Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene

Chronologie zu Autor und Werk

1945

20.1.: Die Familie Treichels verliert auf der Flucht aus dem Wartheland den älteren Bruder Günter, der zu diesem Zeitpunkt etwa anderthalb ist.

1952

12.8.: Hans-Ulrich Treichel kommt im westfälischen Versmold zur Welt. Der Vater, ein Vertriebener, handelt mit Tabakwaren.

1959

September: Treichels Eltern machen sich erneut auf die Suche nach dem verschollenen Bruder.

1968

Die Familie lässt sich in Hanau nieder, wo Treichel an der Hohen Landesschule das Abitur absolviert. 

1972-1979

Es folgt in ein Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

1976

Treichel begegnet H. W. Henze, der ihm die Redaktion des Arbeitstagebuchs zu seiner Oper Die Englische Katze und weitere Libretti (1978–1982) überträgt.

1978

Treichels Gedichtband Nicht ewig auch unbelehrbar erscheint. Ein zweiter Gedichtband, Tarantella, folgt 1982. 1986 publiziert Treichel den Gedichtband Liebe Not, 1990 erscheint Seit Tagen kein Wunder.

1981

Treichel wirkt als Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno. dann wirkt  Von 1995 bis März 2018 lehrte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

1984

Treichel wird mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen promoviert (Fragment ohne Ende. Eine Studie über Wolfgang Koeppen). Ab 2007 wirkt Treichel zudem als Herausgeber der Berliner Werkausgabe Koeppens.

1985

Beim „Literarischen März“ in Darmstadt erhält Treichel den Leonce-und-Lena-Preis. Treichel wird außerdem wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin.

1988

Treichel ist Stipendiat der Villa Massimo in Rom.

1993

Treichel habilitiert sich mit dem Band Auslöschungsverfahren. Exemplarische Untersuchungen zur Literatur und Poetik der Moderne.

1995

Treichel wird Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig.

1998

Bei Suhrkamp in Frankfurt am Main erscheint Treichels Roman Der Verlorene. Treichel wird zudem Mitglied des PEN.

2000

Treichel hat die Frankfurter Poetik-Dozentur inne. Er liest im Rahmen der Frankfurter Poetikvorlesungen zu Der Entwurf des Autors. Im selben Jahr erscheint der Essayband Über die Schrift hinaus.

2002

Treichel veröffentlicht den Roman Der irdische Amor.

2003

28.8.: Der Regisseur Boris von Poser inszeniert eine eigene Bühnenbearbeitung des Romans an den Sophiensælen in Berlin. Treichel wird außerdem mit dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis und dem Margarete-Schrader-Preis für Literatur der Universität Paderborn ausgezeichnet.

2005

Bei Suhrkamp erscheint die Ausgabe Der Verlorene. Text und Kommentar. Im selben Jahr veröffentlicht Treichel den Roman Menschenflug. Treichel wird mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet.

2006

Treichel erhält den Eichendorff-Preis und den Deutschen Kritikerpreis. Im Folgejahr wird er zudem mit dem Preis der Frankfurter Anthologie ausgezeichnet.

2008

In Frankfurt am Main erscheint Treichels Roman Anatolin, 2010 folgt der Roman Grunewaldsee und 2014 Frühe Störung.

2015

Der Verlorene wird für das Fernsehen unter dem Titel Der verlorene Bruder verfilmt und am 9.12.2015 im Ersten gesendet. Regie führt Matti Geschonnek.

2016

In Berlin erscheint Treichels Erzählung Tagesanbruch.

Erzählsituation

  • Standpunkt des Erzählers: Der personale Erzähler ist als Bruder des „Verlorenen“ Teil der Handlung. Er erzählt als inzwischen Erwachsener rückblickend ein Geschehen. Nur gelegentlich wird die Illusion des Bezeugens durch den unmittelbar anwesenden Ich-Erzähler aufgebrochen, etwa dann, wenn er die Unfähigkeit der Eltern, „Freizeit oder Erholung auch nur in Ansätzen zu genießen“, mit ihrer „einerseits schwäbisch-pietistischen, andererseits ostpreußischen Herkunft erklärt“ (S. 19). Eine solche Einordnung ist nur dem erwachsenen Erzähler möglich. Jugendliche Erzähler gibt es in weiteren Romanen über eine Flucht aus Ostpreußen, etwa in Peter Abrahams „Die Schüsse der Arche Noah“ und Alfred Wellms „Pugowitza“.
  • Erzählhaltung: Der Ich-Erzähler schildert das Geschehene aus großer Nähe, wobei er auch kindliche Gedankenspiele nachvollzieht und insbesondere den Deutungen der Situation durch das jüngere Ich viel Platz einräumt. Episodenweise wird der Erzähler zum Protokollanten von Gesprächen ihn umgebender Erwachsener, die meist in indirekter Rede vorgetragen werden. Auch die Gutachten werden mit protokollarischer Akkuratesse in kurzen Auszügen wiedergegeben, direkte Zitate werden mit den Reaktionen der Lesenden montiert. Erzählszenen dominieren, wo die Ereignisse von emotionaler Bedeutung für den Ich-Erzähler sind, etwa bei der Gegenüberstellung mit Findelkind 2307 in der Fleischerei (S. 174).
  • Aufbau: Die Erzählung ist in vier Erzählblöcke gegliedert und folgt im Wesentlichen der Chronologie der Suche nach dem verschollenen Arnold. Die Handlung entwickelt sich stationenweise an den markanten Punkten dieser Suche. Im ersten Abschnitt (S. 7-12) wird zunächst der Erzähler eingeführt und seine Auseinandersetzung mit dem angeblich verhungerten Bruder thematisiert. Der zweite Abschnitt (S. 12-73) beginnt mir der Eröffnung der Mutter, der Bruder sei lediglich verschollenen. Er zeigt den Erzähler im Kreis der Familie, die mittels eines Suchdiensts auf Findelkind 2307 stößt. Aufgrund verschiedener Übereistimmungen wird davon ausgegangen, es könne sich um den verschwundenen Arnold handeln. Allerdings wird per Gutachten durch den Hamburger Professor Keller eine Verwandtschaft ausgeschlossen. Der dritte Abschnitt (S. 73-138) behandelt zunächst die Lebensverhältnisse der Familie und den beruflichen Aufstieg des Vaters. Im Zentrum steht die Fahrt der Familie nach Heidelberg, wo sie im Rahmen eines Abstammungsgutachtens von ihrem ostpreußischen Landsmann Prof. von Liebstedt untersucht werden. Der Abschnitt endet mit dem Tod des Vaters, der angesichts der zwischenzeitlichen Plünderung seines Kühlhauses zwei Herzinfarkte erleidet. Der vierte Abschnitt (S. 138-175) schildert die Wirkung des Gutachtens, dass der Ortspolizist, Herr Rudolph, für die Familie anfordert. Die Mutter hält trotz der geringen Wahrscheinlichkeit einer Verwandtschaft an ihrer Hoffnung fest, ihr Kind wiederzufinden: „Ich lasse mir mein Kind nicht noch einmal wegnehmen“; s. 157). Erst eine durch Herrn Rudolph vermittelte Begegnung mit dem vermeintlichen Sohn in der Fleischerei der Adoptiveltern macht diese Hoffnung zunichte. Mit der Aufforderung der Mutter zur Abfahrt (S. 175) endet der Roman.

„Der Verlorene“: Zusammenfassung

    1. 7-12: Der „Verlorene“ beginnt mit einem Einstieg in medias res: Der Ich-Erzähler springt in einen längeren Erzählbericht, der die Beschreibung von Kindheitsbildern aus dem Fotoalbum der Familie mit Reflexionen über seinen Bruder Arnold verbindet. Dieser sei auf einem Flüchtlingstreck verhungert, erfährt er aus dem Gespräch mit der offenbar traumatisierten Mutter. Schon hier deutet sich an, dass der Erzähler von der Allgegenwart des verlorenen Bruders leidet.
    2. 12-17: Etwas später erfährt der Erzähler mehr über den angeblich toten Bruder: Dieser sei keineswegs verhungert, eröffnet ihm die Mutter im Rahmen einer „Aussprache“ (S. 12). Längere Gespräche sind selten in einer Familie, in der das Schweigen und knappe Formeln den Alltag beherrschen. Sie habe den Bruder einer Unbekannten übergeben, gesteht die Mutter ein, danach sei ihr das „Schreckliche“ widerfahren, das sie nicht benennt. Aus dem Kontext jedoch wird deutlich: Wahrscheinlich wurde sie von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt.
    3. 17-23: Im folgenden Abschnitt führt der Erzähler aus, inwiefern der Verlust des Bruders sein Leben prägt. Er hat Schuldgefühle, ohne für das Schicksal des Bruders verantwortlich zu sein. Dies zeigt sich insbesondere beim gemeinsamen Essen mit der Familie. Auch die Ausflüge der Familie, etwa in den Teutoburger Wald (vgl. S. 18) werden zu wahren „Schuld- und Schamprozessionen“ (S. 19), bei denen sich der jüngere Bruder in den Wagen des Vaters erbricht. Auch die Eltern sind unfähig zur Lebensfreude: Der Verlust des Kindes ist nicht zu kompensieren, auch nicht durch wirtschaftlichen Erfolg, der sich in den zunehmend größeren Fahrzeugen des Vaters manifestiert.
    4. 23-37: Nur während des sonntäglichen Hausarrests findet der zweite Sohn zu sich selbst: Der Erzähler schildert, wie er vorbeifahrende Autos am Motorengeräusch zu erraten sucht und stundenweise Radio hört, obgleich ihn russische Stimmen im Rundfunk bedrücken. Der Vater schafft schließlich einen Fernseher an, über dessen Nutzung er jedoch allein verfügt. Die frömmelnde Schwester des Vaters, Tante Hilde, beobachtet die Familie beim Fernsehen. Allein der Erzähler schämt sich unter den Blicken seiner Tante. Vor dem Fernsehgerät erleben Sohn und Mutter vor seltene Momente innerer Nähe; jede Liebeszene beendet das Erlebnis jedoch. Die Mutter kompensiert ihr Schuldgefühl durch häusliche Arbeit, ganz so, wie der Vater sein vermeintliches Versagen als Beschützer durch besonderen Geschäftssinn ausgleicht.
    5. 38-48: Die unterschwellige Trauer des Vaters weicht nur dann einem kurzlebigen Gefühl der Freude, wenn er mit Fleisch hantiert. Der Sohn berichtet von Schlachtfesten mit der Familie, bei denen er schaudernd die Schlachtung umschreibt. Der Vater, ansonsten aufgeräumter Stimmung und freigiebig im Erzählen von Anekdoten, lässt den Zweitgeborenen bei dieser Gelegenheit seine Geringschätzung spüren: Dem Sohn fehle „eine anständige Portion Hirn“ (S. 42). Die Mutter wird bei solchen Festen immer stiller, es scheint dem Erzähler, als „büße“ sie für Lebensgenuss. Die Buße des Vaters bestehe dagegen aus Arbeit: Er baut das Haus der Familie um und beseitigt auch die Kindheitsräume des Erzählers. Die Mutter jedoch erleidet währenddessen einen Zusammenbruch, der ihr eine Kur einträgt.
    6. 48-58: Eines Tages nimmt der sonst so wortkarge Vater den Sohn beiseite und eröffnet ihm, der es doch längst schon weiß, dass der ältere Bruder lediglich „verloren“ sei und nun gesucht werde. Der Suchdienst des Roten Kreuzes sei verständigt, man benötige zum Abgleich mit „Findelkind 2307“ auch die Hilfe des jüngeren Sohnes. Die Ähnlichkeiten sind groß; so groß, dass der Vater die Metapher wählt, das Findelkind sei dem Erzähler „wie aus dem Gesicht geschnitten“ (S. 55). Diese Formulierung löst beim Erzähler Gesichtskrämpfe aus, deren Beziehung zum verlorenen Bruder er erkennt: Er will ihm nicht ähneln.
    7. 58-69: Die Eltern geben ihr Bemühen um ihr verlorenes und nun möglicherweise wiedergefundenes Kind nicht auf. Der Erzähler wird nun vom Ortspolizisten, Herrn Rudolph, einem Vergleich der Fingerabdrücke unterzogen. Ein Bluttest folgt. Dabei scheint seine Verwandtschaft mit den Eltern genauso plausibel oder implausibel wie die des Findelkinds. Mit dem Näherrücken des Verlorenen fühlt sich der Erzähler zunehmend an den Rand gedrückt: „Doch während Arnold mit jeder Untersuchung immer wahrscheinlicher zu werden drohte, wurde ich mit jeder Untersuchung immer unwahrscheinlicher“ (S. 61). Nun sollen Fotos gemacht werden, damit auch anatomische Übereinstimmungen gefunden werden können. Ein Hamburger Professor, Dr. med. Friedrich Keller, erstellt aus der Distanz ein Gutachten: Nach einem gründlichen Vergleich des Schädels und besonders der Ohren kommt er zum Schluss, Findelkind 2307 könne wohl nicht Arnold sein.
    8. 69-84: Das Gutachten wirft die Mutter noch tiefer in ihre Niedergeschlagenheit, der Vater gibt sich völlig der Arbeit hin und lässt ein neues Kühlhaus bauen; es kommt wiederholt zum Ehestreit. Als die Mutter sich bei einem Sturz eine Schädelfraktur zuzieht, holt sie ihr Trauma ein. Das Ersparte ihres Mannes, gedacht zur Anschaffung eines Opels Admiral, wirft sie ins Feuer. Ein neues Gutachten soll angefertigt werden, ein „anthropologisch-erbbiologisches Abstammungsgutachten“ (S. 83). Der Gutachter soll der Heidelberger Professor Freiherr von Liebstedt werden.
    9. 84-107: Also fährt die Familie zur Untersuchung nach Heidelberg, wo der Vater als „Bauer aus Rakowiec“ sich fehl am Platze fühlt. An der dortigen Universität suchen sie das gerichtsanthropologische Institut auf, wobei ihnen ein ominöser Leichenwagen begegnet. Bei der Untersuchung bemerkt der Erzähler erstaunt, dass der Vater offenkundig zwei verschiedene Füße hat – der linke macht ihm einen „krallenartigen Eindruck“ (S. 89). Es werden nun Fußabdrücke gemacht, alle drei – Mutter, Vater und Sohn – müssen sich zur Erfassung der körperlichen Merkmale entkleiden. Weil der Termin mit dem Vater erst am Nachmittag ansteht, begeben sich die Untersuchten zur Laborkantine. Dort treffen sie den Fahrer des Leichenwagens, der sich in einem an Kafka erinnernden Erzählbericht über die Beamten des Finanzministeriums auslässt. Während der Erzähler den Fahrer betrachtet, als handle es sich um den personifizierten Tod, berichtet dieser aus seinem Gewerbe. Insbesondere die Krematorien mit ihren „neuen Öfen“ beeindrucken ihn – unweigerlich fühlt sich der Leser an die Krematorien der Vernichtungslager erinnert.
    10. 107-126: Der Professor, der ein eigentümliches Symbol am Revers trägt (ein „V oder U“, S. 108) stammt ebenfalls aus Gostyn. In einer Nebenbemerkung wird deutlich, dass Freiherr von Liebstedt das Familiengut noch nicht ganz aufgegeben hat und über die Polen und Russen mit Geringschätzung urteilt. Nachdem Fußabdrücke angefertigt werden, unterzieht Professor von Liebstedt den Jungen einer ausführlichen kraniometrischen Untersuchung. Weil die Ergebnisse erst am nächsten Tag zu erwarten sind, verlassen sie das Gelände und begeben sich auf die Rheinbrücke und besichtigen das Heidelberger Schloss. Ähnlich wie im Untersuchungsraum, in dem der Erzähler Einschusslöcher feststellt, fallen den Besuchern die Verwüstungen des Krieges auf. Beim nächsten Termin eröffnet ihnen der Freiherr, dass seine Untersuchung kein eindeutiges Ergebnis habe liefern können – es sei „[u]nentschieden“ ausgegangen (S. 126).
    11. 126-138: Angesichts der vergeblichen Fahrt erleidet der Vater nach einem Wutanfall einen ersten Infarkt; ein zweiter Herzschlag ereilt ihn, als er feststellen muss, dass das Kühlhaus aufgebrochen wurde. Herr Rudolph, der sich um die Mutter kümmert, veranlasst den Transport des Vaters ins Krankenhaus und hört sich geduldig die Erzählungen des Sohnes an. Der Ich-Erzähler besucht den Sterbenden im Krankenhaus; er spürt, dass sein Vater nicht mehr lange zu leben hat, und schlägt in der von Herrn Rudolph überreichten Bibel Textstellen auf, die sich mit dem Tod befassen. Schließlich nehmen Mutter und Sohn an der Trauerfeier teil; der aufgebahrte Vater erscheint dem Ich-Erzähler geradezu lebendig. Bei der Beisetzung spürt er jedoch die schon zu Lebtag des Vaters greifbare Entfremdung.
    12. 138-175: Die Mutter führt die Geschäfte ihres Mannes fort, kann ihrem pubertierenden Sohn jedoch nicht gerecht werden, der sich nicht wahrgenommen fühlt. Dafür tritt nun Herr Rudolph an die Stelle des Vaters und bringt ihm Verständnis entgegen. Überdies fordert er auf dem Dienstweg das noch ausstehende Gutachten zu Findelkind 2307 an. Sowohl das angeforderte Gutachten als auch ein biomathematisches Zusatzgutachten lassen nur den Schluss zu, dass eine Verwandtschaft der Eltern mit dem Findelkind als unwahrscheinlich anzusehen ist. Die Mutter weigert sich, die von Herrn Rudolph verlesenen Gutachten zu akzeptieren. Als sie anerkennen muss, dass auch eine Adoption zum Scheitern verurteilt ist, weil Findelkind 2307 bereits adoptiert wurde, bittet sie sich von Herrn Rudolph einen Gefallen aus: Sie will den inzwischen fast Volljährigen mit eigenen Augen sehen. Heinrich, so heißt das ehemalige Findelkind, absolviere eine Fleischerlehre im elterlichen Geschäft. Rudolph fährt mit der Mutter und dem Ich-Erzähler zur besagten Fleischerei. Während der Sohn beim Blick durch das Schaufenster eine bestürzende Ähnlichkeit Heinrichs zu sich selbst konstatiert, sagt die Mutter lediglich: „Mach das Fenster zu. Wir fahren.“ (S. 175). Hier endet der Roman.

Figuren

Erzähler

Der Ich-Erzähler bleibt bis zuletzt namenlos, dürfte aber zum Zeitpunkt der Handlung höchstens sechzehn sein. Den verschollenen Bruder kennt er lediglich von einer Photographie (S. 7 u. ö.) und den Erzählungen der Mutter, persönlich gesehen hat er ihn noch nie (S. 10). Dennoch steht er in stetiger Konkurrenz zu dem Verlorenen, die er nicht abschütteln kann. Offenkundig etwas dicklich, schämt er sich aus verschiedenstem Anlass und ringt um die Aufmerksamkeit seiner Mutter. Der Vater bleibt ihm bis zu dessen Tod fremd und begegnet seinem Sohn mit kühler Distanz. Das Verhalten des Vaters ist für den Sohn schwer durchschaubar, er berichtet wiederholt, der Vater sei jähzornig und spreche kaum mit ihm. Die Mutter fällt aufgrund ihres Kriegstraumas als Bezugsperson für den Erzähler ebenfalls aus, spätere Angebote mütterlicher Zärtlichkeit weist er zurück.

Arnold

Der Bruder des Protagonisten heißt ebenso wie dessen Vater Arnold; nach Angaben der Mutter sei er „auf der Flucht vor den Russen“ verhungert. Erst später (S. 49) erfährt der Erzähler, der Bruder sei keineswegs verhungert, sondern „verlorengegangen“ (S. 49). Von diesem Zeitpunkt an beherrscht die Suche nach dem „Verlorenen“ die Romanhandlung. Der Text führt zwar bereits im ersten Satz den personalen Ich-Erzähler ein („Mein Bruder“, S. 7) – im Zentrum steht jedoch der „untote“ Bruder (S. 17). Er spielt die „Hauptrolle“ in der Familie, während dem Protagonisten die „Nebenrolle“ bleibt (S. 17). Obgleich – zumindest nach Auffassung der amtlichen Stellen – Findelkind 2307 nicht Arnold sein kann, wird er sowohl von der Mutter als auch vom Erzähler als solcher angesprochen.

Vater

Der „Vater“ Arnold verliert als ostpreußischer Landwirt in beiden Weltkriegen seinen Hof (S. 45). Während der Vertreibung aus Rakowiec wird er Zeuge der Vergewaltigung seiner Frau, kann aber nicht eingreifen. Nachdem sich die Familie im Ostwestfälischen niederlässt, macht er als Leihbibliothekar, Lebensmittelhändler und Lebensmittelgrossist Karriere im Deutschland der Nachkriegszeit. Seine steigenden Einkünfte haben zur Folge, dass sich die Familie Luxusgüter und den Umbau des Wohnhauses leisten kann. Bezeichnenderweise stirbt der Vater an den Folgen zweier Herzinfarkte, als er erkennen muss, dass er mit der Plünderung des eigens errichteten Kühlhauses durch Unbekannte zum dritten Mal seine Lebensgrundlage verliert (S. 131). Dem Sohn gegenüber zeigt sich der Vater kühl und desinteressiert. Er spricht kaum länger mit seinem Sohn und beschränkt seine Erziehungsarbeit auf barsche Befehle. Ansonsten gibt er im Werk sentenzhaft verknappte Plattitüden von sich: „Schweineblut ist Lebenssaft“ (S. 39), „Hirn macht klug“ (S. 42). Der „aufbrausende und zum Jähzorn neigende Mann“ (S. 44) wird als wenig einfühlsam dargestellt. Seine Härte mildert sich allerdings während der regelmäßig stattfindenden Schlachtfeste, auch zeigt er sich der Mutter gegenüber durchaus fürsorglich und zugewandt. So legt er beim Besuch in Heidelberg „seinen Arm um die Schultern der Mutter“ (S. 118). Die Darstellung des Vaters erinnert passagenweise an Kafkas bekannten Brief an den Vater (1919) – insbesondere dessen Kälte, Impulsivität und die Knappheit der Sprache finden sich auch bei Kafka. Wie wenig vertraut der Erzähler mit seinem Vater ist, macht die Beobachtung deutlich, er habe „noch nie die nackten Füße des Vaters gesehen“ (S. 88) und es sei ihm „auch ganz natürlich erschienen, daß der Körper des Vaters nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus gestärkten Hemden, einem Anzug mit Weste und Lederschuhen bestand“ (S. 89). Während die Mutter zumindest im Ansatz versteht, was der Verlust ihres Sohnes für dessen Bruder bedeutet, bagatellisiert der Vater dessen Leid – für den Ich-Erzähler sei es „noch am einfachsten“ (S. 120). Nach der vergeblichen Fahrt zu Professor Liebstedt, die der Vater als „Zeitverschwendung und Geldverschwendung“ empfindet (S. 127), findet er das Kühlhaus deines Fleischwarengroßhandels aufgebrochen und den Warenbestand teils verdorben vor (S. 127). Nach zwei zunächst unerkannten und als „Kreislaufschwäche“ diagnostizierten Herzinfarkten (S. 127 f.) verstirbt der Vater, ohne seinen Sohn am Sterbebett zu erkennen.

Mutter

Die Mutter des Ich-Erzählers ist schwer traumatisiert vom Verlust ihres Erstgeborenen, von dessen Foto sie sich kaum trennen kann. Verzweifelt hält sie an den kleinsten Indizien fest, die ein Wiederauftauchen des Verlorenen belegen könnten – dies führt dazu, dass es ihr an Zuwendung für den jüngeren Sohn fehlt: „Früher hatte mich meine Mutter nie gedrückt, und jetzt wollte ich nicht mehr gedrückt werden“ (S. 74). Häufig werden im Verlauf ihr Schweigen und heftige Weinattacken geschildert, die ein intensives Zittern mit sich bringen („die Mutter bebte“, S. 73, siehe auch S. 159: „Nun wurde das Zittern so stark, daß die Hände den Kopf nicht mehr hielten und mit dem Kopf mitzittern“, S. 159). Der Erzähler ist nurmehr Ersatz für den verschollenen Erstling, dessen Verlust sie erfolglos damit kompensiert, dass sie den jüngeren Bruder an sich drückt und förmlich in sich hineindrückt (S. 74, S. 176). Sowohl der Vater als auch die Mutter suchen den Verlust „sieben Tage die Woche“ (S. 79) in rastloser Tätigkeit zu vergessen, ehe die Mutter einen „Schwächeanfall“ (S. 80) erleidet, stürzt und sich dabei eine Schädelfraktur zuzieht. Vom Verlust ihres Kindes kann sie sich nicht erholen und unternimmt immer wieder Anläufe, ihren verlorenen Sohn wiederzufinden. Nach dem Tod des Vaters unterstützt sie der Gemeindepolizist, Herr Rudolph, bei ihrer Suche. Die Hoffnung auf eine baldige Heirat ist, wenn man die Aussage der Mutter gegenüber dem Ich-Erzähler ernst nehmen kann, vergeblich. Bezeichnenderweise endet der Roman mit dem resignativen „Wir fahren“ der Mutter (S. 174), nachdem sich auch ihre letzte Hoffnung, ihren verschollenen Erstgeborenen wiederzufinden, zerschlagen hat.

Hilde

Hilde, die verwitwete Tante des Erzählers väterlicherseits, ist die Karikatur einer älteren Dame mit betonter Frömmigkeit und nach Urteil des Erzählers eine der „medienabstinentesten Personen“ seiner Bekanntschaft (S. 28). Dem Fernseher, den sie als sündig verwirft, wendet sie demonstrativ den Rückem zu. Ihr Eintreffen ist aus dem Herumliegen des „aufgeschlagenene[n] Kirchenblättchen[s]“ ersichtlich (S. 29). Hilde wird im Verlauf der Erzählung nur in diesem Kontext (S. 27-30) erwähnt.

Herr Rudolph

Herr Rudolph ist der Revierpolizist in jenem Bezirk, in dem die Eltern wohnen und „so etwas wie ein Freund der Familie“ (S. 58). Er ist bei der ersten Befundserhebung durch die Kriminalpolizei anwesend. Herr Rudolph ist auch, der dem Vater die unheilvolle Neuigkeit seines wirtschaftlichen Ruins überbringt (S. 127). Schließlich übernimmt Rudolph, ein „weitaus freundlicherer Mensch als der Vater“ (S. 129), nach dem Tod des Vaters dessen Rolle im Leben des Ich-Erzählers, mit dem er „wie mit einem Erwachsenen spricht“ (S. 129). Im Gegensatz zum Vater hört der Polizist Rudolph Operettenplatten mit der Mutter (S. 141). Als Herr Rudolph sich mit dem Grinsen des Erzählers konfrontiert sieht, herrscht er ihn an – der Knabe stellt sich daraufhin vor, Rudolph verwandle sich in den Vater (S. 169). Auf Nachfrage des Erzählers schließt die Mutter eine Heirat aus: „[S]ie werde nein sagen, obwohl sie ja sagen wolle“ (S. 171).

Freiherr von Liebstedt

Zur Erlangung eines zweiten Abstammungsgutachtens setzt der Vater durch, dass ein „Freiherr von Liebstedt“ tätig wird, „Professor für Anthropologie und Erbbiologie an der Universität Heidelberg und Leiter des Gerichtsanthroplogischen Laboratoriums“. Der Mediziner ist fiktiv. Eine ritterliche Familie von Liebstedt, eines Stammes mit den Rittern von Oßmannstedt und den von Denstedt, ist urkundlich von 1211 bis 1348 nachgewiesen, Liebstedt liegt jedoch im Weimarer Land, nicht in Ostpreußen, woher der untersuchende Professor angeblich stammt und „ein großes Gut besessen habe“ (S. 109). Professor von Liebstedt, ein ostelbischer Junker, verkörpert in seiner distanzierten, statusbewussten Haltung gegenüber den Klienten den Typus des dünkelhaften Arztes, der seine Patienten lediglich als Untersuchungsgegenstände wahrnimmt. Sowohl die Beschreibung der Untersuchungsmethode, die eine Verwandtschaft aufgrund äußerlicher Befunde nachweisen soll, als auch das Verhalten während der Untersuchung (er raucht ungeniert), vor allem aber das abwertende Gerede über Polen und Russen (S. 109) rücken den Mediziner in den Dunstkreis der im Dritten Reich kompromittierten Ärzteschaft der Nachkriegszeit.

Leichenwagenfahrer

Als einzige Figur, die Treichel in Der Verlorene porträtiert, verdient der kafkaesk anmutende Leichenwagenfahrer besondere Beachtung. Er, der sein Geschäft mit dem Tod macht, ist im Gegensatz zum allgemeinen Ruf von Bestattern geradezu geschwätzig. Dem Erzähler, der den „Tod“ (also den Leichenwagenfahrer) genau betrachtet, fällt dessen „gerötetes Gesicht“ und seine „bräunliche[n] Zähne“ (S. 104). Gewissermaßen als Zeichen der Verwesung schreibt der Ich-Erzähler dem Fahrer, der ausführlich über die Funktionsweise von modernen Krematorien schwadroniert, einen „Altersfleck“ zu (S. 105), den er wenig später als „Grabfleck“ (ebd.) identifiziert. Nach dem Tod des Vaters im Krankenhaus erhält der Sohn von Herrn Rudolph eine Bibel und findet ohne viel Mühe im Register den Begriff „Tod“ und „eine endlose Liste“ von Einzelnachweisen (S. 132), ehe er in einen eskapistischen Traum vom Baden im „Toten Meer“ ausbricht. Die Endgültigkeit des Todes scheint den Ich-Erzähler jedoch zu überfordern – er meint unter dem Leichentuch bei der Aufbahrung eine „atmende Bewegung“ festzustellen (S. 135) und sieht einen „unaufhörlich atmenden Vater“ (ebd.), den am folgenden Tag der familieneigene Opel Admiral als „grinsender Totenwagen“ (S. 137) aufnimmt.

Findelkind 2307

Findelkind 2307, der als vage Hoffnung ins Leben der Mutter trifft (S. 51), ist der Familie nur aufgrund der insgesamt drei Vergleichsgutachten bekannt. Eine direkte Gegenüberstellung verweigern die amtlichen Stellen mit Verweis auf das Kindeswohl (S. 62). Alle Gutachter machen deutlich, dass eine Verwandtschaft nach den Kriterien des derzeitigen Standes der Wissenschaft nahezu ausgeschlossen ist. Zuletzt kann Herr Rudolph, der sich seine dienstlichen Befugnisse zunutze macht, das Findelkind in seiner Adoptivfamilie ausfindig machen. Der vermeintliche Arnold macht im Betrieb der Adoptiveltern eine Lehrer als Fleischer: „Arnold der Wichtigtuer heißt jetzt Heinrich und wird Fleischer“ (S. 168). Das Grinsen des Erzählers, eine Reaktion auf diese Beobachtung, lässt sich im Zusammenhang mit den Schlachtritualen des Vaters sehen, die dieser offenkundig genießt – der potentielle Sohn wäre damit ein geeigneter Nachfolger.

Stellenkommentar und Sacherläuterungen

Der Verlorene

Erst auf S. 13 (und erneut auf S. 49) wird dem Erzähler (und damit dem Leser) eröffnet, dass der „Verlorene“ der Bruder ist, den die Mutter angesichts der Bedrohung durch die Rote Armee abgegeben hatte. Die abwesende Titelfigur bestimmt das Leben aller anderen Figuren, insbesondere des Erzählers. Um den „Verlorenen“, um Arnold, kreist die Handlung – dadurch wird der Ich-Erzähler an den Rand gedrängt und damit selbst zum „Verlorenen“. Der jüngere Sohn verfügt über keine eigene Identität, er wird zur Gedächtnisspur der Mutter: „Ich war nur das, was sie nicht hatte“ (S. 140). Unweigerlich denkt der Leser bei der Einführung der Grundkonstellation des „Verlorenen“ an die neutestamentarische Parabel vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 11-32). Allerdings geht im biblischen Text der Sohn nicht verloren, sondern verlässt das elterliche Anwesen. Zweitens geht nicht ältere Sohn verloren, sondern der jüngere – der, drittens, im Gegensatz zu Treichels Roman auch zurückkehrt. Bezüge sind gleichwohl erkennbar – sowohl die Rivalität der Geschwister wird im Bibeltext thematisiert als auch ein vergebender, großzügiger Vater, wie ihn der Erzähler schmerzlich vermisst. Bernhardt (2018) weist auf Bezüge des nominalisierten Partizips zur Titelvergabe bei Thomas Bernhard hin (Der Untergeher) hin.

Bilder, S. 7, S. 30

Die Erzählhandlung beginnt mit einer Photographie – einem medial übermittelten Erlebnis. Es löst die Trauer der Mutter ebenso aus wie die Erinnerungen des Protagonisten an weitere Kindheitsbilder und seine mangelnde Sichtbarkeit (S. 8); insbesondere auf dem Taufbild fällt dieser Umstand besonders ins Gewicht (S. 9). Sarkastisch bemerkt der Ich-Erzähler, die zur Verwandtschaftsfeststellung gemachten Bilder seien beachtlich akkurat: „Die Hinterkopfaufnahmen gehören gewiß zu den sorgfältigsten Photographien, die jemals von mir gemacht worden sind“ (S. 68). Der Bruder ist im Bild jedoch präsent, so sehr, dass der mögliche Verlust des Fotos den Verlust der Person bedeutet: „Würde es verlorengehen, wäre der ganze Arnold verloren“ (S. 65). Immer wieder wird im Roman die Wirkmacht von Bildern betont. Beispielsweise verweigert sich Hilde, die Tante des Erzählers, dem „Bann der Bilder“, indem sie dem Fernsehen den Rücken zukehrt (S. 30). Während die traumatisierte Mutter sich von der Betrachtung der Bilder ihres verlorenen Sohns Arnold nicht lösen kann, ist der Vater „gefeit“ vor den Bildern (S. 30), sein „Hirn“ wird als „weitgehend bilderresistentes Programm zur Organisation und Verteilung anfallender Arbeiten“ bezeichnet wird. Erinnerungen werden abgewehrt. Auch bei der Suche nach dem verlorenen werden immer wieder Photographien herangezogen, etwa bei der Identifikation von Findelkind 2307 (S. 53) und beim Abgleich mit den möglichen Eltern und dem Geschwisterkind (S. 63). Aufschlussreich ist besonders der Besuch des Protagonisten beim Photographen: Er empfindet die Bilder als entblößend, weil sie an die Vergänglichkeit der Abgebildeten erinnern (S. 65).

Wolldecke, S. 7

Das Kinderfoto auf einer weißen Decke (oder auf einem weißen Kunst- oder Eisbärfell) gehört zur Tradition des Kinderbildes; die Wolldecke korrespondiert mit der ebenfalls weißen Taufdecke, die den Erzähler bedeckt.

Im letzten Kriegsjahr, S. 7

Das Ereignis soll laut dem Erzähler am 20.1.1945 stattgefunden haben, also mitten im Vormarsch der Roten Armee auf die deutschen Ostgebiete. Da Arnold offenbar auf der Flucht noch gestillt wurde (also etwa ein Jahr alt war, S. 11), der mutmaßliche Sohn (Findelkind 2307) am Ende der Romanhandlung eine Fleischerlehre beginnt (also mindestens 14 ist, S. 168, aber wahrscheinlicher 17, nämlich „fast schon volljährig“, S. 166), dürfte der Roman in den Fünfzigern und frühen Sechzigern spielen. Der auf das Geschehen zurückblickende Ich-Erzähler ist im Handlungsverlauf als jüngerer Bruder des Verschollenen noch ein Kind.

Osten, S. 7

Die im masowischen Rakowiec ansässige Familie des Ich-Erzählers wurde aus den deutschen Ostgebieten vertrieben, der Bruder des Protagonisten sei „während des langen Trecks in den Westen“ verhungert (S. 11, 12). Erst später erfährt der Ich-Erzähler, Arnold sei „verlorengegangen“ (S. 13). Die Vertreibung von annähernd zehn Millionen Deutschen aus den vormals deutschen Ostgebieten Ostpreußen, Pommern und Schlesien sowie Königsberg ist ein Ergebnis alliierter Absprachen auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam. Der eigentliche Ausgangspunkt der Vertreibung ist allerdings der deutsche Überfall in Polen - ein Umstand, der im Roman verschwiegen wird,

Zuhaus, S. 7

Das Heimatthema ist in einem Roman, der von Flucht und Heimatverlust ausgeht, überaus präsent: Der Heimatverlust bringt die Mutter des Ich-Erzählers dazu, zu weinen, der Vater ist ein entwurzelter „Bauer aus Rakowiec“.

Box, S. 8

Die „Box 44“ (oder „Preis-Box“, auch „Vier-Mark-Box“) wurde 1933 bis 1938 von AGFA produziert und war trotz des lichtschwachen Objektivs eine der gebräuchlichsten Kameras der Vokriegszeit, die auch Privatleute sich leisten konnten. Der kastenförmige Apparat verfügte über eine Dreifachblende.

Treck, S. 11

Nach dem Vorrücken der Roten Armee machten sich im Januar 1945 zahlreiche Frauen, Kinder und Alte auf den Weg nach Westen (Männer im wehrfähigen Alter wurden in den Volkssturm gepresst). Bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt waren die Flüchtlinge zu Fuß, mit Handkarren und Pferdefuhrwerken unterwegs, die Verluste waren hoch, Tote wurden zurückgelassen. Nicht selten wurden Trecks in Kriegshandlungen verwickelt, der Straße verwiesen oder beschossen. Die Aussiedlung der Deutschen in den ehemaligen Ostgebieten (1946-1948) führte zu erneuten Trecks von Vertriebenen.

Aussprache, S. 12

Die Kommunikation in der Familie des Ich-Erzählers ist vielfach gestört, so heißt es vom Vater, ihm „reichten kurze Befehle und Anweisungen“ (S. 12), die Gespräche der Mutter dagegen führten zu „Tränen und Schweigen“ (S. 12).

Russen, S. 14

Die Russen tauchen im Roman als Verfolger, Vertreiber und Kriegsgegner auf; sie vergewaltigen die Mutter, was diese dem minderjährigen Ich-Erzähler verschweigt; der Leser erfährt es durch die zahlreichen Andeutungen, der Mutter sei „etwas Schreckliches“ widerfahren (S. 13, 14). Häufig wird die Synekdoche verwendet: anstelle von „den Russen“ gebraucht der Erzähler den generischen Singular („der Russe“), wie er auch nach dem Krieg noch lange üblich war (S. 25 u. ö.) und sich keineswegs nur auf Russen bezog, sondern die zahlreichen Weißrussen, Ukrainer und andere Ethnien in der Roten Armee miteinschloss. Beim Radiohören stößt der Ich-Erzähler auf „russische oder wenigstens russisch klingende Worte“ (S. 24), denen er „begierig“ lauscht (S. 25), ohne sie doch zu verstehen. Dabei ähnelt die „Russenrede“ (S. 25) zuweilen einem „melancholischen Singsang“, dann aber klingen die Radiobeiträge „wie Befehle oder wie Anweisungen“ (S. 25). Wenig Respekt zollt Professor von Liebstedt den Russen, als er ihnen unterstellt, sie hätten „noch jeden Boden zuschanden gemacht“ (S. 109). Er führt kurz darauf aus, die Russen habe man „noch nicht mal als Knechte gebrauchen“ können (S. 111).

Königsberg, S.14

Die ostpreußische Universitätsstadt Königsberg, seit dem Ersten Weltkrieg durch den Danziger Korridor vom Reichsgebiet getrennt und heute als Kaliningrad eine russische Enklave, wurde im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht zur Festung ausgebaut. Nach massiven Luftschlägen der Royal Air Force 1944 kreist die Rote Armee die Stadt im Januar 1945 ein. Nach der Kapitulation am 9. April 1945 kommt es zu schweren Übergriffen auf die deutsche Zivilbevölkerung, insbesondere zu Vergewaltigungen, wie sie auch die Mutter des Ich-Erzählers erlebt.

Dawai! Dawai! S. 15

Russ.: Los, los! Weiter, weiter!

Scham, S. 17

Der Ich-Erzähler schildert das Gefühl der Scham als zentrale Empfindung seiner Kindheit. Er schämt sich dafür, dass er isst (S. 17), Radio hört, Fahrrad fährt oder „mit den Eltern einen Ausflug oder Spaziergang“ macht (S. 18). Der Erzähler schämt sich auch dafür, dass ihn seine Tante beim Fernsehen ansieht (S. 30) und für die Intimität, die beim gemeinsamen Fernsehen mit der Mutter im „halbdunklen Raum“ entsteht (S. 31). Die Dominanz der Empfindung von Scham wird durch die häufige Wiederholung des Begriffs deutlich (in verschiedener Zusammensetzung allein auf S. 31 fünf Erwähnungen). Auch die Scham für andere kennt der Ich-Erzähler: So empfindet er den Schaukasten des örtlichen Fotografen als „eine Art Pranger“ (S. 65). Auch die Untersuchung der Körperproportionen durch die Laborantin Professor Liebstedts erzeugt Scham: „Ich begann aus Scham und Verlegenheit zu glühen und spürte, wie sich ein Schweißfilm auf der Brust bildete“ (S. 95). Dieselben Empfindungen überkommen den Erzähler, als der Professor kurz darauf selbst die „Höcker und Erhebungen“ des Schädels abtastet und kommentiert (S. 115). Selbst der Tod des Vaters, die schwarze Trauerkleidung der Mutter und die ebenso schwarze Trauerbinde sind dem Erzähler peinlich: „Ich schämte mich der schwarzen Binde, ich trug sie wie einen Makel“ (S. 134). Zuletzt schämt sich der Erzähler, als er sich die Mutter in „inniger Vertrautheit mit [s]einem inzwischen verlorenen Bruder“ vorstellt (S. 171). Die Scham mache es ihm unmöglich, „der Mutter auch nur das geringste Zeichen von Nähe zu zeigen“ (S. 171).

Teutoburger Wald, S. 18

Der Teutoburger Wald ist ein ausgedehntes Mittelgebirge im Niedersächsischen Bergland. Aufgrund landschaftlicher Reize und seiner historischen Bedeutung (Schauplatz der Varusschlacht) ist der Teutoburger Wald ein beliebtes Naherholungsgebiet.

Bismarckturm, S. 19

Die zu Ehren des vormaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck errichteten Bismarcktürme wurden und werden überwiegend als Aussichtstürme genutzt. In Ostwestfalen gibt es Bismarcktürme unter anderem in Höxter, Herford und Bad Salzuflen. Möglicherweise ist der Bismarckturm in Tecklenburg gemeint. Tecklenburg nämlich an der Bahnlinie der Teutoburger-Wald-Eisenbahn. Ein Waldweg führt vom Bahnhof Tecklenburg in die Nähe des dortigen Bismarckturms (Mitt. R. Schöller, 27.12.2020).

Schwäbisch-pietistischen Herkunft, S. 19

Ostpreußen war eines der Zentren der Mission durch die Herrnhuter Brüdergemeine, die zudem Niederlassungen im Schwäbischen besaß (etwa in Korntal bei Stuttgart). Während der pietistischen Frömmigkeit eine gewisse Lust- und Diesseitsfeindlichkeit unterstellt wird, gelten Ostpreußen in stereotyper Wahrnehmung als besonders arbeitsam und fleißig, etwas, das man auch den Schwaben nachsagt.

Kirchturm, S. 19

Denkbar wäre nach Aufassung Bernhardts (2018), dass von Versmold die Rede ist, das südlich des Teutoburger Walds liegt und ans Münsterland grenzt. 

Buckeltaunus, S. 21

Die Familie des Protagonisten besitzt einen „silbergrau lackierten“ Ford Taunus G73A (Baujahre 1948-49), der nach der Form seiner Karosserie mit Buckelheck auch „Buckeltaunus“ genannt wurde; ferner fährt der Vater als Geschäftswagen einen Opel Olympia (S. 21). Gemeint ist möglicherweise das im Dezember 1947 produzierte, überarbeitete Modell. Danach wird als Symbol des gesellschaftlichen Aufstiegs eine „schwarze Limousine mit den Haifischzähnen“ angeschafft. Diese wiederum wird verkauft, als der Vater einen „Opel Admiral“ anschafft (S. 80), um den Status der Familie zu heben – zudem ein hilfloser Versuch, die Mutter aus ihrer Melancholie zu befreien: „Sie wolle keinen Admiral, sagte die Mutter. Sie wolle ihr Kind“ (S. 82).

Erfolg, S. 21

Nach der Vertreibung aus Ostpreußen, die den Landwirt entwurzelt und seiner Lebensgrundlage beraubt, baut sich der Vater ein florierendes Unternehmen auf. Der geschäftliche Erfolg erlaubt die Anschaffung von Statussymbolen der Wirtschaftswunderzeit: mehrerer Autos und eines Fernsehers (S. 25). Auch die Renovierung des „Fachwerkhaus[es]“, das die Familie bewohnt, steht im Zusammenhang mit dem Geschäftserfolg des Vaters. Der Aufstieg des Vaters und sein Geschäftssinn werden im Verlauf des Romans verschiedentlich erwähnt. Vom Betreiber einer „Leihbücherei“ (S. 33) entwickelt sich der Vater zum geprüften Großkaufmann. Seine Hinwendung zum Kunden („man müsse auch ein Ohr für die Sorgen der Menschen haben“, S. 33) steht im schroffen Kontrast zur Distanz gegenüber dem eigenen Sohn, für den er als Vater kein „Ohr“ hat.

Teutoburger-Wald-Eisenbahn, S. 22

Die bereits im 19. Jh. gegründete Teutoburger-Wald-Eisenbahn beförderte ab 1945 Ausflügler aus dem Gütersloher Raum ins Tecklenburger Land.

Radio, S. 24

Insbesondere sonntags lauscht der Erzähler dem Radio, auch russischen Sendern, allerdings nur bis zur Anschaffung eines Fernsehers. Er berichtet von einer „beängstigenden Wirkung“, die von dem „melancholischen Singsang“ (S. 25) der russischen Sprache ausgehe.

Fernseher, S. 25

Erst seit 1952 wird in Westdeutschland ein regelrechtes Fernsehprogramm ausgestrahlt. Wie beim „exzessive[n] Radiohören“ entwickelt der Erzähler eine besondere Neigung zum Fernsehkonsum, was der Vater – im Gegensatz zur Mutter – als Müßiggang verurteilt und einschränkt: „Kasten aus!“ (S. 27), „Wer fernsieht, arbeitet nicht“ (S. 28). Der gelegentlich anwesenden Tante Hilde erscheint das Medium gar als „Erfindung des Teufels“ (S. 28), dem sie den Rücken zuwendet. Die Vorzüge des Fernsehens erscheinen dabei als Nachteile: Sie erlaube dem Menschen, „Zeit und Raum“ zu überwinden, dabei gebe sie „jegliche Privatsphäre der Welt und ihrem Treiben“ preis (S. 28).

Unsere Kirche, S. 28

Der Erzähler erwähnt als Lektüre seiner Tante väterlicherseits eine „Wochenschrift mit dem Titel ‚Unsere Kirche‘“ (S. 28). Die Wochenzeitung der Evangelischen Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche erschien in der ersten Ausgabe am 30.1.1946 mit der Lizenz der britischen Militärregierung zunächst als Neue Kirche, ab 1951 erschien sie wöchentlich unter dem Titel Unsere Kirche. Verlegt wurde das Blatt zunächst in den Von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld.

Wochenlosung, S. 28

Die von der Tante des Erzählers „mit besonderer Aufmerksamkeit“ studierte „Wochenlosung“ (S. 28) verortet die Frömmigkeitspraxis der Tante im Umfeld pietistischer Bewegungen. In der Herrnhuter Brüdergemeine wird seit 1728 einer alttestamentlichen Losung der neutestamentliche Lehrtext zugewiesen, mit dem sich der Gläubige auseinandersetzen kann. Ostpreußen gehörte seit einer Missionsreise des Grafen Zinzendorf im Jahr 1736 zu den Hauptregionen, in denen die Herrnhuter tätig waren. Die starke Betonung der Innerlichkeit im Roman, der Scham des Erzählers und seine Auseinandersetzung mit Schuld, lässt sich mit der hier angedeuteten Verwurzelung im Pietismus begründen.

Sexualität, S. 31

Das Thema Sexualität ist im Roman einerseits zentral (durch die Vergewaltigung der Mutter durch russische Soldaten), andererseits ist sie tabuisiert und löst Schamgefühle aus, etwa dann, wenn ein an sich harmloser Filmkuss zur „bedrängenden Szene“ wird (S. 31).

Trauma, S. 32

Durch ihre Vergewaltigung und den damit verbundenen Verlust ihres Sohnes ist die Mutter traumatisiert. Sie zeigt im Verlauf zahlreiche Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörzungen. Neben einer durch häufiges Weinen angedeuteten Langzeitdepression (Dysthymie) sind es Ängste, emotionale Taubheit und Sprachlosigkeit, wenn es darum geht, über das Vorgefallene zu sprechen. Insbesondere das Verhältnis zu ihrem jüngeren Sohn ist durch das Trauma erheblich gestört.

Verderblichkeit, S. 34

Das Vanitas-Motiv wird im Verlauf der Handlung immer wieder aufgegriffen, besonders entfaltet wird es bei der Beschreibung der Zeitnot der Lebensmittelhändler: „Die Uhr tickte, und mit jeder Minute, die verstrich, welkte der Salat, faulten die Bananen, verfärbte sich die Wurst, wucherte der Schimmelpilz“ (S. 34). Auch in Bezug auf Menschen wird das Vanitas-Motiv verwendet, das in barocker Tradition an den Tod gemahnt: „Und doch sah ich, wie die Zeit an ihnen fraß, wie die Kinder älter wurden und das Elternpaar alt. Wenn ich in den Schaukasten mit den Photos blickte, dann begriff ich, daß die Menschen sterben mußten“ (S. 65). Ein Symbol der Vergänglichkeit sind auch der bereits verfallende Pferdestall („mit einer mehligen Schimmelschicht überzogenes Pferdegeschirr“, S. 76).

Essen, S. 35

Als Sohn eines Lebensmittelgroßhändler und ehemaligen Landwirts ist der Erzähler häufig mit der Produktion und dem Konsum von Nahrung konfrontiert. Die Familie kompensiert die Erfahrung von Hunger während der Flucht und die Entbehrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit mit überbordendem Fleischkonsum. Gerade der Erzähler leidet im Hinblick auf seine gute Ernährungssituation unter Schuldgefühlen: „Arnold also war dünn. Ich dagegen war dick“ (S. 145). Auch die wiederholte Betonung seines Körpergewichts (die Laborantin greift mit einer Maßzange eine „Speckfalte des Bauches“, S. 95, Freiherr von Liebstedt bemerkt, der Erzähler habe „ein wenig zu viel Babyspeck am Leibe“, S. 114) ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Möglicherweise hängen die Vanitasbilder verfallender Nahrungsmittel (S. 34) mit diesem Gefühl zusammen. Nicht ohne Grund bekennt der Erzähler seine Rührung angesichts vergänglicher Lebensmittel: „[N]och Jahre später wunderte ich mich darüber, wie traurig ich angesichts eines Gemüseregals oder einer Frischwurstauslage werden konnte“ (S. 38). Auch die ebenso üppige wie distanzierte Schilderung von Schlachtungen und des anschließenden Verzehrs von Fleischwaren unterstreichen, dass der Erzähler dem rauschhaften Fleischkonsum der Familie mit Ekel und innerem Abstand begegnet. Selbst der in Gestalt des Heidelberger Leichenwagenfahrers auftretende Tod (S. 104) schwelgt in Beschreibungen des üppigen Kantinenessens der Oberfinanzdirektion.

Konkurrenz, S. 35

Die Konkurrenz mit dem verschwundenen, in der Familie aber überaus präsenten Bruder Arnold setzt den Erzähler unter fortwährenden Legitimationsdruck. Angesichts des vermuteten Leids des Bruders auf der Flucht muss sein Wohlsein rechtfertigen. Etabliert wird das Thema der Konkurrenz durch die platten Geschäftsmaximen des Vaters: „Konkurrenz belebt das Geschäft“ (S. 35). Auch der Bau eines Kühlhauses steht unter dem Blickwinkel der Konkurrenz, vor der sich der Vater „einen Vorsprung“ (S. 79) zu schaffen sucht.

Buße, S. 45

In der evangelischen Kirche führt die Buße (gem. Mt 6, 11) über die Erkenntnis der eigenen Schuld zur inneren Neubesinnung und zur Veränderung der Lebensführung – wenn die Mutter „das gute Essen und das Gelächter“ mit einem Schweigegelübde“ abbüßt, liegt die empfundene Schuld darin, den verlorenen Sohn und seinen Hunger vergessen zu haben.

Kindheitslabyrinth, S. 46, S. 47

Das Bild des Labyrinths (und des „Zauberwalds“, S. 46) erinnert an Freuds Darlegungen in Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1917). Freud führt aus: „[D]ie beiden Aufklärungen, daß das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist, und daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“. Diese Passage, die sich im Zusammenhang mit Freuds dritter Kränkung des menschlichen Selbstbilds sehen lässt. Wie in gängigen Architekturmodellen der Psyche ist der dunkle Untergrund der Psyche (hier symbolisiert durch den vom Dachboden erreichbaren Raum) nur teilweise einsehbar. Die Traumata der Kindheit sind schwer zugänglich, die Renovierung des Hauses ist damit die Abkehr von der Vergangenheit. Mit dem verborgenen Raum ist auch die Vergangenheit „gänzlich unauffindbar und unbetretbar“ geworden (S. 48).

Magenkrampf, S. 55

Ein „großes physisches Unbehagen“ (S. 55) stellt sich immer wieder ein, wenn der Erzähler mit seinem verschollenen Bruder konfrontiert wird. Dass der Schmerz ihm „im Magen liegt“ verweist darauf, dass er das psychisch nicht Verarbeitbare somatisiert, etwa dann, wenn der Erzähler das Findelkind 2307 erstmals sieht und „einen aufsteigenden Druck in der Magengegend“ spürt (S. 174). Als sich der Erzähler auf der Fahrt zur Gerichtsanthropologie nach Heidelberg zu erbrechen droht, werden ihm Pillen gereicht, die er als „Schutzimpfung […] gegen Arnold“ empfindet (S. 85). Auch am Sterbebett des Vaters, der ihn nicht mehr erkennt, wird es dem Erzähler übel (S. 131). Zuletzt verspürt er „einen aufsteigenden Druck in der Magengegend“ (S. 174).

Trigeminusneuralgie, S. 57

Die auch als auch Tic douloureux bezeichnete Trigeminusneuralgie ist eine Form des Gesichtsschmerzes, ausgelöst von einer Reizung des fünften Hirnnervs, des Nervus trigeminus. Gelegentlich tritt auch das reflektorische Zucken der Gesichtsmuskulatur auf, das der Erzähler wiederholt erwähnt (S. 56 f., S. 85).

Spiegel, S. 58

Das Spiegelmotiv tritt nicht nur in Der Verlorene, sondern beispielsweise auch im Steppenwolf wiederholt auf (Magisches Theater). Spiegel dienen der Selbstvergewisserung, führen aber in den genannten Fällen zur Konfrontation mit der eigenen Identität. Während Hesses Harry Haller die Vielfalt seiner Identitäten bemerkt, muss Treichels Ich-Erzähler die Erscheinung des Bruders abwehren, als der er sich beim Blick in den Spiegel sieht. Weil er im Spiegel nicht sich selbst sieht, sondern den Schmerz der Mutter über den verlorenen Bruder, beginnt der Ich-Erzähler, sein Spiegelbild zu hassen (S. 140). Als er schließlich Findelkind 2307 („Heinrich“) als Fleischerlehrling sieht, ist ihm, als sähe er sein „eigenes, nur um Jahre älteres Spiegelbild“ (S. 174).

Blutanalyse, S. 59

Über die Bestimmung der Blutgruppen und der dazugehörigen Rhesusfaktoren lässt sich lediglich eine Vaterschaft ausschließen oder eine mögliche Vaterschaft in Betracht ziehen. Ein Vaterschaftstest im Sinne einer DNS-Analyse liegt damit nicht vor. Verhältnismäßig preisgünstige DNS-basierte Untersuchungsmethoden stehen erst eit etwa 1995 zur Verfügung. Auch die Dermatoglyphie (S. 60), der Abgleich der Fingerbeerenmuster, liefert nur näherungsweise Aussagen zur Vererbung. Auch das „Anthropologisch-erbbiologische Abstammungsgutachten“ (S. 63), das von äußerlichen Körpermerkmalen ausgeht (also vom Phänotyp), kann keinen eindeutigen Abstammungsnachweis leisten.

Institut für Gerichtliche Medizin der Universität Münster, S. 59

Das im Zweiten Weltkrieg Neueröffnung zerstörte Universitätsklinikum der Universität Münster wurde im November 1945 wiedereröffnet.

Schillerkragen, S. 66

Der Schillerkragen ist ein offener Hemdkragen, der über dem Jackenkragen getragen wird. Benannt ist er nach Friedrich Schiller, den Anton Graff mit einem solchen Kragen porträtierte.

Lagerinsassen, S. 66, 68

Ende der Vierziger und in den Fünfzigern sind Bilder von Lagerinsassen (solcher aus Konzentrationslagern, aber auch aus Kriegsgefangenenlagern) erstmals einem Massenpublikum zugänglich und prägen die Wahrnehmung rasierter Männerköpfe. Dass sich der Ich-Erzähler weigert, wie die zu Entlausungsgründen rasierten Lagerinsassen „kahlgeschoren“ zu werden, erscheint also verständlich.

Hinterkopf, S. 66

Die Abneigung des Ich-Erzählers gegenüber seinem Hinterkopf (S. 66 ff.) lässt sich einerseits mit der Scham vor der vermeintlichen Hässlichkeit dieses Körperteils, andererseits mit dem inneren Widerstand gegen den Vater, der ihm eine Kurzhaarfrisur aufzwingt, und zuletzt mit seiner Angst vor der Gesichtslosigkeit erklären, die jegliche Individualität zunichtemacht. Die eingehende Untersuchung seines Hinterkopfes, der „Schädelhöcker und Erhebungen“ (S. 115) durch Professor von Liebenstedt bereitet ihm deswegen „Scham und Verlegenheit“ (ebd). Auch Herr Rudolph streicht dem Erzähler über den Hinterkopf, was dieser als unangenehm empfindet (S. 162).

Gostynin, S. 69

Bereits seit 1824 waren Tuchmacher aus deutschen Staaten in dem polnischen Ort Gostynin an der Skrwa nachweisbar. Mit der Einnahme des Orts am 16.9.1939 durch deutsche Wehrmachtstruppen wurde die Stadt Gostynin zum Sitz des Landkreises Waldrode. Während der NS-Zeit wurden viele Menschen in das KZ Dachau verschleppt oder hingerichtet. Die Rote Armee beendete die Besatzungszeit durch die Nationalsozialisten am 18.1.1945. Unklar ist, warum der Treck der Flüchtlinge „ein kleines, westlich von Königsberg gelegenes Bauerndorf“ (S. 14) passiert, wo eine Flucht in westliche Richtung doch plausibler wäre.

Rakowiec, S. 69

Das im Roman als zwischenzeitliche Heimatstadt des Vaters genannte Dorf Rakowiec im Landkreis Gostynin (Masowien) gehört heute zum Verwaltungsbezirk Gmina Pacyna und war bis 1945 deutsch besetzt.

Tubera frontalia, S. 71

Die Tubera frontalia („Stirnhöcker“) sind Verknöcherungszentren des Stirnbeins.

Helix, S. 72

Die Helix (gr.: Spirale, Windung, Schraube) ist der medizinische Fachausdruck für den wulstartig verdickten Rand der Ohrmuschel.

Suchdienst, S. 82

Der Suchdienst des DRK wurde im Mai 1945 von den Wehrmachtsoffizieren Helmut Schelsky und Kurt Wagner im Flensburger Vorort Mürwik gegründet, während das DRK durch die Besatzungsmächte aufgelöst war. Im September 1945 wurde der Flensburger Suchdienst nach Hamburg verlegt und 1950 im DRK-Suchdienst für die Bundesrepublik zusammengeführt. Vor allem diente er dazu, ausgebombte, vermisste, verschleppte, vertriebene Menschen wieder ihren Familien zuzuführen oder Heimstellen für Waisenkinder zu finden. Zu diesem Zweck wurden ab Ende 1957 Vermisstenbildlisten gedruckt, die schließlich 199 Bände (davon 187 mit 1,4 Millionen Namen und über 900.000 Bildern) umfassten. Dazu kamen noch 26 Bände über Zivilverschollene. In Zusammenarbeit mit dem Sender RIAS konnten Millionen von Einzelschicksalen aufgeklärt werden. 

Heidelberg, S. 84-126

Das vom Erzähler geschilderte Heidelberg bleibt vage, sowohl der untersuchende Mediziner als auch die beteiligten Institute lassen sich unter den angegebenen Bezeichnungen nicht nachweisen. Die Universitätsgebäude im Neuenheimer Feld, in denen nach dem Krieg die Rechtsmedizin ansässig ist, haben nur entfernte Ähnlichkeit mit „Gründerzeitvillen“ (S. 87). Auch die etwas später vom Fahrer des Leichenwagens genannten Kantinen gehören zu Institutionen, die es in Heidelberg nicht gibt (sondern bestenfalls in Karlsruhe). Dagegen ist mit dem „Krematorium Heidelberg Süd“ (S. 103) vermutlich das 1891 auf dem ein Heidelberger Bergfriedhof in der Südstadt errichtete Krematorium gemeint. Die in einem historistischen Bau untergebrachte Verbrennungsstätte wird heute noch verwendet, war aber nicht „jüngst erst fertiggestellt“ worden. Sehr genau zu bestimmen ist dagegen der Standort des Erzählers und seiner Eltern auf der Alten Brücke. Die von der Wehrmacht gesprengte Brücke wurde wiederaufgebaut und am 26. Juli 1947 feierlich eingeweiht werden. Auch das bekannte Denkmal „eines gewissen Karl Theodor[s]“ (S. 119) mit den „Flußgötter[n] Rhein Donau, Mosel und Isar“ (S. 119) ist vor Ort zu sehen. Eine „tiefe Rinne auf der Nase“ (S. 119), die der Erzähler beschreibt, ist bei der liegenden Figur des Rheins nicht nachweisbar, lediglich eine Querrinne unterhalb der Nasenwurzel. Auch der vom Vater abgebrochene Besuch der touristisch erschlossenen Ruine des Heidelberger Schlosses ist nachvollziehbar, ebenso das „besonders große Faß“ im Fassbau des Schlosses, den die Familie allerdings „verpaßt“ (S. 122) . Gemeint ist das Karl-Theodor-Fass von 1751. Die Zerstörung des Schlosses erfolgte jedoch weder durch „Bomben“, wie der Vater glaubt, noch durch Kanonenkugeln, wie die Mutter feststellt (S. 121) – der Bau wurde im Pfälzischen Erbfolgekrieg von den Franzosen gesprengt.

Bauer, S. 86

Die bäuerliche Herkunft des Vaters wird verschiedentlich betont, etwa durch seine Freude an bäuerlichen Verrichtungen (Schlachtfest), oft auch im Kontrast zu zivilisatorischen Neuerungen der Fünfziger, zu Komfort und sozialem Rang. So heißt es im Hinblick auf den Besuch in Heidelberg: „Ein Bauer aus Rakowiec ging nicht ins Hotel. Ein Bauer aus Rakowiec fuhr auch keinen Admiral“ (S. 86); „Ein Bauer aus Rakowiec hört keine Operetten. Ein Bauer aus Rakowiec hört das Vieh im Stall, den Wind auf den Feldern und das Läuten der Kirchenglocken“ (S. 141). Der Unternehmer ordnet sich ohne zu zögern dem ebenfalls aus Rakowiec stammenden Freiherrn von Liebenstedt unter wie der Pächter einem ostelbischen Junker. Unbeholfen und unterwürfig spricht er ihn mit „Herr Freiherr“ an (S. 125).

Rohrerindex, S. 95

Der Rohrer-Index (auch: Ponderal-Index) ist eine Maßzahl zur Beurteilung der Körpermasse in Relation zur Körpergröße. Eingeführt wurde er 1908 von dem Schweizer Physiologen Fritz Rohrer.

Oberfinanzdirektion, S. 98

Der Redeschwall des Leichenwagenfahrers, der die Familie des Erzählers beim Essen begleitet, erweist sich als klassische Beamtensatire gegen Finanzbeamte. Sie ließen es sich mit gehobener Küche gutgehen (die mutmaßlich mit Steuergeldern finanziert sind) und verhielten sich wie „Blutsauger und Straßenräuber“ (S. 101). Insgesamt sei das „Ansehen des Finanzamtes und speziell auch der Oberfinanzdirektion […] nicht das beste“ (S. 101).

Krematorium, S. 106

Die Ausführungen des Leichenwagenfahrers zur „Leistungsfähigkeit der Öfen“ im Krematorium wirken wie eine Reminiszenz an die gusseisernen Öfen der Vernichtungslager. Die Ungerührtheit, mit der Direktor „übriggebliebene Menschenknöchelchen“ (S. 106) herausnimmt und darauf herumbeißt, weist ebenso nach Auschwitz wie die Bemerkung des Leichenwagenfahrers, „Hygiene, Takt und Schnelligkeit seien die Grundelemente des Geschäfts“ (S. 107).

Symbol, S. 108

Dem „V-förmigen Symbol“, das der Erzähler am Revers des Freiherrn von Liebstedt bemerkt, scheint keine klare Deutung zuzulassen („vielleicht war es auch ein U“, S. 108). V-förmig waren die Ehrenwinkel der Waffen-SS, sie wurden aber nicht als Anstecknadel, sondern als Aufnäher getragen. Andere militärische Abzeichen der Wehrmacht in Adlerform, die entfernt an ein U erinnern, wären ebenfalls möglich – für eine sichere Deutung fehlen jedoch weitere Hinweise im Text. Bernhardt (2018) vermutet eine Nähe zum Victory-Zeichen oder zum „V“ einer hypothetischen Vertriebenorganisation.

Polen, S. 110

Die Polen erscheinen im Verlauf der Handlung als verarmte, zu Misswirtschaft neigende Bevölkerungsgruppe der Ostgebiete. Insbesondere Freiherr von Liebstedt äußert sich verächtlich und behauptet von „Rakowiec II“, man habe ihm bereits „von weitem ansehen [können], daß es von Polen bewohnt wurde“ (S. 110). „Polenwirtschaft“ erscheint geradezu als Synonym für Unordnung. 

Krieg, S. 114

Der Krieg als eigentliche Ursache für die Flucht aus Rakowiec und den Verlust Arnolds wird im Werk mehrfach thematisiert, häufig mit dem Zusatz, dass seine Erwähnung mit anschließendem Schweigen einhergehe. Bei der Besichtigung des Heidelberger Schlosses identifiziert der Vater das Schloss „sofort als Kriegsruine“ (S. 121), um von der Mutter (wenn auch sachlich falsch) widerlegt zu werden – daraufhin verzichtet der Vater auf die Besichtigung und stellt lakonisch fest: „Krieg ist Krieg“ (S. 122). Auch der vorherige Zusammenbruch der Mutter führt zum Nachdenken über den Krieg, ohne dass über das Erlebte gesprochen würde. Als der Erzähler schließlich „Einschußlöcher“ im Behandlungszimmer des Freiherrn von Liebstedts erkennt, bemerkt der Arzt dazu, sie stammten vom Krieg, das tue aber „nichts zur Sache“ (S. 114).

Vermessen, S. 116

Die 1764 durch Louis Jean-Marie Daubenton begründete und von Methode der Kraniometrie schließt ein Abtasten und Abmessen des Schädels ein, wie es Professor von Liebstedt am Erzähler vornimmt Schon früh, etwa bei Peter Camper, Paul Pierre Broca und Thomas Henry Huxley, wurde mittels Kraniometrie auch vergleichende Rassenforschung beim Menschen betrieben. Bezüge zum Einsatz kraniometrischer Methoden im NS-Staat sind im Roman offenkundig. Insbesondere mit Blick auf Euthanasie (Aktion T4) und die Beschlüsse der Wannseekonferenz sollte die Bevölkerung anhand von Schädelproportionen in Rassen eingeteilt werden. Allerdings gelang es der Kraniometrie nicht, vermeintliche Rassemerkmale wissenschaftlich belastbar nachzuweisen. Auch Liebstedt führt die Erzählung mit sachlicher Brutalität wie an einem Gegenstand aus – ungerührt, respektlos und rauchend. Die verwirrenden Ergebnisse der Untersuchung, die erst auf eine briefliche Forderung Herrn Rudolphs zugestellt werden, führen den Erzähler zu der Vermutung, er sei „vielleicht sogar ein Russenkind“ (S. 151). Ironie scheint durch, als der Erzähler konstatiert, das „Nasenbein des Rheins“ – des deutschesten aller Ströme – sei „ungefähr zwanzig Zentimeter lang“ (S. 120): lange Nasen begriff man im NS-Staat vor allem als Zeichen slawischer und jüdischer Abstammung.

Achteten nicht, S. 119

Nur selten belohnen die Eltern das Ringen des Erzählers um Aufmerksamkeit mit echter Zuwendung. Die Verhaltensauffälligkeiten des Knaben (Erbrechen, Abwehr mütterlicher Zärtlichkeit, Übertreibungen) werden bestraft, geduldet oder ignoriert. Als der Ich-Erzähler auf der Alten Brücke herumspringt, um sie in Schwingung zu versetzen, wird er von den Eltern nicht wahrgenommen; auch die Bemerkungen zur Figur des Rheins führt lediglich dazu, dass die Eltern ihren Sohn ignorieren. Besonders nach dem Tod des Vaters fühlt sich der Ich-Erzähler übersehen, von der Mutter, aber auch von den Menschen in seiner Umgebung: „[S]ie schien mich nicht wahrzunehmen, und wenn sie mich wahrnahm, dann war es, als erblickte sie in mir nicht mich, sondern jemand anderen“ (S. 139). Dem Ansehen des Gegenübers kommt im Kontext des Romans besondere Bedeutung zu – der Mutter gelingt es nicht, den Ich-Erzähler als echtes Gegenüber mit eigener Individualität zu sehen, er bleibt ein lebender Verweis auf den abwesenden Bruder: „Sie schaute mich an, ihr Blick verlor sich in meinem Gesicht, und während sich ihr Blick in meinem Gesicht verlor, schien ihr eigenes Gesicht zu verschwimmen und sich aufzulösen“ (S. 139). 

Reisen, S. 122

Jede Reise erscheint den Eltern, vor allem dem Vater als „Sünde“ – sie reisen nicht, weil das Reisen sie unwillkürlich an das Trauma der Flucht erinnert. Die unvermeidliche Flucht wird als willentliche Entscheidung aufgefasst, die im Nachhinein als fahrlässig erscheint: „Wer sein Haus verläßt, dem lauern die Russen auf. Wer sein Haus verläßt, dem wird sein Haus geplündert und zerstört“ (S. 122). Diese Vorausdeutung verwirklicht sich im Erzählgang, als Herr Rudolph dem Vater nach der Rückkehr mitteilt, dessen Kühlhaus sei „aufgebrochen und ausgeraubt“ worden (S. 127). Der Vater überlebt diesen dritten großen Verlust seiner Lebensgrundlage nicht.

Schuldig, S. 129

Nachdem der Erzähler von Herrn Rudolph erfährt, das Kühlhaus sei aufgebrochen worden, bildet er sich ein, er selbst sei der Täter: „Und trotzdem sagte eine Stimme in mir: ‚Ich habe das Kühlhaus aufgebrochen‘“ (S. 129). Das Gefühl der Schuld ergibt sich aus der eigenen Existenz angesichts des Fehlens von Arnold – es handelt sich um eine nicht moralische Schuld, die sich nicht abbüßen lässt. Das Kind, das der Erzähler im Grunde noch ist, erfährt sich stellvertretend als Ursache des Leidens seiner Eltern: Er ersetzt auch in dieser Hinsicht den Bruder und begreift sich als Quelle des Unglücks seiner Eltern. Die Unfähigkeit der Eltern, den zweiten Sohn zu lieben, die eigene Unfähigkeit, seine Eltern zu lieben – das führt zu emotionaler Stumpfheit und einem ungeklärten, schuldbelasteten Verhältnis gegenüber seinem Vater: „Ich wollte ein guter und trauriger Sohn sein, und ich dachte daran, daß ich wohl unter dem Tod des Vaters litt, aber nicht spürte, daß ich litt“ (S. 138).

Operetten, S. 141

Die in den Fünfzigern erneut populären Operetten waren auf dem Schallplattenmarkt in zahlreichen Pressungen verfügbar – sie versprachen Ablenkung von Existenznot und Kriegstrauma. Die Popularität des Mediums belegen zahlreiche Verfilmungen. Beispielsweise wurde Franz Léhars 1929 uraufgeführte Liebesoperette Das Land des Lächelns 1952 verfilmt, „Der Zigeunerbaron“ von Johann Strauss kam 1954 in einer Verfilmung mit Paul Hörbiger in die deutschen Kinos.

Integument, S. 150

Das Integument ist bei allen Gewebetieren die gegenüber dem übrigen Gewebe differenzierte äußere Körperhülle– also die Haut.

Hollerith, S. 153

Die von Herman Hollerith entwickelte Lochkarte ermöglicht mit den zugehörigen Stanz- und Auswertemaschinen (den Tabelliermaschinen) eine schnelle und effiziente Datenverarbeitung. Deutscher Lizenznehmer des amerikanischen Unternehmens CTR war ab 1910 die Deutsche Hollerith-Maschinen Gesellschaft DEHOMAG in Berlin. In IBM and the Holocaust (2001) vertritt der Journalist Edwin Black die Auffassung, ohne das im Zensus von 1933 eingesetzte Hollerith-Lochkartensystem hätte der Holocaust nicht in diesem Umfang stattfinden können.

Lastenausgleich, S. 163

Offenbar hat der Vater noch vor seinem Tod einen Lastenausgleich beantragt. Das Gesetz über den Lastenausgleich (Lastenausgleichsgesetz, LAG) vom 14. August 1952 sollte Deutschen, die infolge des Zweiten Weltkrieges und seiner Nachwirkungen Vermögensschäden oder besondere andere Nachteile erlitten hatten, eine finanzielle Entschädigung gewähren. Als Vertriebener müsste der Vater im Grunde Anspruch auf Lastenausgleich haben, er wird ihm aber „wegen der Rechtslage verweigert“ (S. 163).

Porta Westfalica, S. 168

Die Porta Westfalica ist der Durchbruch der Weser zwischen Wiehengebirge und Wesergebirge im nordöstlichen Teil von Nordrhein-Westfalen. Der Fluss fließt, von Süden kommend, durch das Weserbergland in die Norddeutsche Tiefebene.

BAB, S. 172

Der Erzähler korrigiert Herrn Rudolph zu Recht – bundeseigene Autobahnen heißen BAB, nicht „BTB“ (S. 171).

Stilfiguren in „Der Verlorene“

Akkumulation

Als Stilfigur der Häufung kann die Akkumulation dazu verwendet werden, Üppigkeit und Reichtum anzudeuten, andererseits aber auch Strategien rhetorischer Überwältigung begleiten. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Erzähler den Schweinekopf als „wahres Füllhorn“ von Schweineprodukten schildert: „Schweinebacke und Schweinezunge, Schweineohren und Schweineschnauze, Schweinekopfbrühe und Schweinekopfpastete“ (S. 41).

Ambiguität

Begriffe, mit deren unterschiedlichen Bedeutungen sich spielen lässt, sind ambig. Oft sind es der Wortsinn und die übertragene Bedeutung, die der Leser in Beziehung setzt. Wenn der Erzähler „im wahrsten Sinne des Wortes zum Heulen“ ist, ist die Wendung „zum Heulen“ mehrdeutig. Im Wortsinn ist er „zum Heulen“, weil er die Mutter zum Weinen veranlasst; im übertragenen Sinn ist der Erzähler „zum Heulen“, weil seine Existenz im Vorfeld als belanglos gezeichnet wird.

Anapher

Die Anapher ist die Wiederholung eines Sinnworts am Anfang aufeinanderfolgender Sätze oder Satzteils. Anaphern können zur Verbindung von sinnverwandten Begriffen eingesetzt werden und zur intensivierenden Wiederholung eines Begriffs. Beides ist der Fall, wenn der Ich-Erzähler beschreibt, wie die Fotografien im Schaukasten des örtlichen Fotografen auf ihn wirken. Die Abgebildeten seien „zu Tode frisiert, zu Tode gekleidet, zu Tode photographiert“ (S. 65). 

Antithese

Die Antithese drückt gedankliche Gegensätze aus – oft in Antonymen: „Arnold also war dünn. Ich dagegen war dick“ (S. 145). Die direkte Gegenüberstellung betont und verschärft den Kontrast zweier Gegenstände, insbesondere den Unterschied des zweiten Glieds in der Gegenüberstellung zum ersten.

Enumeratio

Die Enumeratio ist eine Aufzählung, die Gegenstände in ihrem Sinnzusammenhang aufreiht und dadurch beispielsweise die Abfolge einer Handlung oder das Schweifen des Blicks imitiert. Sie kann auch eingesetzt werden, um die schiere Anzahl von Gegenständen oder Ereignissen hervorzugeben, die ein Phänomen betrifft: „Der Staub war auf der Haut, in den Kleidern, im Mund und in den Augen“ (S. 78).

Metapher

Metaphern sind der am weitesten verbreitete Sprungtropus: Sie beschreiben ein Phänomen durch einen sinnverwandten Begriff aus einem anderen Bereich. Damit wird nicht nur illustriert und intensiviert, was der Leser wahrnehmen soll, sondern es werden weitere Assoziationen aufgerufen, die dem Begriff anhaften. Wenn sich der Erzähler als „Finger in der Wunde“ seiner Mutter begreift, unterstreicht die Metapher seine Schuldgefühle – ein Finger gerät nicht zufällig in eine offene Wunde. Selbst verblasste, konventionelle Metaphern können im Roman ihre Bildkraft und ihre Wirkung zurückerlangen. Das wichtigste Beispiel ergibt sich aus der Ähnlichkeit des Ich-Erzählers mit dem mutmaßlichen Bruder: „[W]ie aus dem Gesicht geschnitten“ sei der fragliche Junge dem Erzähler. Der spürt die Ähnlichkeit in der Folge zweifach. Einerseits wird ihm übel, andererseits scheint es ihm, als würde er „die Schnitte spüren“ (S. 45). Die Folge ist ein „krampfartiges Grinsen“ (ebd.). Ein weiteres Beispiel des Wörtlichnehmens von Sprichwörtlichem findet sich etwas später im Roman, als der Aussprich des Vaters, das „letzte Hemd [habe] keine Taschen“ (S. 102) den Fahrer des Leichenwagens zu längeren Ausführungen über das breite „Angebot an Leichenhemden“ (S. 103) veranlasst.

Neologismus

Die Neuwortbildung verleiht der Stille der „Sonntagseinsamkeit“ (S. 25) eine besondere, im Verwendungszusammenhang treffende Bedeutung – sonntägliche Einsamkeit ergibt sich aus der Müßigkeit des Erzählers, der sich, ohne Aufgaben zu haben, sich selbst überlassen bleibt.

Repetitio

Die rhetorische Wiederholung eines Sinnworts kann viele verschiedene Funktionen haben. Beispielsweise kann sie die Bedeutung des Begriffs für den Kontext hervorheben oder die Frag- oder Kritikwürdigkeit seiner Verwendung darstellen. Beides ist der Fall, wenn der Ich-Erzähler über das Ergebnis der Abstammungsuntersuchung sagt: „Ich hatte keinen Triradius, das Findelkind hatte keinen Triradius, was immer auch ein Triradius sein mochte (S. 124).

Symbol

Im Roman gibt es zahlreiche Sinnbilder, deren konventionelle Bedeutung dem Leser hilft, die Bedeutung eines Sachverhalts zu erschließen – etwa dann, wenn der Erzähler die Räumlichkeiten des Elternhauses als Labyrinth wahrnimmt (S. 46 f.) oder eine Binde in der Trauerfarbe Schwarz trägt.

Synästhesie

Sinneseindrücken wecken oft eine synästhetisch verwandte Wahrnehmung in anderen Sinnesbereichen („schreiende Farben“, „kalte Stimme“). Rhetorisch kann so einer Wahrnehmung eine intensivere, grundlegendere Erfahrung zugewiesen werden, etwa dann, wenn von „kurzen kalten Schlägen der Totenglocke“ die Rede ist (S. 137). 

Vergleich

Obwohl der Vergleich ein Vergleichswort braucht („wie“, „als ob“) und damit keine Gleichsetzung des gemeinten Gegenstands mit dem Vergleichsglied erwirkt (im Gegensatz zur Metapher), weckt er bildhafte Assoziationen. Wird der Vater vor Abstammungsuntersuchung als „nervös wie ein Prüfling“ beschrieben (S. 86), dann wird außer der Feststellung seiner Nervosität auch etwas anderes geleistet – er wird im Rang gegenüber dem adeligen Arzt herabgestuft.

Weiterführende Ressourcen

Online-Quellen

Rezensionen

Literatur

    • Bernhardt, Rüdiger: Erläuterungen zu Hans-Ulrich Treichel, Der Verlorene. Hollfeld: Bange, 2009 (Königs Erläuterungen und Materialien, Bd. 446)
    • Van Hecke, Vanessa: Hans-Ulrich Treichel, Der Verlorene. Tübingen: Schöningh, 2011 (EinFach Deutsch: Unterrichtsmodelle)
    • Ruhlig, Andrea: Der Verlorene: Handreichungen für den Unterricht. Unterrichtsvorschläge und Kopiervorlagen. Berlin: Cornelsen, 2009 (Literamedia)