Jerzy Grotowski und das Arme Theater

Der polnische Regisseur Jerzy Grotowski gehört zu den Pionieren des experimentellen Theaters - durch seine Inszenierungen und die intensive Arbeit am Schauspiel. Insbesondere sein Armes Theater versucht der medialen Überfrachtung des Theaters eine Erfahrung entgegenzusetzen, die im Ritual und im Menschsein des Schauspielenden wurzelt.

Zur Biographie

1933

11.8.: Jerzy Marian Grotowski kommt im südostpolnischen Rzeszów zur Welt. An der Akademia Sztuk Teatralnych im. Stanisława Wyspiańskiego in Kraków und an der Moskauer Russische Akademie für Theaterkunst studiert er Schauspiel und Regie.

1939

Grotowskis Mutter flieht mit ihrem Sohn nach Nienadówka.

1957

Grotowski debütiert als Regisseur mit Ionescos „Stühle“.

1959

März: Grotowski inszeniert mit OnkelWanja sein letztes Stück am Kraków und wechselt auf Einladung von Ludwik Flaszen an eine kleine Experimentalbühne in Oppole. Hier inszeniert er den Orpheus von Jean Cocteau, Kalidasas Schakuntala und Dziady (dt.: Die Totenfeier) von Adam Mickiewicz. Erstmals wird zwischen dem Publikum gespielt, dem auch bestimmte Rollen zugewiesen werden.

1960

In Kain nach George Gordon Lord Byron werden Mittel der Pantomime eingesetzt, der Satire und des Kabaretts: Die Schauspieler tragen Kämpfe mit Tennisschlägern aus, ringen und boxen.

1962

Der Kordian nach Juliusz Słowacki wird in einer psychiatrischen Klinik aufgeführt. Die Zuschauer sitzen auf mehreren Etagenbetten, die Schauspieler spielen inmitten des Publikums. --- Seine erste Inszenierung nach den Vorgaben des Armen Theaters ist Akropolis von Stanisław Wyspiański. Das Stück spielt in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager, die Schauspieler bauen während der Aufführung ein Gerüst aus Rohren, um danach in eine symbolische Gaskammer einzutreten.

1963

Grotowskis Inszenierung von The Tragical History of Doctor Faustus mit Zbigniew Cynkutis sorgt für Aufsehen in der Theaterwelt. Die Zuschauer sind Gäste beim Abschiedsessen des Doktor Faustus und sitzen um mehrere Tafeln, auf denen die Schauspieler auftreten.

1964

Bei seiner Studie über Hamlet nach Shakespeare und Wyspiański sitzen die Zuschauer ringsum an den Wänden.

1965

2.1.: Grotowski verlegt sein Ensemble nach Wrocław und benennt es um in „Teatr Laboratorium“.

1967

Grotowski inszeniert Książę niezłomny, eine polnische Übertragung von Pedro Calderón de la Barcas El príncipe constante. Die Hauptrolle spielt Ryszard Cieślak. Die Handlung spielt auf einer abgesenkten Bühne hinter vier Holzwänden, die Zuschauer blicken von oben auf die Schauspieler.

1969

Grotowskis letzte Inszenierung, Apocalysis cum Figuris, wird aufgeführt.

1970

Grotowski entwickelt das „Teilnehmertheater“.

1975

Grotowski widmet sich ganz seinen „Special Projects“.

1976

Beim „Theatre of Sources“ sucht Growski die rituellen Wurzeln des Theaters zu ergründen und befasst sich mit Voodoo.

1981

13.12.: Grotowski verlässt mit seinem Ensemble Polen, als dort das Kriegsrecht verhängt wird.

1982

Zunehmend setzt Grotowski auf die Wirkung afrokaribischer Traditionen, etwa den Tanschritt Yanvalou.

1983

Grotowski arbeitet am „objektiven Drama“, bei dem theatrale Ausdrucksmittel wie Tanz, Rhythmus und Raum im Vordergrund stehen.

1984

Teresa Nawrot, zeitweise Assistentin Grotowskis, gründet eine Schule für Schauspiel und Film in Berlin, die Grotowskis Methode zugrunde legt. Grotowski selbst arbeitet in Irvine, an der University of California.

1985

Grotowski und Richards arbeiten an Projekten zur „Objektivität des Rituals“.

1986

Grotowski gründet das Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards im italienischen Pontedera, whin ihn Roberto Bacci des Centro per la Sperimentazione e la Ricerca Teatrale einlädt.

1987

Grotowski wird Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.

1998

Grotowski wird Ehrenbürger von Wrocław.

1999

14.1: Grotowski stirbt in Pontedera.

Welche Merkmale prägen Grotowskis Schauspiellehre?

  • Grotowski gibt mehrere Einflüsse für die Entwicklung seines Theaters an: Dullins Rhythmusübungen, Meyerholds biomechanische Übungen, Stanislawski, Wachtangow; Peking-Oper, Nô-Theater, südindisches Kathakali.
  • Im Zentrum steht für den „heiligen Schauspieler“ das Abbauen von Blockaden, nicht wie beim „Huren-Schauspieler“ das Sammeln von Fertigkeiten. Weggenommen werden Widerstände, Beschränkungen, Neigungen, Gewohnheiten und innere Hindernisse (via negativa).
  • Der Schauspieler befreit sich vom Darstellen einer Rolle und seines Alltags-Ichs und setzt seinen inneren Menschen frei – und gibt sich dem Anderen als Geschenk oder Opfergabe vollkommen hin (totaler Akt). Durch das Freilegen des Unbewussten durchbricht er die Herrschaft des Bewusstseins.
  • Er darf sich nie im Privatleben seines Spiels bedienen und muss konzentriert und ausgeruht im Theater erscheinen.
  • Er darf nicht versuchen, gefallen zu wollen.
  • Der Schauspieler hat nicht das Recht, andere zu kritisieren.
  • Der dramatische Text bietet ihm die Möglichkeit, sich selbst zu entdecken, indem er beim Spiel archetypische Erfahrungen erlebt und sowohl auf seine Körperlichkeit reagiert als auch auf die Impulse der Umgebung.
  • Statt des medial überladenen Reichen Theaters mit Projektion und Bühnentechnik bedarf es eines Armen Theaters: Das Material des Schauspielers sind nur sein Körper und seine Fertigkeiten, es bedarf keiner besonderen Ausstattung und keines Dekors.
  • Bühnenmusik, Beleuchtung und Maske entsteht nur durch den Schauspieler
  • Auch Requisiten dürfen nicht eingeführt werden, sondern müssen von Anfang an da sein.
  • Er fordert das Publikum mit seinem Körper heraus, mit seiner Nähe, mit seinem Hauch, seinem Geruch.
  • Er findet dabei außerdem seine eigene Sprache aus einer Vielzahl von Lauten und Gesten, die aus der Pantomime stammen. Diese Gesten stammen oft aus den Extremzuständen der christlichen Heilsgeschichte: Leiden, Verzweiflung, Verklärung, Erlösung.
  • Bewegungen können sich aus Reflexen entwickeln.
  • Die von den Gesichtsmuskeln gebildete Maske bleibt den Figuren über das ganze Stück erhalten.
  • Theater kann ohne Maske, Kostüme und Bühnenbild auskommen, aber nicht ohne Beziehung zum Publikum.
  • Schauspieler und Publikum teilen sich einen Raum, der für jede Produktion neu entworfen wird.

Wie stellt sich Grotowski sein Theater vor?

  • Schauspieler beginnen ihre Ausbildung mit 14.
  • Zunächst lernen sie die Praxis des Schauspiels und erwerben eine Sensibilität und Weltoffenheit, die humanistische Bildung in ihnen freisetzt.
  • Nach vier Jahren werden sie Schauspiellehrling in einem Theaterlaboratorium. Sie sammeln praktische Erfahrung und befassen sich mit Malerei, Literatur und Kunst.
  • Ferner sollten Forschungsinstitute gebildet werden, in denen Experten für Probleme des Theaters beschäftigt sind (Psychoanalytiker, Sozialanthropologen).
  • Ihnen müssten Verlage zugehören, die den Austausch ermöglichen, der zudem von einem oder mehreren Theaterkritikern überwacht werden.

Welche Übungen gab Grotowski vor?

  • Körperübungen: a) verschiedene Arten des Gehens und Springens, ohne dass der Körper Widerstände entwickelt, b) Übungen zum Lockern der Muskeln und der Wirbelsäule, c) Kopfstand-Übungen, d) Fliegen, e) Sprünge und Saltos, f) Fußübungen, g) pantomimische Übungen, h) schauspielerische Studien zu einem bestimmten Thema
  • Gestaltende Übungen: a) elementare Übungen, b) kompositorische Übungen, c) Übungen der Gesichtsmaske, d) Stimmtechnik – Tragfähigkeit und Atmung – Öffnen des Kehlkopfes – Resonatoren – Stimmgrundlage – Stimmbildung – Übungen zum organischen Ablauf – stimmliche Vorstellungskraft – Nutzbarmachen der Stimme - Diktion – Pausen – Ausnutzung von Fehlern – Aussprachetechnik

Einzelne Übungsimpulse für Schauspieler

  • Alle Übungen müssen konzentriert ausgeführt werden.
  • Wer sich nicht beteiligt, schweigt.
  • Die Schuhe müssen die Teilnehmer ablegen.
  • Auch sonst sollte nur ein Minimum an Kleidung getragen werden.

Aufwärmübungen

  • Rhythmisches Gehen, mit kreisenden Armen
  • Laufen auf Zehenspitzen, die Bewegung geht von den Schultern aus
  • Gehen mit gebeugten Knien, Hände auf den Hüften oder an den Knöcheln
  • Gehen mit steif gestreckten Beinen
  • Froschsprünge, die Hände neben den Füßen aufsetzen

Lockerungsübungen, Kopfstandübungen, Fliegen, Sprünge und Saltos

  • Imaginäres Metallband um die Brust durch den Atem dehnen
  • Handstand gegen die Wand, mit geschlossenen Füßen, die sich langsam öffnen
  • Mit geschlossenen Beinen auf einen Stuhl springen
  • Liegend nach rechts und links rollen
  • Kängurusprünge imitieren
  • Diverse Arten von Kopfstand, gestützt von den Unterarmen oder Kopf und Händen
  • Diverse Arten von Saltos, vorwärts und rückwärts, und „Tigersprünge“
  • Wie ein Vogel flattern, während man jeweils nur mit einem Fußballen den Boden berührt

Fußübungen

  • Im Liegen: Anwinkeln, Strecken und Drehen der Füße, vor und zurück, seitwärts
  • Im Stehen: auf den Fußkanten gehen, auf den Fersen gegen, abrollen, kleine Gegenstände mit den Zehen aufheben

Gestaltende Übungen

  • Imaginäres Tauziehen
  • Rhythmisches Gehen mit Schulterkreisen
  • Gegenstände berühren, der ganze Körper folgt der Bewegung
  • Konflikte zwischen unterschiedlichen Körperpartien erleben
  • Unerwartet nach einer Pause des Erstarrens zu einer anderen Bewegungsform übergehen

 Kompositorische Übungen

  • Aufblühen und Verwelken des Körpers
  • Sich in ein Tier verwandeln und dessen Vitalitätsschwerpunkt finden
  • Sich in einen Baum verwandeln
  • Barfuß gehen und sich verschiedene Oberflächen denken
  • Das Licht mit Teilen des Körpers einfangen
  • Eine Emotion mit einem Körperteil ausdrücken

Stimmtechnik

  • Verschiedene Atemtechniken ausprobieren (Brustatmung, Bauchatmung, Vollatmung)
  • Liegend mit der Hand auf dem Bauch die Vollatmung prüfen
  • Yoga: Einatmen durch das linke Nasenloch (4 s), Halten (12 s), Ausatmen durch das rechte Nasenloch (4 s)
  • Schnelles Einatmen, dann sprechen
  • Schnelles, rhythmisches Einatmen, dann lang ausatmen
  • Unterschiedliche Resonanzräume nutzen (Kopfresonator, Brustresonator, Nasalresonator, Hinterhauptresonator, Kehlkopfresonator, weitere Resonatoren)
  • Stimmliche Aktionen gegen Dinge (Stuhl umwerfen, Loch in die Wand bohren, Boden wischen…)
  • Naturlaute und technische Geräusche nachahmen
  • Höhere Stimmlagen ausprobieren
  • Diktion üben: Bekannte parodieren, nur durch die Diktion (Aussprache) eine Figur charakterisieren (Gourmet, Snob, Geizhals), psychosomatische Beschwerden durch die Diktion darstellen
  • Rhythmen: Rhythmus variieren und plötzlich wechseln, deutliches Einatmen vor dem Satzakzent, unmotiviertes Einatmen

Bibliographie

  • Richards, Thomas: Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen. Berlin: Alexander-Verlag, 1996
  • Grotowski, Jerzy: Das arme Theater. Hannover: Friedrich, 1970, 2. erw. Aufl.
  • Grotowski, Jerzy: Für ein Armes Theater. Berlin: Alexander Verl., 2006, Aufl.
  • Schwerin von Krosigk, Barbara: „Der nackte Schauspieler“: Die Entwicklung der Schauspieltheorie Jerzy Grotowskis. Berlin: publica-Verl., 1986
  • Slowiak, James: Jerzy Grotowski. London: Routledge, Taylor & Francis Group, 2018
  • Kumiega, Jennifer: The theatre of Grotowski. London: Methuen, 1985
  • Wolford, Lisa: The Grotowski sourcebook. London: Routledge, 1997
  • Richards, Thomas: At work with Grotowski on physical actions. London: Routledge, 1995
  • Salata, Kris: Acting after Grotowski: theatre’s carnal prayer. London: Routledge, Taylor & Francis Group, 2020