Jochen Kalka: Protokoll eines Traumas

Biographie

Jochen Kalka kommt 1964 in Winnenden zur Welt. Von 1985 bis 1992 studiert Kalka an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Germanistik und Politikwissenschaft, wo er 1995 auch promoviert. Praktische Erfahrung sammelt er bei den Stuttgarter Nachrichten, bei der Stuttgarter Zeitung, bei BILD, beim SDR und der Nürtinger Zeitung. In Dresden ist er nach der Wende als Dozent politischen Bildung für Erwachsene ist er tätig. Von Oktober 1992 bis Februar 1994 ist Kalka Volontär und bis 1996 Redakteur bei „Werben & Verkaufen“. Von März 1996 bis Juni 1997 arbeitet er für Schitag Ernst & Young / BIW als Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. In gleicher Funktion ist Kalka dann von Juli 1997 bis Dezember 1998 bei Burda unter Vertrag. Im Januar 1999 wechselt er zu w&v – Werben & Verkaufen. 2000 wird er Chefredakteur des „marketingjournals“. Ab 2006 ist er Chefredakteur aller Titel des in München erscheinenden Magazins. Dazu gehören „Der Kontakter“ und „LEAD digital“. 2011 schreibt Kalka, als Winnender unmittelbar berührt vom Amoklauf, sein Buch „Winnenden“. 2019 wechselt Kalka zur 2011 gegründeten Kommunikationsagentur Schoesslers.

Interview (Leon Bläsing)

LB: Wieso sind Sie Journalist geworden?

Kalka: Ich habe schon immer wahnsinnig gerne geschrieben. In der Schule begannen gute Freunde von mir irgendwann zu rauchen und meine Argumente und die Gespräche haben einfach nicht dazu geführt, dass sie mit dem Rauchen aufhören, sondern erst ein von mir geschriebener Artikel in der Schülerzeitung. Da ist mir bewusst geworden, welche Kraft Worte haben können, wenn man sie gerade auch emotional schreibt und das hat mich beeindruckt. Damals war mir aber noch nicht klar, dass ich Journalist werden wollte. Mein Vater und mein Opa waren Journalisten und ich wusste dann nicht, ob ich das wirklich weiterführen sollte. In meiner Studentenzeit habe ich auch schon viele Praktika bei Zeitungen gemacht. Dadurch habe ich viele Erfahrungen gesammelt. Ich habe auch relativ schnell viele Freiheiten bekommen und durfte Kommentare schreiben. Da habe ich so eine Lust gewonnen, dass das am Ende mein Traumberuf geworden ist und ich bereue es bis heute nicht.

LB: In der Medienbranche gibt es ein weites Feld an Themen, mit denen man sich befassen kann. Früher bei w&v und heute bei Schloessers arbeiteten bzw. arbeiten Sie eher in den Bereichen „Online“ und „Social Media“. Warum haben Sie sich genau für diese Sparte entschieden?

Kalka: w&v ist ja ein Medienmagazin, das ja sehr viel über die Zielgruppen und Reichweiten von Medien schreibt, da befasst man sich zwangsläufig mit allen Medien. Bis heute reizt mich das gedruckte Papier sehr, aber ich finde, man muss sich verändern, das Leben ist ein Verändern und kein Festhalten. Im Online-Bereich eröffnen sich viele neue Möglichkeiten. Es gibt viel mehr Möglichkeiten der Reichweite und viele neue Geschäftsmodelle, die Welt steht uns offen. Die meisten Verlage denken noch viel zu alt: sie übersetzen die Artikel ganz einfach von Print zu Online und das ist eine für mich falsche Herangehensweise. Man muss auch dem Bösen, was es auf Social Media ganz stark gibt, entgegenwirken und muss versuchen, sich und sein Wissen an allen Fronten einzubringen, damit es eine neutrale Nachricht über alle Fronten gibt. Eine der wichtigsten Säulen der Demokratie ist für mich die Pressefreiheit, das ist die Sicherung der demokratischen Säule und wir müssen dafür kämpfen, damit diese demokratische Säule gewahrt wird. Muss an den neuen Medien, „Online“ und „Social Media“, dranbleiben und auch an dem, wie sich die Gesellschaft verändert.

LB: Wie sieht ihre typische Schreibsituation aus?

Kalka: Für mich ist es optimal, wenn ich alleine bin. In der Firma ist es allerdings so, dass es mir vollkommen egal ist, wo ich sitze, innerhalb von Sekunden tauche ich in den Text ein. Beim Winnenden-Buch sind mir immer wieder Dinge eingefallen und deshalb habe ich überall kleine Zettel mit Stichpunkten gehabt. Ich brauche meine Ruhephase: als Journalist hatten wir in der Redaktion „Elefantenstunden“, das waren zwei Stunden am Tag, wo wirklich niemand jemand anderen stören durfte. Am Laptop zu schreiben ist mir das liebste, ich schreibe ungerne mit der Hand. Das Runterschreiben geht bei mir wahnsinnig schnell, ich schaffe 20.000 Wörter, also circa zehn Buchseiten, in null Komma nichts.

LB: Von wem oder wobei haben Sie am meisten über das Schreiben gelernt?

Kalka: Klar, mein Vater hat geschrieben und hat mich ständig kontrolliert und verbessert. Ich wurde fast schon gedrillt. Aber ich glaube das beste Schreiben lernt man, wenn man viel liest und neugierig ist. Wenn ich ein Buch lese, merke ich, dass ich gerne Formulierungen aufgreife, vor allem, wenn mir ein Buch gefällt. Ich hatte aber auch das Glück, als ich als Praktikant bei der Stuttgarter Zeitung war, mindestens zwei ganz tolle Schreiber zu haben, die mich auf die Seite genommen haben und mir Tipps gegeben haben. Aber mein größter Lehrer, den ich während des Rhetorik-Studiums kennenlernte, war Walter Jens. Er hat an der Uni Tübingen Creative-Writing-Seminare gemacht, auch über das Semester hinaus.

LB: Was machen Sie, wenn Sie gerade nicht schreiben?

Kalka: Ich jogge gerne und fahre gerne Fahrrad. Ich mache auch wahnsinnig gerne Musik, auch am Computer, weil man da einfach alle möglichen Instrumente hat und diese verknüpfen kann. Ich kann nur mäßig Gitarre spielen, aber am Computer hat man alle Möglichkeiten, ich bin auch sehr gerne experimentell unterwegs. Ich glaube nicht, dass das vielen gefällt, aber es ist für mich ein befriedigender Ausgleich. Das Zusammenbringen verschiedenster Instrumente ist für mich ein Traum.

LB: Nun zu Ihrem Winnenden-Buch. An wen richtet sich Ihr Buch, wer soll es lesen?

Kalka: Zuerst hatte ich ja gar nicht vor, daraus ein Buch zu machen. Ursprünglich waren meine beiden Kinder meine Zielgruppe, um für sie begreifbar zu machen, was passiert ist. Dann habe ich angefangen, meine Eindrücke aufzuschreiben und es ist zu einer ganz brutalen Medienkritik geworden. Die ersten Blogeinträge habe ich auf der w&v-Plattform geschrieben, eben brutalste Medienkritik, weil ich ja live erlebt hab, wie sie sich in Winnenden verhalten haben. Dadurch habe ich auch ein ganz neues Verhältnis zu Medien bekommen. Ich gewann Abstand und konnte mich nur noch schwer identifizieren. Deswegen würde ich sagen, dass es auf der einen Seite für alle „Öffentlichkeitsschaffenden“ ist. Damit meine ich nicht nur Journalisten, sondern zum Beispiel auch Influencer: Es ist dafür da, damit die Leute, wenn sie ein Thema aufgreifen, darüber nachdenken, welche Folgen das haben kann. Aber ich habe es auch ein bisschen für Winnenden geschrieben, um einfach zu zeigen, wie sich die Stadt fühlt. Man merkt ja auch die Wandlung im Buch: das Hochemotionale am Anfang wird zum Ende hin immer politischer. Das Buch ist dann auch als politisches Buch besprochen worden, auch wenn das von mir gar nicht so geplant war. Wenn ich ganz ehrlich bin, richtet es sich auch an alle politisch denkenden Menschen, damit sind nicht nur Politiker gemeint, sondern alle Menschen, die politische Entscheidungen treffen, zum Beispiel auch an Schulen, damit man darüber nachdenken kann, welche Faktoren zu so einer Gewalttat führen.

LB: Sie beschreiben ein Gespräch mit einem Verlag, der die Zusammenarbeit ablehnt, nachdem bekannt wird, dass Sie nicht „richtig betroffen“ sind. Warum haben Sie das Buch trotzdem geschrieben?

Kalka: Nachdem meine Reportage im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ erschienen war, hat das eine überraschende Welle an Öffentlichkeit ausgelöst, mit der ich nicht gerechnet hatte. Dann kamen eben auch Buchverlage auf mich zu, auch einer der ganz bekannten, renommierten Hamburger Verlage. Nach dem Gespräch habe ich dann gewusst, dass ich weitere Gespräche ablehnen werde. Das hat mich aber weiter dazu gedrängt alles aufzuschreiben, ich habe immer weiter und weiter geschrieben. Irgendwann dachte ich mir, ich mache einfach ein Jahr voll, damit es etwas Abgeschlossenes ist. Ganz am Ende fand ich eine Ansprechpartnerin beim DVA, eine Lektorin aus Ansbach, wo eben zuvor auch schon ein Amoklauf stattgefunden hat. Diese Frau hatte dementsprechend die richtige Empathie und das richtige Verständnis, daraus ergab sich ein traumhaftes Zusammenarbeiten. Das war dann für mich die Entscheidung. Ich glaube nicht an Schicksal, aber ich hatte das Gefühl, hier passt alles und habe mich deshalb dafür entschieden.

LB: Welche Abschnitte sind Ihnen beim Schreiben besonders schwergefallen?

Kalka: Es gibt tatsächliche einige Stellen, wo mir heute beim Lesen noch Tränen kommen, die bereits auch schon beim Schreiben gekommen sind. Vor allem am Anfang, wenn ich die Nachricht selber erfahren habe, als meine Tochter mir eine SMS schreibt, mit mehreren Rechtschreibfehlern und am Ende einem „Pass auf!“. Ich habe heute auch kein Verständnis mehr für Freunde von Waffen. Vorher war mir das relativ egal, weil ich mich nicht damit beschäftigt habe. Der Umgang mit diesen Themen, auch besonders bei vielen Schützen, gerade das egozentrische Argumentieren haben mich wütend gemacht. im Laufe der Zeit merkt man auch eine gewisse Ohnmacht. Das Buch schwankt ja zwischen Hoffnung und Ohnmacht. Dieses Hin und Her zu beschreiben fiel mir, auch durch die emotionale Verbundenheit, öfters schwer.

LB: Die Kritik, welche Sie in Ihrem Buch äußern, gilt vor allem auch der Waffenlobby. Wie sehen Sie das Verhalten der Waffenlobby nach dem Amoklauf heute?

Kalka: Erstmal: Durch die ganze Recherche damals ist mir erst aufgefallen, wie viel Macht und Einfluss die Waffenlobby hat. Was mich auch sehr überrascht hat, dass es tatsächlich auch Schulgebäude gibt, die nachts zu Schießplätzen werden. Ich frage mich, wieso es keinen einzigen Vorstoß irgendwo in der Waffenlobby gibt, dass man zum Beispiel freiwillig sagt, dass man auf alle Schnellfeuerwaffen oder schweres Geschütz verzichtet. Was mich auch sehr überrascht hat, waren die Waffenkontrollen. Bei den Kontrollen gab es Stadtviertel hier bei uns in Baden-Württemberg, wo bei 30-60 % die Waffen nicht ordnungsgemäß verschlossen waren. Wenn das anders wäre, wäre ich nicht so besorgt und würde auch das mit der Verantwortung mehr nachvollziehen können, womit die Waffenlobby oft argumentiert. Aber diese ist nun mal nicht gegeben. Ich glaube, es gibt nach wie vor viel zu tun. Ich weiß auch nicht, was dagegenspricht, die Waffen gesichert im Schützenverein zu lagern. Warum brauche ich zuhause eine Waffe? Ich werde nie ein Freund davon sein, genau im Gegenteil: Es tut sich nichts, nach jedem Amoklauf oder einer Schießerei. Es heißt immer, wir müssen die Gesetze verschärfen und so weiter, aber am Ende passiert oft leider gar nichts.

LB: Jetzt ist es schon eine Weile her, seitdem Sie das Buch veröffentlicht haben. Welche positiven Reaktionen sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Kalka: Die positivste Reaktion war nach einer Lesung in Winnenden, bei der die Leute nochmal nach vorne gekommen sind und es auch zu Umarmungen kam und dies dann so ein Wir-Gefühl geschaffen hat. Das fand ich ganz, ganz toll. Was auch passiert ist war, dass nach meinem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, die Kinobetreiber dann Kinokarten an die Schüler verschenkt haben oder Real hat zum Beispiel Tischtennisplatten geschickt. Aber ich glaube, man hat sich ganz plötzlich auch persönlich ganz anders wahrgenommen: ich neige dazu, dort und da mal einen Witz zu machen und so ein Projekt zeigt auch mal eine ganz andere seriöse Art an einem. Das was auch sehr positiv.

LB: Welche negativen Reaktionen haben Sie besonders getroffen oder aufgebracht?

Kalka: Eine Reaktion war ganz brutal: ich habe ja sehr heftige Medienkritik gemacht und zum Beispiel der „Spiegel“ hat das sehr fair aufgenommen zu dieser Zeit, aber die Bild-Zeitung zum Beispiel nicht. Da hat mich einer der damaligen Chefredakteure angerufen, der jetzt beim „Spiegel“ ist, und der hat tatsächlich versucht, bei mir Druck zu machen. Er meinte, ich bekäme eine ganze Seite in der Bild-Zeitung, was das Buch natürlich zu einem Bestseller gemacht hätte, aber das war übrigens auch nie meine Absicht dahinter. Aber jedenfalls war die Bedingung, dass ich die Tür zu den Opferfamilien aufmache, um „nur mit den Leuten zu sprechen“. Ich habe dann das Aktionsbündnis informiert und wir haben auch darüber gesprochen, im Sinne von: „Vorsicht – Warnung!“ und habe daraufhin auch bei der Bild-Zeitung abgelehnt. Ich wäre ja auch nicht mehr glaubwürdig, weil ich wirklich diese Zeitung heftig kritisiere und mich dann im wahrsten Sinne dieser Zeitung „verkaufe“, das wollte ich nicht. Das war eine Reaktion, die mich wirklich überrascht hatte.

LB: Gibt es etwas, das Sie jetzt, wo Sie die Reaktionen auf das Buch kennen, noch hinzugefügt oder lieber weggelassen hätten?

Kalka: Ich glaube, das Buch ist einfach, wie es ist. Wenn ich es nach einem Jahr oder jetzt nach elf, zwölf Jahren geschrieben hätte, würde ich komplett anders rangehen. Diese ganze hochkarätige Emotionalität und was man wahrgenommen hat, viele Sachen würde ich heute mit etwas mehr Abstand sehen oder anders interpretieren. Ich würde heute vielleicht ein anderes Vorwort schreiben, und zwar genau diese Momentaufnahme, dieses ungefilterte Jetzt. Das ist für mich wie eine Kamera. Es ist etwas anderes, wenn du auf die Kamera drückst und Momentaufnahmen einfängst, genau so hat es sich bei mir beim Schreiben angefühlt. Natürlich ist eine Momentaufnahme immer nur ein Ausschnitt, es ist nie die Wahrheit, nur ein Puzzlestück einer möglichen Wahrheit, aber es kann nie die Wahrheit sein und sie nie abbilden. Es gibt nichts, was ich bereuen würde, weil ich jede einzelne Seite des Buches mit den jeweiligen Betroffenen durchgegangen bin und auch mit meinen Kindern und meiner Frau. Ich habe ja immer mit den Personen gesprochen und in dem Moment, in dem zum Beispiel der Psychologe meinte, „Nein, schreib das nicht“, hab ich’s rausgenommen. Es ist eine Momentaufnahme und es ist authentisch, zumindest was die Momentaufnahme anbelangt und man merkt im Buch auch immer mehr die größer werdende Distanz. Es gibt schon Kapitel dort und da, wo ich mir im Nachhinein denke, ist das wirklich notwendig? Ich war so in einem Wahrnehmungswahn, dass ich alles wo das Wort „Waffen“ aufkam oder auch „Gewaltspiele“, auch was im weitesten Kontext nichts mit Winnenden zu tun hatte, aufgeschnappt hab und runterschreiben musste. Aber spontan gibt es eigentlich nichts, was ich weglassen müsste.

LB: Heutzutage ist es auch für Zehnjährige möglich, einen Shooter zu spielen und täglich sieht man Gewalt in Filmen. Was würden Sie sich im Hinblick auf Gewalt in den Medien wünschen?

Kalka: Ein Gewaltspiel per se macht keinen Amokläufer, das habe ich damals noch anders gesehen. Die Summierung der verschiedenen Faktoren führt ja dazu, dass die Hemmschwelle sinkt. Ich erinnere mich noch an die ersten Gewaltszenen, die ich gehen habe und ich habe davon Albträume bekommen. Auch heute noch sehe ich mir nicht gerne Gewaltszenen in Filmen an. Je mehr wir zum Beispiel abgehackte Köpfe oder Waffen sehen, umso mehr normalisiert sich das. Aber das alleine wird nichts auslösen, es geht, wie vorher erwähnt, viel mehr um den Zugang zu Waffen. Ich glaube, je jünger Menschen sind, wenn sie mit Gewalt konfrontiert werden, desto schlimmer können die Auswirkungen später sein, weil der Kern, in den diese Gewalt eindringt, einfach weicher ist. Ich finde alles gut, was das reduziert, aber ganz verbieten kann man es nie. Es gibt immer Leute, die da irgendwie herankommen oder Eltern, die nicht so achtsam sind. Natürlich ist es mir noch tausendmal lieber, wenn über einen Shooter, anstatt mit einer echten Waffe geschossen wird.

LB: Sie beschreiben in Ihrem Buch auch die Präventionsmaßnahmen, die nun zur Verhinderung weiterer Amokläufe führen sollen. Was davon hätte noch umgesetzt werden sollen?

Kalka: Ich glaube die erste Prävention, die man machen kann, liegt in der Verantwortung der Medien, und zwar wie sie grundsätzlich mit solchen Themen umgehen. Die Bild-Zeitung hat ja den Täter auch in Kampfmontur gezeigt, eben diese Heroisierung, wodurch Täter zu Vorbildern werden können. Die Prävention vor Ort kann ich nicht beurteilen, da bin ich kein Fachmann. Ich denke, dass da zum Glück auch einiges getan wurde, sprich: Notknöpfe und Schlüssel. Jede Schule muss sich individuell darauf einstellen und man muss sich beispielsweise Fluchtwege überlegen und sich leider auch die Schule mit den Augen eines potenziellen Täters ansehen. Es geht nicht nur um die Schutzmaßnahmen per se, sondern auch um das Schutzgefühl bei den Schülern. Es ist immer die Balance zwischen Schule fast schon als Gefängnis und einem gewissen Risiko, auch wenn das seltsam klingt. Ein Risiko hat man immer, dass betrifft das ganze Leben und es gibt immer Lücken. Ich glaube aber auch, dass wir alle wachsamer geworden sind. Wichtig ist, dass man auch Anregungen von Schülern ernst nehmen muss und auch über die Sinnhaftigkeit und Umsetzung nachdenken muss, dafür gibt es mittlerweile aber auch Spezialisten. 

LB: Zuletzt haben Sie „Die Startup-Lüge“ (2019) veröffentlicht. Wenn Sie sich heute ein Thema frei aussuchen könnten – worüber würden Sie noch schreiben wollen?

Kalka: Ganz banal, als Sachbuch, überlege ich, müsste man mal „Die Startup-Liebe“ schreiben. Ich arbeite ja sehr viel mit Startups zusammen und die Startups, die mit Liebe rangehen und auch etwas bewegen, wirklich das Potenzial haben, hier und da positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen, damit würde ich mich gerne näher auseinandersetzen. Aber was mich auch sehr bewegt sind die Geschichten der Holocaust-Überlebenden. Mir fällt so langsam auf, dass alle Menschen, die den Holocaust überlebt haben, bald alle sterben. Ich versuche eine Erzählform zu finden, die so eine Mischung aus „Sofies Welt“, wo eben das Philosophische einem Kind nahegebracht wir, über tagesaktuelle Geschehnisse, Sätze, Äußerungen und Handlungen, wie wir´s bei gewissen rechten Politikern erleben. Diese Sätze, die so leicht auf Social Media geäußert werden, würde ich gerne nochmal mit Echtaussagen aus der damaligen Zeit konfrontieren. Das wäre ein Thema, das mich nochmal reizen würde, um die Geschichte in jetziger Form nochmal nachempfindbar oder erlebbar zu machen, damit man merkt: Das war ja gar nicht gestern, das ist ja im Prinzip auch heute so. Das wäre noch was, was mich sehr reizen würde.

Werk

Bibliographie

Werke

  • Kalka, Jochen: Die Startup-Lüge: Wie die Existenzgründungseuphorie missbraucht wird - und wer davon profitiert. Berlin: Econ, 2019
  • Kalka, Jochen: Winnenden: Ein Amoklauf und seine Folgen. München: Dt. Verl.-Anst., 2011
  • Kalka, Jochen: Werbung für Werbung: Individuelle semantische und syntaktische Charakteristika interner Marketingkommunikation. Tübingen, Diss. 1995

Sekundärliteratur

  • Hanfeld, Michael: Das Trauma nach den tödlichen Schüssen (Rezension zu: Winnenden). In: FAZ, 17.3.2011
  • Götz, Uschi: Nach der Tat (Rezension zu: Winnenden). In: Deutschlandfunk, 7.3.2011
  • Führer, Susanne: „So eine Art Trauerglocke“: Autor Kalka über Winnenden zwei Jahre nach dem Amoklauf. Jochen Kalka im Gespräch. In: Deutschlandfunk, 11.3.2011