stolbergs gleichnamigem Gedicht (1782). In der zweiten Strophe wird der Kalmus erwähnt: „Unter den Zweigen des östlichen Haines / Säuselt der Kalmus im rötlichen Schein“.

IX - Audiovisuelle Medien:

Der Kalmus (Originaltitel: Tatarak, dt.: „Kalmus“) ist ein polnischer Spielfilm von Andrzej Wajda aus dem Jahr 2009. Der Film entstand nach der gleichnamigen Erzählung von Jarosław Iwaszkiewicz. Diese Erzählung wird von Wajda und seiner Co-Autorin Krystyna Janda am Set vorgelesen, bis die Erzählung an ein Flussufer wechselt. Die totkranke Arztgattin Marta verliebt sich in den einfachen Jüngling Boguś, der beim gemeinsamen Baden im Fluss ertrinkt.

X - Verwendung:

GESCHICHTE: Während in Asien (Indien, China) Kalmus schon lange genutzt wurde, ist er im Westen wohl durch die Mongolen eingeführt worden. Der erste Nachweis für Europa erfolgte durch Clusius, der 1574 ein Rhizom aus Kleinasien (Konstantinopel) erhalten soll und es offenbar in Wien vermehrte. 1588 ist Kalmus in Deutschland nachgewiesen, in England wurde er 1596 bei Gerard erwähnt; Gerard soll in seinem Garten in Holborn auch Kalmus gezogen haben. --- MYTHOS: In den Dionysiaca des Nonnos wird vom Tod des Kalamos berichtet, der seinem Freund Karpos in den Tod folgt, nachdem dieser beim Schwimmen im Mäander ertrunken ist. Sein Seufzen höre man, wenn der Wind durch das Schilf streiche. Der Bezug zum Kalmus ist möglicherweise rein etymologisch. --- BRAUCHTUM: Aus Neumark berichtet Adalbert Kuhn (Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen, II, 460) die Stube sei zu Pfingsten mit Birke und Kalmus geschmückt worden. Die englischen Siedler in Nordamerika glaubten, ein mitgeführtes Stück Kalamuswurzel schütze vor Blitzschlag. In Sri Lanka und Südindien tragen tamilische Säuglinge Ringe aus Kalmuswurzel. --- MEDIZIN: Kalmusöl (Oleum calami) gilt als appetitanregend und kräftigend. Die Kalmuswurzel (Calami rhizoma) wirkt allerdings beim Kauen aufgrund von Asaronen halluzinogen. Kalmus ist eine traditionelle Heilpflanze der asiatischen Medizin. Auch zahlreiche indigene Völker Nordamerikas nutzen Kalmus ähnlich wie Cocablätter als Appetitzügler, für Bäder, Räucherungen, zur Teebereitung und als Gewürz. Bei Arabern und Römern galt Kalmus als Aphrodisiakum. Im Europa der Frühen Neuzeit wurde Kalmus ferner als Pestmittel eingesetzt. --- KÜCHE: Kalmus wird zur Likörherstellung (Magenbitter) verwendet. Die kandierte Wurzel wurde als „Deutscher Ingwer“ gegessen. Eine Kalmus-Tinktur ist auch in Coca-Cola enthalten. --- ARCHITEKTUR: Kalmus wurde (Motley 1994, 401) in Suffolk und Norfolk zum Decken von Kirchendächern verwendet.

XI - Verbreitete Unterarten:

Im Zentrum der literarischen Beschäftigung mit Kalmus steht Acorus calamus. In Nordamerika wird die Variation A. calamus var. americanus genutzt. In Ostasien kommt zusätzlich Acorus gramineus vor.

XII - Lektüre:

  • Rüegg, Kurt: Beiträge zur Geschichte der offizinellen Drogen Crocus Acorus Calamus und Colchicum. 1936 [Hochschulschrift]
  • Mücke, Manfred: Über den Bau und die Entwicklung der Früchte und über die Herkunft von Acorus Calamus L. 1908 [Hochschulschrift]

XIII - Links: