Exotismus
Exotismusforschung
Die literaturwissenschaftliche Exotismusforschung. Nach Vorläufern im 19. Jahrhundert, genannt sei Jean Marie Guyau , eröffnen im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor allem französische Wissenschaftler das exotistische Feld. Victor Segalen mit seinem fragmentarischen Essai sur l`exotisme von 1913 und Louis Cario mit L`exotisme von 1911 legen den Grundstein, mit den Arbeiten Charles Régismansets über den Kolonialismus und nicht zuletzt auch mit den Studien Gilbert Chinards gibt sich dieser Forschungsbereich in Frankreich von Anfang an aufklärend und kämpferisch, lange vor dem Zusammenbruch des englischen und des französischen Kolonialreichs. Ebenfalls in Frankreich sind in der Mitte der achtziger Jahre gleich drei wichtige Publikationen erschienen, darunter der Sammelband Exotisme et création, der die Beiträge eines Kolloquiums in Lyon zusammenfasst, eine weitere Sammlung von Vorträgen im Rahmen eines Kolloquiums der Université de la Réunion, 1988 in Paris mit dem Titel L`éxotisme veröffentlicht, und zuletzt der Katalog L`éxotisme au quotidien, der die gleichnamige Ausstellung im Palais des Beaux-Arts von Charleroi begleitete. Bedauerlicherweise sind diese Forschungen von deutscher Seite bisher nicht ausreichend gewürdigt worden. In Deutschland sind es die Studien Wolfgang Reifs und Anselm Malers, beide 1975 in Stuttgart erschienen, die das Interesse an exotistischem Erzählen angefacht haben. Das wachsende Interesse am Exotischen lässt sich an der Lexikographie des Faches nachvollziehen. Lange ist in den Fachwörterbüchern allein der Begriff "exotische Dichtung" nachgewiesen, im Literatur-Brockhaus von 1984 und im selben Jahr bei Schweikle, ohne dass damit Wertungen des Genres verbunden wären. Von Dietrich Hardt stammt ein umfangreicher Eintrag zum literarischen Exotismus in Borchmeyer / žmegac (1994), der in der Erstausgabe von 1987 noch nicht enthalten war. Auch im Reallexikon macht sich der Wandel der Forschungsparadigmen bemerkbar. Schlagworte wie Exotik oder Exotismus sucht man in der Ausgabe von 1965 ebenso wie in der Erstausgabe der Jahre 1925 und 1926 vergeblich, findet aber in der Ausgabe von 1997 einen gründlichen Beitrag von Gerhart Pickerodt. Erst Mitte der neunziger Jahre jedoch nimmt, wenn die Titellisten der Germanistik aussagekräftig sind, die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten zum literarischen Exotismus zu. In den frühen Achtzigern sind jeweils nur ein oder zwei Titel nachgewiesen, Ende der Neunziger nimmt die Zahl der Publikationen zu: je Band sind nun etwa 15 Veröffentlichen zum Thema Exotismus verzeichnet. Über den Umweg der Ethnopoesie Hubert Fichtes bildet sich schon in den achtziger Jahren eine Forschungsrichtung heraus, die sich der Opfer des Kolonialismus annimmt. Der 1984 von Thomas Theye herausgegebene Sammelband Wir und die Wilden vereinigt Beiträge zur "Geschichte und Gegenwart unserer Beziehung zu den Wilden", einer – so deutet der Untertitel des Buches an – "kannibalischen Beziehung." Gleichzeitig entstehen Anthologien, die exotistische Schreibweisen exemplarisch belegen. Dazu gehören die drei Bände der ebenfalls 1984 von Fischer verlegten Ethnographischen Lesebücher, die sich mit Europamüdigkeit (Bd. 3073), mit dem edlen Wilden (Bd. 3072) und dem Exoten in Europa (Bd. 3071) befassen. Maßgeblich beeinflusst von Edward Saids Orientalism aus dem Jahr 1978 und Gayatri Chakravorty Spivaks In Other Worlds von 1987 entstehen zur selben Zeit im englischen Sprachraum zahlreiche Studien, die kolonialistisches Schreiben über Exoten psychologisch erklären. Anfang der Neunziger finden die Begriffe der postkolonialen Literaturwissenschaft auch in der Germanistik Verwendung. Untersuchungen zum literarischen Exotismus vom Mittelalter bis zur Gegenwart versammelt Thomas Koebners und Gerhart Pickerodts Sammelband Die andere Welt von 1987. Mit "fiktiver Reiseliteratur" befasst sich die Karlsruher Dissertation Daniela Magills von 1989, die Robert Müllers Tropen untersucht. Mit The Location of Culture von Homi K. Bhaba, 1994 erschienen und 2001 übersetzt, kann der postkoloniale Diskurs in Deutschland als eingeführt betrachtet werden. Zu Teilgebieten der Exotismusforschung sind bereits umfangreiche Monographien veröffentlicht worden, die zum Großteil von Nichtgermanisten stammen. Beispielhaft für eine gründliche Erfassung exotischer Einflüsse auf die deutsche Kultur ist Thomas Pekars große Arbeit zum Japandiskurs im westlichen Kulturkontext; aber auch zum Orientalismus, zum Afrika-, China- und Indienbild sind inzwischen mehrfach umfassende Arbeiten vorgelegt worden.
Exotismus und Kunstwissenschaft. Der zweite Forschungszweig, den diese Arbeit berührt, ist gleichfalls recht jung: er widmet sich dem Exotismus in der Kunst. Wegweisend war der mehrbändige Katalogs Fremde Welten, Europäische Phantasien zur gleichnamigen Stuttgarter Ausstellung von 1987, der viele Exotismen in Teilbereichen der bildenden und darstellenden Kunst zum ersten Mal ins Licht der Öffentlichkeit rückt: Exotismen im Musiktheater, in der Plakatkunst, in der Architektur. Aber auch vorher wurde das Vorkommen moderner Exotismen beforscht: schon 1983 veröffentlicht Reinhard Wegner seine rezeptionsgeschichtliche Dissertation zum Exotismusstreit in Deutschland, Monographien zum Primitivismus der französischen Impressionisten, der deutschen Expressionisten und Pablo Picassos schlossen sich an.
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