Gründe

Exotistisches Darstellen leistet, auch das ausdrücklich bezwecken, die Übertragung von Wissen, von Kenntnissen, von Glaubensgütern. Was wir mit diesem Wissen anfangen, das unterscheidet sich von Fall zu Fall beträchtlich. Bestätigende Strategien stehen kritischen Strategien gegenüber, der Ausgleich begegnet dem Angriff, die Absonderung der Annäherung. Exotistisches Schreiben ist bestätigend, indem es die Herrschaft gängiger Vorstellungen verfestigt, es ist kritisch, indem es Eigenes und Fremdes im Vergleich auf eine Stufe stellt. Exotistisches Schreiben bezieht sich zunächst auf die eigene Kultur, erst zweitrangig auf die Vorstellung einer übergeordneten Menschheitskultur. Selten ist dieses Bild einer Menschheitskultur der ausgewogene Durchschnitt aller Einzelkulturen: Richtmaß und Vorwurf ist der Zivilisationsstand der höchstentwickelten Kultur. Das Beispiel der Religion mag diese Annahme verdeutlichen. Monotheistische und philosophische Erlösungsmodelle gelten gegenüber polytheistischen oder naturmagischen Systemen als Neuerung, als Verbesserung, mögen sie das religiöse Handeln auch weniger wirksam prägen. Jede der großen Buchreligionen, den Buddhismus nicht ausgenommen, hat im Verlauf ihrer Geschichte in dingmagischen Kulten eine unausgereifte Vorstufe echter Gläubigkeit gesehen, deren Anhänger dem unbildlichen Gottesbegriff zugeführt werden. Islam, Judentum und Christentum sehen in ihrer Frühzeit im kultischen Bild eine Gefahr und gehen so weit, es mit Tabus zu belegen. In der Missionsgeschichte gehen der Bekehrung oft genug Bildzerstörungen voraus. Die Anbetung der Gottheit im Bilde gilt noch Jahrhunderte nach Bonifatius als Ausweis der Zurückgebliebenheit. Waldemar Bonsels, der in seiner 1916 veröffentlichten Indienfahrt über kultische Bildwerke sonst nicht eben viel berichtet, schreibt über die Stammesbevölkerung des indischen Südostens: "Sie stehen auf einem äußerst niedrigen Stand der Zivilisation, sind aber arglos und sehr friedsam. Ihre Religion ist anscheinend in den primitivsten heidnischen Vorstellungen geblieben, sie beten hölzerne Götzen an, und nur hier und da ist ein schwacher Lichtschein des Brahman oder der buddhistischen Lehre in ihre Geisteswelt gedrungen." Die Geschichte des Glaubens als Geschichte geistiger Neuerungen: eine widersinnige Vorstellung. Anders als solche Bilderstürmer in kolonialem Khaki verfährt Döblin in den Drei Sprüngen des Wang-lun. Hier sind die Bilder des Heiligen keine "hölzernen Götzen". Sie haben die Macht, ihre Gläubigen zu verzücken. Bei Döblin verbindet sich in einem Satz der säkularisierte Erzähler (1) mit dem Glauben der wilden Denker (2):
"(2) Der Medizingott kam selbst, (1) eine bemalte Holzsäule, (2) zu seinem Schüler, die Diagnose zu stellen, die Heilung zu bringen."
Für den Gläubigen ist die Gottheit keinesfalls eine "bemalte Holzsäule", so, wie für den Aufgeklärten eine Skulptur kein Gott ist, mithin auch nichts aus sich selbst bewirken kann. Der exotische Erzähler muss glauben, um wirken zu können, anders als der Exotist, der schildert, ohne glauben zu müssen. Der bestätigende Exotismus zielt auf die Festigung der Eigenkultur, verhilft zu einem gemeinsamen Selbstbild und trägt damit zum Ausgleich in dieser Kultur bei. Bestätigender Exotismus schafft Sicherheit über das Selbst, indem er ihm das Fremde gegenüberstellt. Das, was einem eigen ist, erkennt man im Vergleich mit dem Fremden: und was fremd ist, das ergibt sich aus seiner Unauffindbarkeit im Eigenen. Der bestätigende Exotismus ermächtigt zu willkürlichem Handeln gegenüber Fremden, indem er übergeordnete Normen auflöst. Oft verdeckt der exotistische Text auch, was sich wirklich in der Fremde abspielt: Kolonialromane mühen sich nicht selten, das Scheitern der Überseeunternehmung mit geistlichem Gewinn zu überspielen, die zivilisatorische Mission der wirtschaftlichen überzuordnen. Bestätigender Exotismus bestimmt unser Handeln gegen Fremde, indem er die Bedürftigkeit des Fremden behauptet. In der Zeit der Begegnung dient der bestätigende Exotismus der Zurückweisung fremder Ansprüche an die Eigenkultur.
Der kritische Exotismus hingegen vermag es, Brüche und offene Fragen in der eigenen Gesellschaft sichtbar zu machen, die bisher von Selbstverständlichkeit überlagert waren, die bisher nicht als Problem aufgefasst wurden: "Gerade die Konfrontation mit der Andersheit läßt erst die konstitutiven Merkmale der eigenen Kultur hervortreten." Der kritische Exotismus hebt die Verschiedenheit des Fremden vom Eigenen hervor, um "die Bestimmung der eigenen Situation in der Welt offenzulegen", um das Nachdenken über das Eigene anzustoßen. Verbunden ist damit nicht selten der Wunsch, in Eigenem und Fremden ein Gemeinsames zu finden: das Kunstwollen, den Glauben, die Liebe. Das Exotische ist nicht selten nur ein Anlass, Menschliches und Allzumenschliches zu besprechen. Der Däne Johannes Jensen, der 1909 die dänische Ausgabe seiner wenig später von S. Fischer verlegten Exotischen Novellen einleitet, zielt gerade darauf ab:
"In diesen `Novellen` habe ich versucht jenseits von Zeit und Raum zu dichten: im Reich des Unbewußten und der Einfalt. Tropisch, primitiv ist immer die Liebe. Die Menschen in diesem Buch folgen nur ihrem Blut, werden von demselben Utriebe gedrängt, der mich nach dem Osten zu pilgern zwang. Im Elementaren sind wir uns begegnet. Das Lokalkolorit ist zwar `exotisch`; ich glaube Kenner werden es echt finden. Ich selbst gebe mich indessen der Hoffnung hin, daß diese kleinen Anläufe als ein Vorbote für Zeiten empfunden werden mögen, wo man gar nichts Neuartiges oder Fremdartiges mehr in dem geringen Unterschiede sucht, den einige Jahrhunderte oder Meere zwischen Meere lege."
Die Suche nach menschlichen Grundeigenschaften, ein weiteres Kennzeichen des kritischen Exotismus, versucht Wesentliches gegen vermeintlich Entbehrliches zu stellen. Der kritische Exotismus vergleicht eigene Werte mit fremden: die exotistische Kulturkritik wendet sich gegen Auswüchse der eigenen Kultur, indem sie einen im Vergleich gewonnenen Grundsatz von Werten und Gütern aufstellt und die eigene Kultur auf diesen Grundsatz bezieht. In der Zeit der Begegnung befördert der kritische Exotismus die Kritik am eigenen Handeln: ihr entwächst der Wunsch nach Versöhnung mit den Fremden und das Verlangen, es ihnen nachzutun.