Interpretieren

Dimensionen der Interpretation und ihre Grenzen

Interpretieren kann bedeuten,

Allerdings:

· die Bedeutung des Texts auf der Basis der Wörter im Satzzusammenhang rekonstruieren zu können.

· Mehrdeutigkeiten (Ambiguitäten) werden oft übersehen.

· Ebenso schwierig kann es sein, historischen Bedeutungswandel einzuberechnen.

· Privatsprachliche Elemente und Chiffren lassen sich oft nicht decodieren.

· Texte haben auch eine visuelle und eine sinnliche Komponente – Klänge und Layout tragen auch zur Gesamtwirkung bei.

· eine subjektive Deutung des Texts vorzunehmen.

· Eigene Erfahrungen prägen die Deutung mit und können zur Überbetonung eines Teilaspekts führen.

· Subjektive Deutungen sind für andere Leser nur begrenzt relevant.

· Die persönliche Einstellung zum Thema oder zum Autor kann das Gesamtergebnis verfärben.

· ein vorgegebenes Deutungsmuster erfolgreich auf den Text anzuwenden.

· Die Allegorese verführt wie viele andere Ansätze zur Vereinheitlichung; Texte sind aber vieldeutig, weisen Brüche auf.

· Oft steht das Ergebnis der Interpretation schon vorher fest und wird dem Text übergestülpt („Was nicht passt, wird passend gemacht“).

· möglichst genau die dominierende Interpretation der Fachleute treffen, die ihrerseits den Erwartungshorizont stützt.

· Auch Experten können irren.

· Texte, deren Bedeutung so festgeschrieben werden, verlieren ihre Offenheit, ihren Kunstcharakter, reizen nicht mehr zur Deutung.

· Abweichende Interpretationen werden entwertet.

· Experten sind geprägt oft von Denkschulen und akademischen Diskursen (bzw. modischen Deutungsansätzen), die ein bestimmtes Erkenntnisinteresse verfolgen und Texte nur in diesem Rahmen deuten.

· Es wird ein Machtgefüge im Deuten etabliert, das den Leser zum passiven Empfänger einer Deutung macht und eine eigenständige Deutung verhindert.

· die Absichten des Autors gegenüber dem Leser erkennen.

· Im Grunde kann niemand die Absichten eines anderen von dessen Produkten herleiten.

· Wichtig ist nicht, was der Autor bewirken will, sondern was der Text beim Leser bewirkt.

· Viele Autoren arbeiten ohne direkten Adressatenbezug.

· Zum Entstehen eines Kunstwerks tragen nicht nur bewusste Anteile (die Intentionen) und unbewusste Anteile bei.

· Innerhalb eines Texts kann der Adressat durchaus wechseln.

· Bestimmte Elemente des Texts können auch das Produkt von Zufällen sein.

· Gerade bei Ich-Erzählern oder dem lyrischen Ich in Gedichten setzen Interpreten oft Autor und Sprecher gleich.

· Manche Autoren sind daran interessiert, die Deutung ihrer Texte zu beeinflussen, um ihre persönliche Situation zu verbessern – die ursprüngliche Intention mag eine andere gewesen sein.

· Viele Deutungen sind verzerrt, weil Interpreten die Motivation der Autoren etwas zu optimistisch sehen.

· die künstlerische Struktur des Texts, das Funktionsgefüge seiner Teile durchschauen.

· Die funktionale Deutung verliert sich oft in Kleinigkeiten, verführt dazu, den Text nicht mehr als Kommunikationsakt wahrzunehmen.

· Texte sind so komplex, dass es vergeblich wäre, in endlicher Zeit den Text annähernd erschöpfend zu beschreiben.

· Funktionsangaben zu Stilphänomenen verführen zum Schablonendenken („Die Klimax unterstreicht“, „Die Metapher veranschaulicht“ …).

· den Text als Zeugnis seiner bestimmten Epoche bestimmen.

· Epochenbezüge wirken oft klischeehaft und werden dem einzelnen Text deswegen nicht immer gerecht;

· Während bestimmte Autoren sich sozial, ästhetisch oder politisch zuordnen lasse, gelingt dies nicht;

· Die Historisierung eines Texts vergrößert die Distanz zum Leser und vermindert eine Übertragung auf dessen Verhältnisse;

· den Text vor dem Hintergrund der Autorenbiographie deuten.

· Biographien sind ja selbst in hohem Maße deutungsbedürftig;

· Ferner sind Biographien oft selbst Deutungen;

· Der Text wird zum bloßen Zeugnis einer Persönlichkeit, die Relevanz für den Leser wird fraglich („Was geht mich Kafka an?“).

· den Text als Zeugnis einer bestimmten kulturellen Prägung aufzufassen.

· Kulturen sind wie Epochen keine gleichgerichteten, einheitlichen Blöcke, sondern immer heterogen;

· Die Deutung verführt zum Herauskramen von Stereotypen.

Daraus ergeben sich…

25 Kriterien für eine gelungene Interpretation

Gelungen ist eine Interpretation, die …

  1. sich am Text belegen lässt, und zwar
  2. nachvollziehbar für den Leser;
  3. die ihre Ergebnisse knapp und mit schlüssiger Argumentation
  4. widerspruchsfrei darstellt
  5. und dabei auf unnötige Zusatzannahmen verzichtet;
  6. die Deutungsalternativen zulässt,
  7. die gegeneinander abgewogen werden;
  8. sich entwickelnde und heterogene Texte in ihrer Komplexität begreift und
  9. weder wichtige Fragen unbeantwortet lässt,
  10. noch abweichende Textstellen unterschlägt, wobei sie
  11. jeden Einzelbefund mit dem Gesamttext abgleicht;
  12. die historisch und empirisch tatsachentreu ist,
  13. ohne zu vergessen, dass Texte ihre eigene Welt erschaffen;
  14. die Geistesströmungen der Epoche
  15. ebenso wie das kulturelle Umfeld berücksichtigt,
  16. dem Autor aber ein eigenes Programm zubilligt,
  17. ohne sich in reiner Psychologie zu erschöpfen
  18. und den Autor mit Erzähler oder Sprecher zu verwechseln;
  19. die anhand gründlicher Analyse
  20. funktionale Zusammenhänge erkennt,
  21. ohne sie notwendigerweise dem Gestaltungswillen des Autors zuzusprechen;
  22. die sich verzerrender Faktoren bewusst ist
  23. und Klischees vermeidet;
  24. die sich auf die Expertise von Fachleuten stützt,
  25. ohne auf eigenständiges Urteilen zu verzichten.