Der Pfarrer und die Schlafwandler: Johann Ulrich Wirth
Ein philosophierender Pfarrer mit parapsycholgischen Interessen - in Winnenden? Seit 1842 wirkt der Theologe Johann Ulrich Wirth als Stadtpfarrer in Winnenden und verbreitet nebenbei die Ideen Hegels und der Aufklärung.
Johann Ulrich Wirth
Johann Ulrich Wirth war Pfarrer in Winnenden – und nicht nur das: Wirth war Aufklärer, Philosoph und evangelischer Theologe. Geboren ist Wirth am 17.4.1810 in Ditzingen als Sohn des gleichnamigen Metzgers und Lammwirts Johann Ulrich Wirth. Seine Mutter Christina Margaretha war eine geborene Schwaderer. Nach dem Abschluss der Lateinschule in Weinsberg, die er seit 1814 besucht, durchläuft Wirth das evangelisch-theologische Seminar im Kloster Schöntal. In Tübingen studiert er von 1828 bis Herbst 1833 Theologie. legt die erste Dienstprüfung ab und wird nach einem Zwischenspiel in Weinsberg 1834 Stadtpfarreiverweser und Vikar in Brackenheim. Von Mai 1835 ist er fast sieben Jahre lang Pfarrer in Kleingartach. 1836 erscheint bei Scheible in Leipzig und Stuttgart seine Theorie des Somnambulismus oder des thierischen Magnetismus. Offenbar ist er so gesetzt, dass er am 12.1.1836 heiraten kann: Pauline Justine Bockshammer stammt aus Blaubeuren und ist die Tochter des dortigen Dekans. Zwei Töchter bringt sie zur Welt: Pauline und Thekla, letztere kommt am 12.6.1839 zur Welt. 1839 wird er nach Tübingen berufen, 1841 promoviert Wirth und erlangt den Grad des Dr. phil. Noch im selben Jahr erscheint der erste Band seines Grundlagenwerks System der spekulativen Ethik. Im September 1842 wird Johann Ulrich Wirth Stadtpfarrer in Winnenden und widersteht - dem Nachruf zufolge - mehrfach dem Ruf auf einen Lehrstuhl, etwa in Kiel oder Jena, und bleibt 37 Jahre lang Pfarrer des Winnender Sprengels. In Winnenden schreibt er die theologische Abhandlung Die speculative Idee Gottes, die 1845 in Stuttgart erscheint. Eine eigene Zeitschrift, die er unter dem Titel Philosophische Studien herausgibt, stellt er bald wieder ein. 1848 kandidiert er für die Nationalwahlen, was ihn in den Augen des Dekanats verdächtig macht. 1849 wird er denunziert. Ein Gemeindemitglied meldet dem Dekan, Wirth habe im Sonntagsgottesdienst die Fürbitte für den König abschaffen wollen. Dekan Werner stellt sich hinter den engagierten Pfarrer (Reustle 1999, S. 66). Ab 1852 redigiert er dafür die Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, die Immanuel Hermann Fichte und Hermann Ulrici herausgeben, denen er als spekulativer Vertreter des Theismus und als Hegelianer nahesteht. Wirths Ansichten sind recht modern: Er ist überzeugter Republikaner und Demokrat, unter anderem setzt er sich gegen die Todesstrafe ein. Dass sein politisches Engagement ihm geschadet hat, unter anderem der Einsatz im Vaterländischen Verein, zeigt sich an einer langen Reihe erfolgloser Bewerbungen auf andere Pfarreien. Am 20.3.1879, mit 69, stirbt Johann Ulrich Wirth in Winnenden, „beruflich gescheitert und resigniert“ (Reustle 1999, S. 68). Die Leichenpredigt hält sein Schwiegersohn Ernst Wilhelm Kehm, Pfarrer in Neckargartach.
Bezug zu Winnenden
Als Pfarrer in Winnenden gab Wirth 1850 die von David Pistorius verfasste Descriptio urbis Winindae unter dem deutschen Titel Geschichte der Stadt Winnenden und der umliegenden Orte heraus. Auch die von Wirth herausgegebenen Philosophischen Studien wurden in Winnenden gedruckt. Allerdings muss Wirth das mögliche Scheitern seines mutigen Projekts vorausgesehen haben. Im Vorwort schreibt er am 18.6.1851 in Winnenden: „Im Uebrigen verhehlt sich die Redaction durchaus nicht die Schwirigkeiten ihres Unternehmens, und kann daher die Fortsetzung desselben auch, wie sich von selbst versteht, nur abhängig machen von der lebendigen Theilnahme derjenigen, welche für die Entwicklung der Philosophie als eines der höchsten deutschen Nationalgüter ein Interesse haben.“ Als Pfarrer war Wirth offenbar erfolgreich, jedenfalls unterstützte ihn die Gemeinde und machte ihn bei den Nationalwahlen von 1848 zum Stimmenkönig. Als Parteigänger der Republikaner um den Stadtrat Johannes Hägele und den Kaufmann Christoph Friedrich Glock gerät er immer wieder in die Schusslinie pietistisch geprägter Mitbürger, legt sich mit Albert Zeller an oder liegt mit dem zweiten Stadtpfarrer Joseph Josenhans über Kreuz, der später zum Leiter der Basler Mission bestellt wird. |
Wirths Theorie des Somnambulismus
Bild: Robert Dodd: The Operator Inducing a Hypnotic Trance, kolorierter Kupferstich, 1794. Aus: Ebenezer Sibly: A Key to Physic, 1794 |
Die Erforschung des Somnambulismus beginnt in Frankreich. Der aus Moos am Bodenstee stammende Magnetiseur Franz Anton Mesmer hatte in Paris eine Praxis eröffnet, in der er magnetische Kuren durchführte. Seine Grundsätze legte er in der Abhandlung über die Entdeckung des tierischen Magnetismus nieder, Von ihm stammen die Begriffe des „animalischen Magnetismus“ und des „Rapports“, der zwischen dem Patienten und dem Kosmos herrsche. Armand de Chastenet de Puységur veröffentlicht im Jahre 1784 seine Beobachtung, dass eine mesmerische Behandlung einen schlafartigen Zustand auslöst, den „provozierten Somnambulismus“. Daran entwickelt Tardy de Montravel 1785 mit seinem Essau sur la théorie du somnambulisme magnétique. Infolgessen verbreitet sich das Konzept auch in Deutschland, vor allem, nachdem der Chirurg James Braid 1843 den Begriff der Hypnose entwickelt. Auch in der Literatur wird das Motiv der Schlafwandelei aufgegriffen, etwa in Kleists Prinz Friedrich von Homburg (1810) oder in der Oper, beispielsweise in Bellinis La somnambula (1831). In diesen Zusammenhang gehört auch Wirths Arbeit. Zunächst entwickelt Wirth im ersten Hauptstück seiner Abhandlung eine Entwicklungsgeschichte des Somnambulismus: Der menschliche Geist gelange über die Ekstase und deren Überwindung zum Christentum. Demgemäß überwinde auch die Philosophie den Somnambulismus. Im zweiten Hauptstück betrachtet Wirth den Somnambulismus als Krankheit des Leibs und der Psyche. Im dritten Hauptstück wendet sich Wirth den einzelnen Formen des Somnambulismus zu. Besonders interessant ist das zweite Kapitel, in dem sich Wirth kritisch mit Nebengebieten des Themas befasst, die heute ins Feld der Parapsychologie fallen: mit Vorahnungen, der Beziehung der Somnambulen zum Jenseits, dem Geistersehen, der Existenz von Schutzgeistern und der Besessenheit. |
Quellen
- Wirth, Johann Ulrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 533–534, digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wirth,_Johann_Ulrich&oldid=- (19.7.2020)
- Aus Stadt und Umgebung, Nachruf zum 100. Geburtstag Johann Ulrich Wirths, in: Volks- und Anzeigenblatt, Nr. 56, 14.4.1910
- Kehm, Ernst Wilhelm: Leichenpredigt: Zum Andenken an Johann Ulrich Wirth, Archiv d. Ev. Kirchengemeinde Winnenden, 1879
- Reustle, Sabine: Winnenden in der Revolution von 1848/49. In: Winnenden gestern und heute, Bd. 7 (1999), S. 65-70
Bibliographie
- Wirth, Johann Ulrich: Christus, der Sohn Gottes. Bemerkungen zu den Untersuchungen und Streitigkeiten über das Dogma von der göttlichen Würde und Natur Jesu. Nürnberg: Riegel & Wießner 1844
- Wirth, Johann Ulrich: System der speculativen Ethik, eine Encyclopädie der gesammten Disciplinen der practischen Philosophie. Bd. 1-2. Heilbronn: Drechsler 1841-42
- Wirth, Johann Ulrich [Nachruf]: Zum Andenken an Johann Ulrich Wirth, Stadtpfarrer in Winnenden: geb. den 17. April 1810, gest. den 20. März 1879, begraben den 23. März 1879. Winnenden: Fetzer, 1879
- Wirth, Johann Ulrich: Theorie des Somnambulismus oder des thierischen Magnetismus: Ein Versuch, die Mysterien des magnetischen Lebens, […] vom Standpunkte vorurtheilsfreier Kritik aus zu erhellen und zu erklären. Leipzig und Stuttgart: Scheible, 1836
- Wirth, Johann Ulrich: Die speculative Idee Gottes und die damit zusammenhängenden Probleme der Philosophie: Eine kritisch-dogmatische Untersuchung. Stuttgart: Cotta, 1845
- Pistorius, David: Geschichte der Stadt Winnenden und der umliegenden Orte, hrsg. v. Johann Ulrich Wirth. Winnenden: Fetzer, 1850