Ödön von Horváth: Der jüngste Tag

Anna, oder: Die Kunst der Provokation (Erstes Bild)

  • Beginne gerade dann ein Gespräch, wenn dein Gesprächspartner unter hohem Druck steht – etwa wegen unaufschiebbarer Geschäfte.
  • Provoziere deinen Gesprächspartner zu einem Kontrollverlust, etwa zu einer Handgreiflichkeit.
  • Wecke Schuldgefühle, indem du die Verantwortung für eine problematische Situation dem Gegenüber zuweist: „Au, lassens mich, Sie Grobian!“
  • Betrachte deinen Gesprächspartner – bestimme dabei selbst, wohin du siehst!
  • Stelle Fragen, um die Gesprächsführung zu übernehmen: „Jetzt setzt es was ab, wie?“
  • Wecke Zweifel daran, ob die Aussagen deines Gegenübers gültig sind: HUDETZ: „Sie sind überhaupt noch viel zu jung dazu, um da mitzureden.“ - ANNA: ,,Meinen Sie?“
  • Verlagere das Gespräch überraschend auf die Ebene des Persönlichen: „Ich dachte schon, Sie kämen nicht mehr zu uns wegen mir.“
  • Unterstelle dem Gesprächspartner, er handle nicht selbstbestimmt, sondern werde von Dritten dominiert: „Dürfens nicht mit mir sprechen?“
  • Stelle Vergleiche mit anderen Personen an, deren Wirken man nicht ernst nimmt: „Jetzt redens gar wie der Herr Pfarrer.“
  • Behaupte, über den Gesprächspartner werde schon öffentlich gesprochen: „Wer sagt das?“ – „Alle Leut.“
  • Nutze Konflikte des Gegenübers mit seinen Bezugspersonen aus: „Wenn Sie jetzt mit mir sprechen, kriegens morgen wieder einen Krach, was?“
  • Gib dem Gespräch eine unterschwellig erotische Note: „Habens Angst, daß Sie Ihre Frau mit einem jungen Mädel sieht?“
  • Gib dem Gesprächspartner zu verstehen, es bestünden Zweifel an seiner Männlichkeit: „Ja, sie [die Leute] sagen, der Vorstand ist überhaupt kein Mann.“
  • Zeige Selbstsicherheit und führe dem Gesprächspartner seine Ohnmacht vor: „Wollens mich umbringen?“
  • Unterstelle dem Gesprächspartner Humorlosigkeit: „Verstehns denn keinen Witz?“
  • Setze Ironie ein: „Geh, unterrichtens mich ein bisserl, Herr Lehrer –“.
  • Überrumple dein Gegenüber mit einer plötzlichen Geste der Zärtlichkeit: Sie lächelt plötzlich, küßt ihn plötzlich.
  • Gib vor, dir liege etwas an deinem Gesprächspartner – betone deine Fürsorge: „Nur ich nehme Sie manchmal in Schutz.“
  • Isoliere den Gesprächspartner oder mache ihm seine Isoliertheit deutlich: „Wer sagt das? – „Die ganze Welt.“
  • Mache deinem Gegenüber klar, dass er zum Gespött geworden ist und nicht ernstgenommen wird: „Alle Leut lachen über Sie, Herr Vorstand.“

Das Zugunglück: Zur Frage der Schuld (Zweites Bild)

Pokorny

Schuld

  • Laut Aussage des Heizers soll „ein Signal überfahren worden sein“ (S. 18). Damit wäre Pokorny schuld. Allerdings relativiert Kohut seine Aussage sogleich.
  • Kohut belastet Pokorny insofern, als der Lokomotivführer kurz vor dem Zugunglück von einer „Gehaltsaufbesserung“ gesprochen habe (S. 21).

Zur Entlastung

  • Dem Heizer zufolge war Pokorny ein äußerst „pflichtgetreuer Lokomotivführer“ (S. 18).
  • Er habe ferner „noch nie ein Signal überfahren“ (S. 21).
  • Er sei ferner ein „erstklassiger, seelennguter Mensch“ (S. 21).
  • Es kommt hinzu, dass er „drei unversorgte Kinder“ (S. 21) hinterlässt.
  • Selbst „beim dichtesten Nebel“ (S. 21) ist Pokorny bisher nichts vorzuwerfen gewesen.
  • Er habe außerdem „Augen […] gehabt wie ein Luchs“ (S. 18).

Hudetz

Schuld

  • Der Heizer bekundet, ein Haltesignal „soll gar nicht gegeben worden sein“ (S. 18) oder „nicht rechtzeitig“ (S. 19).
  • Man könnte Hudetz vorwerfen, Anna nicht konsequent ignoriert zu haben.
  • Frau Hudetz belastet mit ihrer Aussage gegen Anna indirekt auch ihren Mann (S. 27).

Zur Entlastung

  • Allerdings sagt der Wirt, es sei „ausgeschlossen“, dass Hudetz eine Schuld trifft.
  • Hudetz macht sich dadurch verdächtig, dass er „ein bißchen zu sehr gefaßt“ ist (S. 20).
  • Hudetz’ Eintreten für seine Frau zeugt – zumindest dem Staatsanwalt zufolge – von seiner „Wahrheitsliebe“ (s. 24).
  • Hudetz wird außerdem durch Anna entlastet (S. 25).

Anna

Schuld

  • Anna hat Hudetz wider seinen Willen geküsst (S. 15) und ihn damit abgelenkt.
  • Dies kann Frau Hudetz bezeugen – jedenfalls stellt sie Annas „Meineid“ (S. 26) heraus.

Zur Entlastung

  • Anna hat nicht vorsätzlich und ohne Kenntnis der Gesamtsituation gehandelt.
  • Außerdem ist Anna aufgrund ihres Alters noch nicht zwangsläufig reif genug, um die Folgen ihres Handelns zu erkennen.

Hudetz kehrt zurück (Drittes Bild)

Woran erkennt man die ranghöhere Figur?

Der Wirt übt Macht gegenüber Leni aus, …

  • indem er sie anherrscht (S. 29);
  • indem er ihr Befehle erteilt („Auf der Stell bringst du dem Herrn sein Bier“, S. 29);
  • indem er sie duzt (S. 29);
  • indem er sie unterbricht (S. 29);
  • indem er sich Scherze auf ihre Kosten erlaubt („Vielleicht wird er dich an den Traualter führen“, S. 31);
  • indem er sie an der Taille „umfaßt“ (S. 31), ohne ihre Erlaubnis zu erbitten.

Woran wird deutlich, dass Bühnenfiguren seelisch leiden?

Annas Betroffenheit wegen des Prozesses erkennt daran, dass …

  • Annas sehr verhalten auf Ferdinands Zuwendung reagiert („Das freut mich“, S. 32);
  • Sie „sonderbar“ und „verloren“ lächelt (S. 33);
  • sie andeutet, dass ihr „Ruhm“ in der Presse „rasch verbla[sse]“ (S. 33);
  • sie äußerst knapp antwortet („Kaum“, S. 33);
  • sie erblasst (S. 33);
  • sie sich ans Herz fasst (S. 33);
  • sie laut Regieanweisung „sehr leise“ und kurz darauf „tonlos“ spricht (S. 33);
  • sie eine mehrdeutige Antwort gibt, die sich als Vorausdeutung auf ihren Tod verstehen lässt („Ja, jetzt ist’s vorbei“, S. 33);
  • sie vor sich hinstarrt (S. 33);
  • sie einen Wermut kippt (S. 34);
  • sie dringend das Gespräch mit Hudetz sucht (S. 36).