Ghosting: Eine Geisterbeschwörung. Essay.
„Ghosten Sie mich wieder?“, fragt ein Schüler, dem ein Arbeitsblatt fehlt, das nie ankam, obgleich längst versprochen und vielleicht auch versandt. Dahingesagt! Ghosting ist ein Allerweltswort, viel zu geläufig für ein Phänomen, das uns verletzen kann in unseren tiefsten Tiefen, das uns traumatisiert und hinausstößt über den Rand unseres Daseins.
Ghosting: Das ist, wenn jemand sich zurückzieht und alle Fäden kappt. Wer ghostet, wird geisterhaft: Er ist da, obwohl er weg ist; er verschwindet nicht, weil er verschwunden ist. Nachrichten gleiten ins Nichts, Anrufe werden abgewiesen. Wer ghostet, bleibt unsichtbar; selbst dort, wo ein Treffen noch möglich wäre, dort, an der Ampel, hier, an der Ligusterhecke.
Fast immer hat das Ghosting eine Vorgeschichte, die den Rückzug begreiflich macht, doch bleiben die Ursachen meist schleierhaft und unerklärlich. Immer kommt es unvermutet, eben geisterhaft, wie aus dem Nichts. Das ist Ghosting: Kein allmählicher Rückzug, sondern radikales Wegsein von heute auf morgen. Wer ghostet, ghostet aus Schwäche, manchmal aus Kalkül. Für mich ist Ghosting eine besonders schäbige, unschöne Art, eine Beziehung zu beenden, die offenbar über das Stadium der Bekanntschaft nicht hinausgelangt ist.
Meine Schüler betonen: Ghosting und Beziehungsabbruch, das sei nicht dasselbe. Wer eine Beziehung abbricht, der müsse sich erklären, auch heute noch. Ghosting dagegen sei eine schmerzlose Form, einen eben erst begonnenen Umgang zu beenden, wenn er uns nicht erfüllt. Nehmen wir an: Ein Date ist vielleicht ganz lustig – aber es berührt uns nicht? Dann zeigt man sein Desinteresse durch Ghosting. Ein paar Tage nicht mehr melden – auch auf Nachfrage nicht – und dann gar nicht mehr. Dann weiß der arme Tropf: Das wird nichts. Man muss niemanden blockieren. Jeder versteht, was gemeint ist. So funktioniert das heute. Nur nicht bei uns, die dieses ungeschriebene Gesetz nicht kennen – wir sind nicht vorgesehen in dieser kühlen Kultur des kalkulierten Beziehungsabbruchs!
Lehrer kann man nicht ghosten, sagen meine Schüler. Man sieht sie ja täglich. Bei ehemaligen Lehrern ist das schon etwas anders. Allerdings ist der Beziehung zu meinen Schülern ohnehin ein gefälliges Ende gesetzt, ein offizieller Abschied. Abiball – vorbei! So ist das geregelt. Was danach kommt, wenn etwas folgt, ist fragwürdig, an sich schon, sozial schwierig, begleitet von Vorbehalten. Nein, man nimmt seine Lehrer nicht ins Leben! Die Lehrkraft bleibt zurück, hat keine Wahl als sich einzurichten auf ein Dasein in der Anekdote. Durchaus, es gibt Lehrkräfte, die ihre Schüler weiter begleiten, manchmal aus einem Gefühl der Verbundenheit heraus, manchmal aus beruflichem Interesse, nicht selten in steter Gegenwehr gegen Bedenken, die Verbindung zu halten, die einseitig war von Beginn an, die in den meisten Fällen einseitig bleiben wird, nicht nur wegen des unvergesslichen Machtgefälles. Und es gibt auch Schüler, die ihre Lehrer nicht aufgeben, die sich melden von Jahr zu Jahr, in großer Anhänglichkeit. Die Herausforderungen sind groß, für beide Seiten. Uns Bleibende verschlingt der Alltag, verwickelt uns ins Jetzt, überhäuft uns mit Aufgaben. Euch Abgehende empfängt das Jahrzehnt der Umwälzung: ernsthafte Beziehung, der erste Hausstand, Studium, Berufseinstieg. Das kostet Zeit und Kraft. Die Schule, gemeinsames Erlebnisfeld von einst, wird zur langsam verblassenden Erinnerung.
So kann es kommen: Du ziehst in eine fremde Stadt, nimmst ein Studium auf, lernst Leute kennen, die in derselben Lage sind, die deine Welt kennen. Bald stellst du fest: Ich habe die Kraft nicht mehr, zurückgelassene Beziehungen zu pflegen. Eine Weile hoffst du, dass man dich vergisst, dich abstreift, wenn du in den digitalen Rankings nach unten rutschst. Als das nicht geschieht, machst du dicht – du ghostest.
Oder so: Ihr hattet eigentlich ein gutes Verhältnis. Deine Schulzeit war jedoch überschattet von Krankheit, von Leid, von Verzweiflung. Hin und wieder schreibst du noch, obwohl du abschließen möchtest, aus Dankbarkeit und Verlegenheit, dann lässt du alles zurück – und ghostest.
Oder so: Du spürst, dass dich nichts mehr verbindet mit dem Menschen, den du zurücklässt. Als ihr einander täglich traft, zwischen Treppe und Vertretungsplan, war das anders – du konntest plaudern. Jetzt fühlst du in jedem Wort eine entsetzliche Fremdheit, fühlst das Falsche, die Grenzübertretung, das Angestrengte im Zusammensein. Seichter werden die Gespräche allmählich, platt und belanglos – du ghostest.
Wer ghostet, kann überfordert sein, vielleicht nachlässig, vielleicht bequem oder narzisstisch: Du verweigerst das Gespräch, den Konflikt, den großen Knall. Du ghostest, weil du keine Tränen sehen willst, keine Schuld empfinden, keine Scham. Du willst dich nicht verletzlich machen und niemanden verletzen. Viele, die ghosten, fürchten sich vor einem zufälligen Wiedertreffen in real life – vor der Konfrontation, vor dem Ärger des Geghosteten, zähneknirschend unterdrückt, aber auch dem Eingeständnis, dass man Verletzungen zugefügt hat oder bewusst in Kauf genommen. Meine Schüler raten in diesem Fall zur Ausrede, zur kaltschnäuzigen, durchsichtigen Lüge, zu einem Harlekinstanz auf ganz dünnem Eis.
Für viele, die es betreiben, wirkt Ghosting wie eine komfortable Alternative zur Entfremdung. Den Zurückgelassenen jedoch tut das Ghosting oft weh. Je nach Haltung, Persönlichkeit und dem Grad der Verbundenheit schmerzt es mehr oder weniger, vergeblich auf Antworten zu warten. Wenn dir eine Beziehung abreißt, wirst du daran erinnert, wie brüchig die Brücken sind, auf denen dich andere erreichen. Bald suchst du nach Schuld, bei dir, bei andern. Wo du keine findest, kommst du endlos ins Grübeln, steigst treppauf und treppab auf den Wendeltreppen fruchtloser, manchmal gefährlicher Gedanken. Bin ich es nicht wert? Bin ich nicht unterhaltsam genug, nicht interessant?
Wird man geghostet, erlebt man vor allem Ohnmacht. Es gibt kaum etwas, was man tun kann, um diesen Zustand zu beenden. Stattdessen: Gedankenspiralen. Wut, Schmerz, Trauer, Hoffnung – und wieder Trauer, Schmerz, Wut. Immer wieder lässt man sich dazu hinreißen, das Schweigen zu brechen, die Hand zu öffnen, schreibt ein paar Zeilen, starrt auf den Bildschirm, wartet ein paar Tage, merkt, dass es vergeblich ist, schämt sich, löscht, tut sich leid.
Oft durchläuft man dabei die üblichen Stadien des Verlusts: Leugnung, Rebellion, Verhandlung, Akzeptanz. Wer nicht rasch genug aufgibt, wird leicht zum Stalker. Auch dem anderen tut das Wegbleiben nur selten gut. Zum einen beraubt er sich eigener Entwicklungsmöglichkeiten. Wenn wir Klärung vermeiden, erleben wir nie das Glück des Verzeihens, nie die Erleichterung, wenigstens unsere Gründe darlegen zu können und verstanden zu sein. Wir erfahren nichts von all dem, was wir anrichten, stellen uns nicht unseren Dämonen. Wir flüchten vom Scheitern ins Scheitern.
Dem andern, der ghostet, geht es oft nicht besser. Ghosting erzeugt Schuldgefühle, die man verdrängt, die aber zurückkehren. Man stellt sich ein Wiedersehen vor, das Chaos der Gefühle, die Peinlichkeit, neue Verpflichtungen. Es ist nicht leicht, aus dem Schatten zu treten, man wartet ab. Auf der anderen Seite nimmt die Not zu, wächst unterdessen der Schmerz, und mit wachsender Verzweiflung ballt sich die Wut, der Ton verschärft sich, bis er verhallt, und schließlich flutet die Schwärze über dir zusammen, und die namenlose, dumpfe Empörung erstickt den letzten Rest von Zuneigung. So kann man einander nicht mehr gegenübertreten.
Beziehungsabbrüche sind nichts grundsätzlich Neues. Das gab es vermutlich immer: Im Streit folgt ein Wort aufs andere, bis eines die Seele trifft. Manchmal kann man tiefe Enttäuschung kaum überwinden. Das ist verständlich. Heilung baucht Zeit, Vergebung dauert Jahre, manchmal tritt der Tod dazwischen. Beziehungsabbrüche können nötig sein und heilsam. Damit sich beide Seiten weiterentwickeln können, muss der Bruch erklärt werden. Geschieht das nicht, bleiben beide stecken im Sumpf ungeklärter Fragen. Verdrängung ist keine Bewältigung. Der Schmerz der Trennung ist wichtig, damit Lösung gelingen kann. Wer ghostet, verhindert den ersten Schritt zur Bewältigung.
Früher war Trennung etwas Umständliches, etwas Schwieriges, musste erklärt werden und begründet. Wer sich trennte, wer Abschied nahm, der wusste: Es ist für lange Zeit. Trennung und Verbundenheit, das war ohne Mühe nicht zu machen. Das Briefeschreiben erforderte Vorbereitungen, man konnte sie leicht unterlassen. Oft waren die Pausen lang. Man war es gewöhnt: Umschlag kaufen, Marke kaufen, eintüten, wegbringen, warten; Umschlag kaufen, adressieren, kuvertieren, frankieren, absenden, warten. In Verbindung bleiben – das war eine Frage der Haltung.
Heute ist das anders. Ghosting hat eine Gewöhnlichkeit angenommen, die es fast unmöglich macht, seine Erfahrung in Worte zu fassen, ohne aufzufallen. Wer ghostet, wird entschuldigt. Wer geghostet wird, muss sich entschuldigen. Gerade unter Jüngeren ist weniger das Ghosten verpönt, mehr das Festhalten. Richtig ist immer das Weiterschweifen. Wer zu sehr leidet, macht sich verdächtig: Geringes Selbstbewusstsein! Hohe Empfindlichkeit! Wahrlich, wir leben in zynischen Zeiten!
Ghosting hat auch mediale Ursachen: Ermüdung durch Fülle, Trägheit durch Verfügbarkeit. Wir sind verbunden im Sekundentakt. Nachrichten sind schon da, kaum hat man sie verfasst. Der Status auf WhatsApp, die Story auf Instagram: Neuigkeiten im Stundentakt, jeden Tag, zumindest wöchentlich. Das Gegenüber bleibt sichtbar, selbst, wenn man sich nichts mehr zu sagen hat. Es bedarf keines Entschlusses mehr, keines Abwartens, keines Niedersetzens, man muss nicht die Nummer heraussuchen, die Wählscheibe drehen. Ohne Mühe erfährst du, was der andere tut, was er vermeintlich fühlt und denkt. Orte, Menschen, Augenblicke: Du weißt alles – und nichts.
Wer heute jemanden ghosten will, hat es leicht. Er muss nur unsichtbar werden. Das Profilbild abstellen, von bunt auf grau. Ein paar Klicks, und der Nachrichtenstrom reißt ab. Aus der Sicht dessen, der ghostet, ändert sich wenig. Hat man den einen ausgesperrt, bleiben noch viele andere. Noch immer laufen Nachrichten ein auf ungezählten Kanälen.
Beziehungen begreifen wir oft als Wellness-Angebote, immer unter dem Vorbehalt der Self-Care. Werden wir gestört im Schaumbad der Gefühle, entscheiden wir uns rasch: Wer tut uns gut? Wer ist toxisch? Rechts gewischt, links gewischt, weg damit! Zahlreiche Youtube-Kanäle befassen sich mit der Reinhaltung unserer Seelen durch die Säuberung unseres Alltags: Tu, was dir guttut! Achte auf deine persönliche Energiebilanz! Nimm dir Zeit, Zeit für dich selbst! Sei frei! Auf Dauer kann so keine Beziehung gelingen – erst recht keine, die uns Vertrautheit erst dadurch ermöglicht, indem sie Krisen bewältigt.
Gibt es etwas, was sich dem Trend widersetzt, dem leichtfertig gewollten Ghosting? Ich spüre mit jedem Jahr, das ich mit jemandem gewinne, weil wir nicht aufgeben, dass wir uns langsam näherkommen, mit der Beharrlichkeit von Schildkröten. Jede Handbreit Leben fordert ihren Zoll, hinterlässt Spuren, macht uns vorsichtiger. Jedes Gefühl gräbt sich ein, ins Herz, ins Gesicht, und wenn wir auch verkrusten, unser heißer Kern pocht weiter, bleibt lebendig. Vielleicht gibt es das, das zwei Menschen wie zwei Kometen feurig zusammenprallen – ich glaube eher, wir sind vielschichtige Vulkane, die einander durch schwachen magmatischen Schein von ferne grüßen, ehe sie erlöschen. Was uns menschlich macht, in der Flüchtigkeit der Welt, ist das Leben in der Dauer, im Bleiben, in der Bereitschaft, das Trennende zu überwinden, in der Versöhnung, im Verständnis.
Ja, natürlich, könnten wir dem Menschen sagen, der uns ghostet: Ich weiß, du fühlst dich durch mich beschwert, vielleicht in Frage gestellt. Ich spüre selbst, dass an mir vieles kaum erträglich ist: meine Furcht vor Verlust, mein Plauderton, meine Rechthaberei. Ich höre dir zu, wenn du davon sprichst. Weißt du, ich will mich entwickeln. Ich weiß: Du bist nicht da zu meinen Zwecken, und ich nicht zu deinen. Wir haben Differenzen, aber ist das nicht belanglos? Du weißt doch, dass wir sterben müssen!
Lass uns vergessen, was war. Wir sind einander in Freiheit begegnet, unsere Wege haben uns zusammengeführt, an der falschen Stelle zwar und auch zur falschen Zeit, aber wir haben gespürt, dass wir im selben Sternenglanz stehen und im selben Schicksalswind, weil wir ähnlich empfinden, weil wir gelacht haben zusammen und gemeinsam geweint. Wir sollten uns gemeinsam verändern. Lassen wir nicht zu, dass wir uns selbst aus dem Weg gehen, indem wir einander meiden. Bleib nicht verschwunden. Sei da! Lass uns reden.