Sollte man Jubiläen des Kaiserreichs in Winnenden feiern? – Ein Gespräch
A: Ja, unbedingt! Was 1871 entstand, ist doch die Grundlage unserer heutigen Bundesrepublik. Am 1. Januar 1871 war Winnenden eine Stadt des Deutschen Reichs, des Bundes deutscher Staaten!
B: Naja, aber um welchen Preis! Besoffen vom Sieg demütigt man Frankreich! Im Spiegelsaal von Versailles soll der Erbfeind die deutsche Überlegenheit fühlen! Kein Wunder, dass Frankeich nach Rache verlangt. Unsere Urgroßväter hätten nicht sterben müssen, wen deren Großväter Frankreich die Hand zur Versöhnung gereicht hätten!
A: Aus Winnender Sicht ist das zu kurz gedacht. Wenn man bedenkt: Erst das Reich gewährte unserer Stadt militärischen Schutz. Württembergische Herrscher waren nicht in der Lage, französischen Eroberungszügen Einhalt zu gebieten: 1693 nicht und 1717 nicht. Das konnte erst das Reich! Niemand begrüßt den Chauvinismus, der sich daraus ergab, aber man muss doch beide Seiten sehen.
A: In Ordnung. Man versteht den Impuls der Reichsgründung, wenn man ihn auch nicht gutheißt. Allerdings war die Reichsgründung gar kein württembergischer Wunsch, sondern eine Idee Bismarcks. Es ging um Preußen, nicht um Deutschland! Die Württemberger zog es doch eher nach Österreich.
B: Das ist schon richtig. Aber auch die Winnender Revolutionäre von 1848 wollten schon ein „einig Vaterland“! Das war nicht nur Großmannssucht! Man hatte Sehnsucht nach einem Nationalstaat, der Freiheit und Gesetz gewährte, der die Bruderkriege beendete. 1864 schossen Preußen noch auf Winnender, die mit bayerischen Waffenbrüdern bei Nürnberg gegen sie vorrückten.
A: Innerer Frieden ist viel wert. Aber dieser Nationalstaat war aber nicht nur nach innen gerichtet. Und besonders demokratisch ging es im Kaiserreich auch nicht zu! Das Deutsche Reich war ein unduldsamer Militärstaat. In Winnenden gründete sich sogar ein Kriegerverein! Eines dürfen wir nicht vergessen: Das Deutsche Reich hat mit seiner expansionistischen Außenpolitik in Tansania und Namibia verbrannte Erde hinterlassen. Deutschland wurde Kolonialmacht!
B: Das stimmt schon. Am Kolonialismus gibt es nichts zu beschönigen. Aber zumindest in Deutschland wurde das Leben besser. Auch in Winnenden! 1876 wurde die Eisenbahn gebaut, und dank Friedrich List konnten wir unser Vieh jetzt bis nach Schleswig-Holstein exportieren – zollfrei. Neue Gedanken, neue Güter – Winnenden war plötzlich Teil des Ganzen!
A: Ja, wirtschaftlich ging es aufwärts, das ist kaum zu bestreiten. Auch in Winnenden wurden Unternehmen gegründet, man denke an den Schlosser Carl Drück und seine Backöfen! Eger! Die Dampfziegelei! Ohne das Reich mit seinen weiten Horizonten, seiner breiten Öffentlichkeit, wäre diese Entwicklung kaum denkbar gewesen. Wer weiß, ob Winnenden so rasch elektrifiziert worden wäre ohne leuchtende Vorbild Berlins, ganz im Wortsinn?
B: Andererseits: Winnendens Handwerker wurden zur Aufgabe gezwungen. Gerber, Färber, Tuchmacher. Ein Industrieproletariat entstand, Traditionen verschwanden. Winnenden wurde zur Schlafstadt Stuttgarts. Wahrcheinlich war die Industrialisierung der Stadt keine Folge der Reichsgründung. Beschleunigt hat sie den Vorgang allemal.
A: Das kann schon sein. Andererseits: Wenn es Preußen nicht gelungen wäre, uns Württembergern und allen anderen seinen Militarismus einzuimpfen, wäre das Reich vielleicht ein friedlicherer Staat gewesen. Vielleicht ist diese These zu steil: Aber das Kaiserreich bereitete das Dritte Reich vor! Die Zeit, als die Marktstraße schwarz-weiß-rot beflaggt war, wünscht sich doch keiner zurück!
B: Nein, wirklich nicht! Und – richtig, mit welchen Symbolen wollten wir an das Deutsche Reich erinnern? Wie sollten wir in Winnenden diese problematische Sache feiern? Und überhaupt - wäre nicht eine Mahnwache angebracht? Schon jetzt versammeln sich um die Reichsfahne die Ewiggestrigen!
A: Stimmt, Revisionisten und Bismarckheringe wollen wir auf einem Winnender Gedenktag am allerwenigsten sehen! Wir wollen auch unsere Partner in Europa nicht verletzen. Was würden unsere Partner in Albertville dazu sagen, wenn wir in Winnenden eine Art Sedanstag aufführen?
B: Na, so würde es schon nicht werden! Allerdings stimmt eine Sache doch bedenklich: Wenn wir am 18.1. auf dem Markplatz zusammenkämen, würden wir nicht unmittelbar auch den Kaiser feiern, die Hohenzollern! Die sind sowohl am Kolonialismus als auch an der Katstrophe des Ersten Weltkriegs nicht ganz unschuldig. Vater Wilhelm versprach den Frieden, Enkel Wilhelm wollte den Krieg.
A: Kommen wir zu einem Fazit! Sollen wir sagen: Es ist doch alles schrecklich lange her? Feiern könnten wir die Reichsgründung ohnehin nicht, schon wegen der Pandemie. Sollten wir wenigstens öffentlich daran erinnern?
B: Ich weiß es wirklich nicht. Außer der Idee des Bundes hat unser Staat kaum mehr etwas mit dem Deutschen Reich zu tun. Das Deutsche Reich war ein Nationalstaat, und wohin uns Nationalismus geführt hat, ist sattsam bekannt. Unsere Republik ist aus einer Niederlage entstanden – und das ist gut so. Überdies: Wir feiern nicht einmal die Gründung der Bundesrepublik, warum sollten wir die Gründung des Deutschen Reichs bejubeln? Das wäre absurd! Außerdem: Wir sind heute ein Einwanderungsland, kein nach Sprache oder gar Verwandtschaft definierter Nationalstaat.
A: Absolut! Außerdem – damals gehörten das Elsass noch zum Reich, Ostpreußen, Westpreußen, Pommern. Es wäre geradezu unverschämt, das Reich in den Grenzen von 1871 zu feiern, unverschämt gegenüber Frankreich, Russland und Polen!
B: Stimmt. Man kann doch keinen Staat feiern, der mit Blut besiegelt wurde und Blut vergossen hat. Machen wir einen Gedenktag daraus, keinen Festakt. Freuen wir uns besser, dass wir Europäer sind!