E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf: Hintergrund
Zu den Fantasiestücken in Callots Manier
- Die Fantasiestücke in Callots Manier bestehen aus 19 Texten in vier Bänden;
- Mit der Bezeichnung „Fantasiestück“ prägt Hoffmann ein neues Genre; „Phantasie“ ist dabei ein Begriff der Musik und Dichtung für die (spontane) schöpferische Einbildungskraft, insbesondere als Leitbegriff der Frühromantik; der Zusatz „-stück“ gehört in eine damals populäre Mode des Benennens von Literaturwerken analog zu Kunstwerken („Nachtstück“, „Seestück“, bei Jean Paul dann „Blumen-, Frucht- und Dornenstükke“).
- Die Entscheidung zur Benennung der Fantasiestücke „in Callot’s Manier“ soll Hoffmanns Verleger Kunz herbeigeführt haben; zunächst hatte man an Hogarth gedacht. Hoffmann scheint ner lothringische Barockgrafiker Jacques Callot aber für geeignet gehalten zu haben – das Bizarre, Skurrile, Groteske der Zyklen Callots findet sich auch in den Fantasiestücken wieder; mit dem Begriff der „Manier“ als eigentümlicher, regelferner Darstellungsweise (it. maniera) entfernt sich Hoffmann vom Schaffen nach dem Naturvorbild.
- Aufgrund seines beträchtlichen Umfangs füllt der Goldene Topf mit 17 Bögen das dritte Bändchen; der Untertitel lautet: „Blätter aus dem Tagebuche eines reisenden Enthusiasten“, die Titelvignetten zeigen einen Spielmann in altfränkischer Tracht (1. Bd.) und einen Jokusstab mit Dolch und Dornenkrone (2. Bd.).
- Obgleich Hoffmanns Fantasiestücke das Erstlingswerk eines bis dahin unbekannten Schriftstellers sind, veröffentlichen zahlreiche Periodika aus dem Literaturbetrieb rühmende Rezensionen; allein Karl Ludwig von Woltmann von der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung liefert (durch Goethes Ablehnung der Fantasiestücke ermutigt), einen scharfen Verriss im Geist der Klassik.
- Zum Erfolg des Werks trägt die Vorrede des damals berühmten Romanciers Jean Paul (Richter) nicht unwesentlich bei. Jean Paul nennt (gegen Hoffmanns Widerstand) in seinem Vorwort den Verfasser und benennt ihn als „Musikdirektor in Dresden“.
Quellen
- Feenmärchen: Cabinet der Feen (1861-66), Blaue Bibliothek aller Nationen (1790-1800)
- Theater: Theatermärchen (Fiabe teatrali) von Gozzi, Fouqués Sigurd, der Schlangentödter (1808): Vermischung von Realität und Phantasie
- Oper: Mozart / Schikaneder: Die Zauberflöte: Figurenkonstellation
- Roman: Novalis: Heinrich von Ofterdingen (Romanfragment): Darstellung von Atlantis
- Anekdoten: James Beresford: The Miseries of Human Life (Roman, 1806-1807), in der dt. Übersetzung Menschliches Elend durch Adolf Wagner (1810): Charakterzeichnung des Anselmus
- Kupferstich: Hogarth: A Midnight Modern Conversation und Lichtenbergs Hogarths Mitternachts-Club, gemeiniglich die Punsch-Gesellschaft genannt: Idee des Nachtopfs, Punsch-Gesellschaft (9. Vigilie); die Topf-Idee hatten bereits Plautus (Aulularia) und Wieland (Geschichte des Prinzen Biribinker)
- Naturphilosophie / Mythologie: Schelling, Novalis, Ritter, Joh. Arnold Kanne, Gotthelf Heinrich Schubert (Lilie, Phosphorus)
Biographische Bezüge
- Während seiner Bamberger Zeit befindet sich E. T. A. Hoffmann in einer Situation, die der Anselmus vergleichbar ist – er lebt bescheiden (im Obergeschoss eines kleinen Häuschens am Zinkenwörth 50), hat aber dennoch Umgang mit dem gehobenen Bürgertum Bambergs.
- Hoffmann verehrt in Bamberg die fünfzehnjährige Gesangsschülerin Julia Marc, die in Hoffmanns idealisierender Beschreibung an Züge der Serpentina und der Veronika erinnert. Anselmus von Lucca ist der Namensheilige des 18. März (Julia Marcs Geburtstag).
- In Dresden, das topographisch stimmig beschrieben wird, hat sich Hoffmann selbst aufgehalten – der Türklopfer, der die Figur des Apfelweibchens angeregt hat, ist in Bamberg heute noch zu sehen.
- In Bamberg verkehrt Hoffmann mit dem Psychiater Adalbert Friedrich Marcus (Nervenheilanstalt St. Getreu) und dem Arzt Friedrich Speyer, die ihn mit psychologischen Problemen der Zeit vertraut machen (Beschreibung der Schizophrenie). Dies ermöglicht eine psychologische Deutung der Erzählung: die magische Welt geht auf eine Wahrnehmungsstörung Anselmus’ zurück.
Chronologie
1812 |
Hoffmann kündigt seinem Bamberger Kollegen Kunz am Tag nach dem Zusammenstoß mit dem Verlobten Julia Marks an, er werde „ein vortreffliches Buch schreiben“. |
1813 |
E. T. A. Hoffmann hält sich während der Entstehungszeit des Goldenen Topfs in Dresden und Leipzig auf, wo er inmitten der Befreiungskriege gegen Napoleon als Musikdirektor in Joseph Secondas Operngesellschaft wirkt und dabei an Rheumatismus erkrankt. --- Juli: Beginn der Arbeit an Der goldene Topf. --- 18.3.: Am Tag des Geburtstages seiner Schülerin Julia Mark schließt Hoffmann den Verlagsvertrag über die Fantasiestücke mit Kunz ab. --- 19.8.: Hoffmann informiert den Verleger per Brief, er arbeite an einem Märchen. 8.9.: Hoffmann behauptet gegenüber Kunz, er habe bisher „nichts besseres“ gemacht als Der goldene Topf. --- 17.11.: Hoffmann behauptet gegenüber Kunz, der Goldene Topf sei fertig. --- 26.11: Hoffmann arbeitet nun wirklich am Manuskript zu Der goldene Topf. |
1814 |
16.1.: Hoffmann schickt die ersten vier Vigilien an seinen Verleger. --- 24.1.: Die fünfte Vigilie ist abgeschlossen. --- 25.1.: Die sechste Vigilie ist fertiggestellt. --- . Im Tagebuch ist bei den folgenden Vigilien vermerkt, er habe beim Arbeiten Punsch getrunken. --- 15.2.: Hoffmann schließt endgültig die Arbeit an Der goldene Topf ab 4.3.: Hoffmann schickt die zweite Lieferung seines Manuskripts an seinen Verleger. Bei C. F. Kunz in Bamberg wird Der goldene Topf. Ein Mährchen aus der neuen Zeit veröffentlicht, als dritter Band der vierbändigen Reihe Fantasiestücke in Callots Manier. Blätter aus dem Tagebuch eines reisenden Enthusiasten. Mit einer Vorrede von Jean Paul Friedrich Richter. --- 24.3.: Hoffmann berichtet, er habe Besuch von Paulmann und Heerbrand aus Der goldene Topf erhalten. --- 16.12: Die früheste bekannte Rezension zu Der goldene Topf erscheint. |
1815 |
28.4.: Hoffmann empfiehlt in einem Brief seinem Freund Hippel, der ihm eine Anstellung am Reichskammergericht verschafft, dieser möge den Goldenen Topf seinen Kindern zu lesen geben. |
1819 |
In der zweiten Ausgabe der Fantasiestücke bei Theodor Vieweg in Braunschweig ist das Märchen unter dem orthographisch abgewandelten Titel Der goldne Topf enthalten. |
1825 |
Die dritte Ausgabe der Fantasiestücke erscheint. |
1826 |
Thomas Carlyle übersetzt den Goldenen Topf ins Englische. |
1827 |
21.5.: Goethe äußert sich kritisch über Hoffmanns Märchen. |
1854 |
Die vierte Ausgabe der Fantasiestücke erscheint. |
1979 |
Fühmann schreibt den Essay Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder etwas Über das Schauerliche bei E. T. A. Hoffmann. |
1989 |
In Dresden wird Der goldene Topf als Oper aufgeführt (Libretto: Ingo Zimmermann, Musik: Eckehard Mayer). |
Überlegungen zur Gattung
- Wirklichkeitsmärchen (nach Richard Benz, 1908): Verbindung des Märchenhaften mit dem alltäglichen Leben
- Ausstattung der Figuren mit einem individuellen Charakter
- Ständiger Wechsel der Schauplätze
- Häufiger Wechsel des Personals
- Dichotomie der Handlung: Welt des Bürgertums – Welt des Wunderbaren
Kinder- und Hausmärchen |
Kunstmärchen |
Es treten wunderbare Ereignisse ein, die eine magische Ursache haben (Zauberkräfte Lindhorsts und der Rauerin). |
Der Text hat einen namentlich fassbaren Autor. |
Es kommt zum Konflikt zwischen Gut und Böse. |
Er spielt in einer konkreten Stadt (Dresden) und zu einer deutlich zu bestimmenden Zeit mit erkennbarem Alltag. |
Anselmus muss eine Aufgabe lösen. |
Es gibt zwei Handlungsstränge (Lindhorst und Serpentina vs. Familie Paulmann). |
Er benötigt dazu drei Anläufe. |
Die Charaktere sind komplex und psychologisch vielschichtig. |
Das Modell der Erlösung prägt die Erzählhandlung (z. B. Erlösung des Anselmus durch Serpentina). |
Die Figuren entwickeln sich (Anselmus) und handeln psychologisch motiviert. |
Die Figur ist ein junger Mann mit kindlichem Gemüt |
Der Erzähler ist eine den Figuren übergeordnete Instanz und hält bei aller Einfühlung ironisch Distanz. |
Es entsteht eine neue Form, das Wirklichkeitsmärchen (nach Richard Benz: Märchen-Dichtung der Romantiker. Gotha: 1908) |
Stil und Sprache
Auffällig im Goldenen Topf ist…
- die Betonung des Wortfelds „sehen“ und die Anschaulichkeit der ausführlichen und konkreten Beschreibungen
- das distanzierende Erzählen, das sich äußert a) durch die Verwendung des Verbs „scheinen“ für Wahrnehmungen der Figuren und b) durch die Verwendung des Konjunktivs („als müsse“)
- das Markieren des Magischen durch den Einsatz von Rhythmuswechseln, Alliterationen, Anaphern und onomatopoetischer Formulierungen (Lautmalerei), etwa die lautliche Nachahmung des Zischens der „Schlänglein“
- die häufige Verwendung von Synästhesien (zusammenhängendes Empfinden verschiedener Sinneseindrücke), z. B. beim Kampf des Salamanders mit der Hexe
- die Verwendung von Leitmotiven (wiederholtes Erzählen eines strukturbildenden Motivs), hier: der goldene Topf
- der geballte Einsatz von Metaphern und Vergleichen, die für den Leser die Wahrnehmungen der Perspektivfigur in den Vordergrund treten lassen und eine zweite Wirklichkeit erschaffen
Erzähltechnik
Die Erzählweise im Goldenen Topf ist geprägt durch…
- vielfältige Formen der Ironie, denn a) die Handlung springt permanent zwischen magischer und wirklicher Welt hin und her, b) der Erzählers schiebt Kommentare ein und reflektiert des Geschehen, wobei er c) Distanz zum Geschehen hält, c) ferner karikiert er vor allem das bürgerliche Personal
- die Anwendung des Serapiontischen Prinzips, verwirklicht dadurch, dass a) Innen- und Außenwelt gleichberechtigt sind, b) die Sinne angesprochen und die Vorstellungskraft aktiviert werden, außerdem durch c) die Verbindung verschiedener Sinne
- Wechsel der Erzählperspektive: Der auktoriale Erzähler begleitet die Handlung mit Kommentaren, Bewertungen und Reflexionen ; allerdings wird der Leser dazu angehalten, die Sichtweise Anselmus’ zu übernehmen – dann begegnet der Leser einer personale Erzählsituation mit Anselmus als Perspektivfigur, bis zuletzt der Erzähler in der Ich-Form das Geschehen und den Erzählgang beurteilt und durch den Brief des Archivarius Lindhorst selbst in die fiktive Welt der Erzählung einbezogen wird
- intensive Einbeziehung des Lesers durch vier Leseranreden: Der Erzähler behandelt den Leser wie einen ihm „günstigen“ Vertrauten, den er persönlich anspricht und in das Erzählen miteinbezieht
- wiederholte Selbstreflexion: Der Erzähler thematisiert und reflektiert das Erzählverfahren
- regelmäßige Brechung des Erzählgangs durch Inhaltsangaben zu Beginn jeder Vigilie, die den Blick auf bestimmte Ereignisse lenkt und den Eindruck erweckt, das Geschehen sei vom Erzähler geordnet worden
Struktur
- Gesamtstruktur: Einteilung in zwölf Vigilien(Nachtwachen), denen jeweils eine perspektivierende Inhaltsangabe vorgeschaltet ist
- Fiktionalität und Raumstruktur: Die Wirklichkeit (Dresden) und die mystische Welt (Atlantis) wechseln sich ab und gehen zuletzt – sich wechselseitig ergänzend – in einander über
- Zeitgestaltung: Die bürgerliche Welt ist zeitlich anhand relativ präziser Zeitangeben strukturiert (Läuten der Kirchenglocken, Angaben zum Datum: Beginn am Himmelfahrtstag, Ende am Namenstag der Hl. Veronika am 4.2.), die mystische Welt verfügt über ihre eigene Zeitordnung, die aufgebrochen ist durch a) den Rückblick des Archivarius Lindhorst (3. Vig.), b) Serpentinas Erzählung (7. Vig.) und die Unendlichkeitsvision des Erzählers (letzte Vig.).
- Kontrastive Figurengestaltung: Die Figuren der bürgerlichen Welt (Veronika, Konrektor Paulmann, Registrator Heerbrand) sind als Karikaturen angelegt und reagieren mit Unverständnis auf Anselmus’ Begegnungen mit der Märchenwelt, die ihn seiner bürgerlich geregelten Umwelt zunehmend entfremden und den Figuren der mythischen Welt näherbringen (Serpentina, Archivarius Lindhorst, Liese Rauerin).
Zentrale Motive
- Das Schlangenmotiv dient ebenfalls dazu, die Welt des Magischen hervorzuheben – auch die Figuren (Lindhorst, von ahd. lint = Schlange, Serpentina, von lat. serpens = Schlange) verraten diese Zuordnung. Schlangen sind in alttestamentarischer Tradition Symbol der Versuchung und Verführung, die gleichwohl auch tödlich endet (Türklopfer-Erlebnis, Tintenklecks-Geschehen).
- Das Schreiben oder kalligraphische Abschreiben von Lindhorsts Manuskripten ermöglicht Anselmus die Entwicklung zum Dichter und eröffnet ihm die magische Welt.
- Der Spiegel hat im Goldenen Topf eine zweifache Funktion: Einerseits dient er der Überprüfung der Realität (und damit der Trennung von Phantasie und Wirklichkeit, etwa im Falle Veronikas, die sich selbst im Spiegel betrachtet), zum anderen gibt es vier Spiegel mit magischer Wirkung – der Zauberspiegel der Rauerin, der goldene Topf, der Türklopfer sowie der Smaragdspiegel des Archivarius: a) Im goldenen Topf, der sich in einem azurblauen Zimmer mit exotisch anmutenden Palmen befindet, spiegelt sich Anselmus; und zwar so, dass er sich selbst als Teil der magischen Welt erkennt; b) mit dem Zauberspiegel der Rauerin wird Anselmus magisch an Veronika gebunden; erst als er zerbricht, ist Anselmus frei; c) der spiegelnde Türklopfer des Archivarius ermöglicht es Anselmus, das verzerrte Gesicht der Hexe zu erkennen – die runde Form weitet seinen Blick ins Bereich dessen, was ihm sonst verborgen bliebe, d) Der Zauberspiegel des Archivaris entfaltet eine Magie der Synästhesie: Beim Anblick der Spiegelung ertönen auch Klänge.
- Der Wahnsinn des Anselmus ist keine psychische Krankheit im medizinischen Sinne, sondern ein Anderssein, das ihn von der bürgerlichen Welt abhebt und der Mythenwelt den Einbruch in seinen Alltag gestattet. Im Gegensatz dazu sind die Mitgefangenen in ihren Kristallflaschen, die Anselm beobachtet, tatsächlich verblendet.
- Kristall ist im Goldenen Topf ein ambivalentes Symbol: Einerseits erlaubt der Blick durch den Kristal in seiner Reinheit ein Hinüberschauen nach Atlantis, andererseits hindert der Kristall Anselmus, während er in der Flasche gefangen ist, an freier Bewegung.
- Metall hat im Goldenen Topf (wie in der Alchimie) auch magische Qualitäten. Die alte Liese verwendet einen Metallspiegel zum Hellsehen und braut ihre Tränke mithilfe von Blei und in einem Kupferkessel, der goldene Topf mit seiner Magie ist durch das Edelmetall als wertvolles Objekt markiert.
- Zwei Konzepte der Liebe dominieren den Goldenen Topf: Die bürgerliche Liebe Veronikas, die mit Anselm eine bürgerliche Ehe anstrebt (und sie mit Registrator Heerbrand verwirklicht), und die erotisch-spirituelle Liebe Serpentinas, die Anselmus inspiriert.
Deutungsansätze
Der Goldene Topf lässt sich deuten als…
- Wunschtraum eines Künstlers, der ein von den Zwängen der Wirklichkeit befreites Künstlerdasein beschreibt (Paul Wolfgang Wührl, 1988)
- Modell des Übergangs vom Kopisten zum Autor, vom reinen Abschreiben von Texten (wie im Mittelalter) zur modernen, kritischen Aneignung des Texts beim deutenden Nachschreiben (Kittler, 1980) [Anselmus’ Schreibautrag]
Inhalt: Zusammenfassung
Erste Vigilie
Die erste Vigilie lässt Anselmus zum ersten Mal über die Fallstricke eines „feindlichen Prinzips“ stürzen – der träumerische, zum Alltag untaugliche Student tritt den Apfelkorb eines alten Weibs um, die ihm den „Fall ins Kristall“ wünscht; diese Vorausdeutung erfüllt sich am Ende der 9. Vigilie, als der Archivarius Lindhorst ihn in eine Flasche bannt. Das „Äpfelweib“ tritt im Verlauf der Handlung in mancherlei Gestalt erneut ins Geschehen. Anselmus jedenfalls muss den Schaden begleichen und kann den Himmelfahrtstag daher nicht im Linkeschen Bad zubringen, einem in Dresden beliebten Ausflugslokal. Stattdessen rastet er unter einem Holunderbaum und sinnt über sein bisheriges Unheil nach. Im Blätterdach vernimmt er die zauberischen Gesänge dreier grün-goldener Schlangen und blickt erstmals in jene „herrliche[n] dunkelbauen Augen“, die der Leser später Serpentina, der schlangengestaltigen Tochter des Archivarius Lindhorst zuordnen kann. Überwältigt vom Spiel des Sonnenlichts, von Holunderduft und Schlangengesang versinkt Anselmus in begeisternden Tagträumen, die der Leser in Synästhesie und Lautmalerei miterlebt. Eine „raue tiefe Stimme“ beendet den Zauber und ruft die „Schlänglein“ zur Elbe. Es handelt sich um Lindhorst, den Vater der Schlangen.
Zweite Vigilie
Zurück bleibt Anselmus, der – offenbar halb im Traum – den Holunder umklammert und die Schlangen sehnsuchtsvoll zurückruft. Vorbeigehende Bürger belächeln den Außenseiter, der den leisen Spott als körperlichen Schmerz erfährt. Die Szene unterbricht ein Ruf von der Elbe: Ein Boot liegt bereit, Anselmus väterlicher Freund, der Konrektor Paulmann, dessen Hausfreund Registrator Heerbrand und die Töchter Paulmanns, Veronika und Fränzchen, laden den Studenten zum Übersetzen ein. Dieser steht noch unter dem Eindruck seines Erlebnisses unter dem Holunder und wirft sich fast aus dem Boot, was der Schiffer verhindert. Paulmann und Heerbrand entschuldigen die aus ihrer Sicht skurrilen Anwandlungen des Studenten mit dessen Zug ins „Fantastische und Romanhafte“ (S. 16, 30). Insbesondere Paulmanns Älteste Veronika zeigt Verständnis. Durch die Anteilnahme gestärkt, fasst sich Anselmus zusehends. Im Hause Paulmann musiziert er gemeinsam mit Veronika, deren „schöne dunkelblaue Augen“ (S.16, 36) sie als Konkurrenzfigur zu Serpentina kennzeichnen. Heerbrand schlägt Anselmus vor, ihn als Kopisten an Archivarius Lindhorst zu vermitteln, den Heerbrand an dieser Stelle kurz charakterisiert. Am „frühen Morgen“ des folgenden Tags (S. 19, 36) packt Anselmus also seine Schreibutensilien, um pünktlich zur Mittagsstunde das abgelegene Haus des rätselhaften Mannes aufzusuchen. Mit dem Schlag der Turmuhr jedoch verwandelt sich der Türklopfer ins Gesicht des Apfelweibs: Sie wiederholt ihren Fluch aus der ersten Vigilie („Bald dein Fall ins Kristall!, S. 21, Z. 1), in einer Vision fällt ihn die Klingelschnur als Riesenschlange an. Erst das Erscheinen Paulmanns beendet diese Erscheinung. In der folgenden Vigilie wird angedeutet, ein „altes Weib“ mit einem „Kuchen- und Äpfelweib“ (S. 25, 33-35) habe sich mit Anselmus befasst.
Dritte Vigilie
Die dritte Vigilie beginnt in medias res: Der verblüffte Leser befindet sich mitten in einer mythologischen Erzählung Lindhorsts, der den Mythos seiner Herkunft erzählt. Dieser berichtet, wie ein Jüngling mit dem symbolischen Namen Phosphorus („Lichtträger“) eine Feuerlilie küsst, worauf sie verbrennt und als „fremdes Wesen“ davonschwärmt. Ein schwarzer Drache erjagt das Wesen, bis Phosphorus das feindliche Prinzip in Drachengestalt überwindet. Diese Erzählung bringen die Gesellschaft ebenso zum Lachen wie die folgenden Ausführungen des Archivarius zum Drachenleben seines Bruders zwischen Tunis und Lappland: „[O]rientalischer Schwulst“ (S. 23, 34) urteilt Heerbrand, der bei allem Verständnis für Anselmus seine Bürgerlichkeit nicht verleugnen kann. Man kommt überein, Anselmus dem wundersamen Alten anzuvertrauen. Beim Kopieren alter Manuskripte soll er von seinen Tollheiten genesen. Die erste Vorstellung in einem Kaffeehaus jedoch misslingt: Der Archivarius entfernt sich plötzlich und deutet lediglich im Fortgehen an, es sei ihm „ganz ungemein lieb“, Anselmus zu beschäftigen (S. 26, Z. 6).
Vierte Vigilie
Die vierte Vigilie wendet sich zunächst direkt an den Leser: Der Erzähler verwickelt den Leser in die Vorstellung, er durchlebe eine Melancholie von jener Art, wie sie Anselmus befallen hat. Zugleich weckt der schon bis dahin unzuverlässige Erzähler weitere Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit und lädt ihn, sich dem „feenhaften Reiche“ der Phantasie zu nähern (S. 29, 8-9). Die Sehnsucht nach jenem Reich treibt jedenfalls Anselmus immer wieder von neuem an den Holunderbusch, ehe er dort den Archivarius trifft. Dieser eröffnet Anselmus, dass es sich bei den „goldgrünen Schlangen“ (S. 32) um seine Töchter handelt und zeigt ihm Serpentina mittels eines magischen Smaragdrings. Mit der Verheißung von Serpentinas Nähe lädt Lindhorst Anselmus erneut zum Kopieren, versieht ihn zum Schutz gegen das Äpfelweib mit einem „goldgelben Liquor“ (S. 35, Z. 4) und eilt von dannen, wobei seine Rockschöße „wie ein paar große Flügel“ hinterher flattern. Anselmus wundert sich nur kurz, dass aus dem Vergleich sogleich Realität wird – das Emporgleiten eines gleichfalls „weißgraue[n] Geier[s]“ (S. 35, 15-16) bewegt ihn, sich erneut der Sehnsucht nach Serpentina hinzugeben. Eine unbekannte „Bassstimme“ holt Anselmus zurück ins Diesseits.
Fünfte Vigilie
In der fünften Vigilie überzeugt zunächst Registrator Heerbrand den alten Paulmann von den glänzenden Aussichten des Anselmus. Veronika, die das Gespräch mitangehört hat, gibt sich Tagträumen einer Ehe mit Anselmus hin, in denen sie sich bereits als Hofrätin sieht, der ihr liebender Ehemann Ohrringe einhängt. Zum Befremden ihres Vaters springt sie auf und möchte sich im Spiegel beschauen, da tritt Anselmus herein, empfiehlt sich jedoch im nächsten Augenblick mit einem Handkuss und eilt weiter. Währenddessen setzt das unvermutet im Hause Paulmann herumspukende Äpfelweib Veronika als „Alräunchen“ zu (S. 39, Z. 14), bis Fränzchen und die Schwestern Osters, befreundete Damen aus guter Gesellschaft, den Bann brechen. Angelika Osters, die älteste Schwester, berichtet Veronika nun, wie eine Wahrsagerin, die alte Rauerin, ihren im Militärdienst verschollenen Geliebten Viktor mittels eines Zauberspiegels ausfindig gemacht habe. Veronika macht sich an einem Mittwoch nun ebenfalls auf in die Dresdner Vorstadt, um die Dienste der Alten in Anspruch zu nehmen. Die in Anlehnung an die Gebrüder Grimm und zeitgenössische Hexenliteratur gezeichnete Rauerin erscheint dem Mädchen zuletzt als „alte Liese“ (S. 41, 31-32), Veronikas einstiges Kindermädchen. Sie eröffnet Veronika, dass sich Anselmus von Lindhorst und Serpentina nicht lösen könne, und lädt sie ein, Anselmus mit den Mitteln der Magie zurückzugewinnen.
Sechste Vigilie
In der sechsten Vigilie führt Anselmus, der den Archivarius schließlich doch aufsuchen will, das Türknauf-Erlebnis (2. Vigilie) auf überreichlichen Alkoholgenuss zurück. Alkohol spielt auch bei anderer Gelegenheit eine Rolle, etwa beim Feuerpunsch der 9. Vigilie – er trägt dazu bei, dass die Wirklichkeit der Erzählung und die Phantasie des Anselmus weiter verschwimmen. Nachdem er den Türknauf mit dem besagten Liquor bespritzt hat, wird er vom Archivarius durch dessen labyrinthisches Haus geführt. Anselmus schreitet durch lange Korridore und gelangt in ein exotisches Gewächshaus, wo er von „allerlei bunte[n] Vögel[n]“ (S. 48, 33) verspottet wird, die ein als Hausdiener auftretender Graupapagei kaum bändigen kann. Ein prächtiger Raum mit azurblauen Wänden schließt sich an: Anselmus erblickt auf einem prächtigen Gestell den goldenen Topf und auf dessen Oberfläche in „tausend schimmernden Reflexen allerlei Gestalten“, darunter Serpentina. Die Schriftproben des Anselmus erscheinen dem Archivarius ungenügend, dennoch überträgt er dem Studenten den Auftrag, ein arabisches Manuskript zu kopieren. Dieser macht sich an die Arbeit und versinkt in einem Zwischenzustand von Wachen und Träumen, die Arbeit geht wunderbar einfach voran, nur von einer bürgerlichen Mittagsmahlzeit unterbrochen. Als Lindhorst wieder erscheint, erkennt er, was Anselmus dazu befähigt, das Manuskript mühelos zu kopieren: „Glauben und Erkenntnis“ (S. 54, 9), vor allem aber die Liebe zu Serpentina. Der königlich verwandelte Lindhorst entlässt den Studenten, aber kaum tritt dieser vor die Haustür, erscheint ihm der königliche Archivarius am Fenster wieder in seiner gewöhnlichen Bürgersgestalt.
Siebente Vigilie
Unterdessen, am 23. September, die Tag- und Nachtgleiche ist heraufgezogen, macht sich Veronika heimlich auf den Weg zur Rauerin, wo sie um elf ankommt. Begleitet von ihrem magisch begabten schwarzen Kater begeben sich die Zauberin und Veronika zu einem Kreuzweg außerhalb der Stadt, wo sie alsbald mit dem Zauberritual beginnen, während um sie herum ein Gewitter tobt. Mitten im Zauberakt wechselt nun die Perspektive. Als Perspektivfigur wird nun der Leser in die Fiktion überführt und beobachtet gleichsam als Voyeur aus der Postkutsche heraus die gespenstische Szenerie um die entfesselte Veronika am brodelnden Topf. Da der Leser nicht eingreifen kann und der als Adler herabstoßende Archivarius zu spät kommt, gelingt die Verfertigung des Zauberspiegels. Nach einem Zeitsprung findet sich die zuletzt ohnmächtige und nun fiebernde Veronika in ärztlicher Obhut wieder. Erst der runde Spiegel an ihrer Brust ruft ihr ins Bewusstsein, was in der vorherigen Nacht geschehen ist.
Achte Vigilie
Anselmus kopiert unterdessen mit viel Geschick die Manuskripte des Archivarius, bis Lindhorst ihn eines Tages durch den exotischen Palmensaal erneut in das azurblaue Zimmer führt. Dort soll er künftig arbeiten, unter Serpentinas Einfluss, auf keinen Fall jedoch einen Tintenfleck auf dem Manuskript hinterlassen. Lindhorst reicht ihm aus dem Stamm einer Palme eine Vorlage, ehe er am Palmstamm nach oben steigt und durch die „smaragdenen Blättern“ entschwindet (S. 62, 20). Wenig später gleitet die als schlangenhaftes Wesen dargestellte Serpentina hinab und umschlingt Anselmus, so, dass er die „elektrische Wärme“ ihres Körpers spürt (S. 66, 27-28). Sie entdeckt ihm ihre Herkunft aus Atlantis und erzählt nun aus ihrer Sicht den Mythos nach, der bereits aus der dritten Vigilie bekannt ist. Er erzählt vom Sündenfall des Salamanders mit der in einer Lilie geborgenen grünen Schlange, für den er die Warnung des Geisterfürsten Phosphorus in den Wind schlägt – die Frucht dieser Verbindung sind bei einer erneuten Begegnung Serpentina und ihre beiden Schwestern. Als die Schlange in seiner Umarmung zu Asche zerfällt und „ein geflügeltes Wesen“ (S. 68, 23) entflieht, zerstört er rasend den Garten des Phosphorus. Dieser löscht die Flammen des Salamanders, und erst der Einspruch des Erdgeists, seines Gärtners, verhindert die vollkommene Bestrafung. So wird der Salamander als Archivarius Lindhorst in das Reich der Menschen verbannt. Erst, wenn sich „in der dürftigen Zeit der innern Verstocktheit“ (S. 69, 34) ein „kindliche poetisches Gemüt“ findet (S. 70, 33), ein Jüngling, der am Himmelfahrtstag die Schlänglein wahrnimmt, der wahrhaft glaubt und wirklich liebt, erst dann ist der Salamander erlöst. Im Vorgriff auf die 12. Vigilie wird dem Jüngling (und damit Anselmus) verheißen, er werde mit „der Geliebten in Atlantis wohnen“ (S. 70, 21). Dazu bedarf er des goldenen Topfs, denn in ihm wächst die Feuerlilie, deren Duft er verstehen lernt, und an dessen Oberfläche sich Atlantis spiegelt, das mythische Inselreich Platons, eine Utopie universeller Harmonie. Serpentina warnt ihn noch vor dem, Äpfelweib, ehe er unter dem Eindruck von Serpentinas Kuss erwacht. Obgleich es unterdessen sechs geworden ist, scheint die Arbeit bestens gediehen. Mit dem Archivarius und dem später dazustoßenden Heerbrand geht Anselmus in Feierlaune zum Linkeschen Bad.
Neunte Vigilie
Die neunte Vigilie entfaltet zunächst die Wirkung des magischen Spiegels auf Anselmus. Bei einem Besuch im Hause Paulmann blickt er nun gemeinsam mit Veronika in den Spiegel und verwirft die Liebe zu Serpentina als „tolle Einbildung“ (S. 75, 18). Er versäumt den Dienst beim Archivarius und nimmt gemeinsam mit Heerbrand und Paulmann einen Punsch zu sich, der die gemeinsam Trinkenden in einen orgiastischen Rausch versetzt. Offenbar werden sie vom Archivarius gelenkt, denn alle drei überbieten sich darin, Lindhorst zu preisen („Vivat Salamander“, S. 78, 35) und das Äpfelweib zu verdammen („pereat die Alte“, S. 78, 35). Die Sache der alten Liese vertritt derweil Veronika, bis der Graupapagei des Archivarius (als dessen Hausdiener) die Szene auf der Suche nach Anselmus unterbricht. Anselmus eilt berauscht nach Hause, wo er einschläft. Am Mittag darauf begibt er sich zu seinem Kopierdienst bei Lindhorst und geht dabei durch ein merkwürdig alltäglich gewordenes Haus. Weil Serpentina ihm fernbleibt, wird ihm auch die Vorlage unleserlich, und so ereignet sich das bereits Vorausgedeutete: Er hinterlässt einen Tintenklecks. Daraufhin bannt ihn der Salamander (Lindhorst) unter entsetzlichem Getöse in eine Kristallflasche.
Zehnte Vigilie
Zu Beginn der zehnten Vigilie versetzt der Erzähler den direkt angesprochenen Leser in die Lage des Anselmus: Wie dieser erlebt er die bedrückende Enge der Kristallflasche. Anselmus beklagt unterdessen sein Schicksal und ruft nach Serpentina, bis er rüde unterbrochen wird. In weiteren Flaschen auf dem „Repositorium“ (einem Aktenregal) erblickt er „drei Kreuzschüler und zwei Praktikanten“ (S. 83, 35). Ganz im Gegensatz zu Anselmus verkennen die jungen Burschen, ganz in Wohlleben und Alltag verhaftet, ihre missliche Lage. Ihnen fehlt es an Einsicht in „Freiheit und Leben in Glauben und Liebe“ (S. 84, 34). Der reuige Anselmus wird schließlich von Serpentina erhört, die ihm in Anlehnung an den 1. Korinther 13 zuruft: „[G]laube, liebe, hoffe!“ (S. 85, 5). Allerdings ist das Äpfelweib in Gestalt einer Kaffeekanne zugegen, die den Unglücklichen höhnisch an ihre Prophezeiung am Schwarzen Tor erinnert (1. Vigilie): „Ins Kristall nun dein Fall! – hab ich dir’s nicht längst vorausgesagt?“. Sie bietet ihm an, ihn mithilfe einer Ratte zu befreien, wenn er Hofrat würde und Veronika heiratete. Anselmus weist ihr Angebot empört zurück. Das Äpfelweib macht sich gemeinsam mit ihrem Kater nun daran, den goldenen Topf zu rauben und Serpentina zu töten. Der Papagei und Lindhorst, inzwischen alarmiert, nehmen den Kampf auf: Während der Papagei dem Kater die Augen aushackt, verwandelt der Archivarius die Alte nach heftigem Kampf in ihre Ausgangsgestalt zurück, eine Runkelrübe. Das „feindliche Prinzip“ (S. 89, 8-9) ist also bezwungen, Anselmus wird befreit, er habe seine „Treue bewährt“ (S. 89, 11), und so stürzt er „in die Arme der holden lieblichen Serpentina“ (S. 89, 18).
Elfte Vigilie
Die elfte Vigilie blendet zum Geschehen im Hause Paulmann zurück: Nach dem Punsch-Erlebnis leiden Paulmann, insbesondere aber Heerbrand an den Folgen. Rasch kommen sie überein, dass Anselmus die Schuld an ihrem Zustand trägt und führen alles Erlebte auf natürliche Ursachen zurück. Heerbrand, der eben Hofrat geworden ist und später um Veronikas Hand anhalten wird, hinterlässt Paulmann in Unkenntnis seiner Absichten und verabschiedet sich stürmisch. Um Veronika kümmert sich erneut Dr. Eckstein, der ihr „Nervenzufälle“ attestiert (S. 91, 28). Es folgt ein Zeitsprung: Nach einigen Monaten betritt ein bestens gekleideter Registrator Heerbrand das Haus Paulmann und unterbreitet dem älteren Freund eine im Stil unbeholfene Bitte um die Hand seiner Tochter. Da er inzwischen Hofrat geworden ist und ihr rätselhafterweise just jenes Ohrgehänge schenkt, dass sie in ihrem Tagtraum gesehen hat, ist Heerbrand für Vater und Tochter der geeignetste Bewerber. Sie erzählt daraufhin in einem kurzen Rückblick von ihrer Zauberei mit der altern Liese und empfiehlt, den Zauberspiegel in der Elbe zu versenken. Heerbrand sieht in ihrer Erzählung „nur eine poetische Allegorie“ (S. 95, 7-8), Veronika nennt die Erlebnisse einen „recht albernen Traum“ (S. 95, 11). Nach diesem Abschied vom Übernatürlichen treten Veronika und Heerbrand, einen Zeitsprung später, in den bürgerlichen Stand der Ehe; vom „Erker eines schönen Hauses“ (S. 95, 32) schaut Veronika zufrieden auf ihre Bewunderer hinab.
Zwölfte Vigilie
Die zwölfte Vigilie beginnt mit einer Einrede des Erzählers. Dieser beklagt melancholisch, wie schwer es ihm falle, das Werk zu vollenden, zumal das Leben des Anselmus in Atlantis jeder Beschreibung spotte. In dieser misslichen Lage erhält er ein „Billett“ des Archivarius Lindhorst (S. 96, 34), der sich einerseits über die Aufhebung seiner Anonymität beschwert, andererseits den Erzähler einlädt, mit Blick nach Atlantis das Werk zu vollenden. Über die Gründe dieser Auszeichnung kann der Erzähler nur spekulieren. Als er Lindhorst nun tatsächlich aufsucht, lädt ihn dieser ins azurblaue Zimmer, wo er ihm einen Feuerpunsch serviert, angeblich das bevorzugte Getränk des von Hoffmann ersonnenen Kapellmeister Kreisler aus Hoffmanns Kreisleriana und dem Kater Murr. Es verwundert nicht, dass sich sogleich ein Schaffensrausch einstellt. Er führt dazu, dass dem Erzähler die folgende Textstelle förmlich aus der Feder fließt, augenfällig im selben Bewusstseinszustand wie Anselmus. Es handelt sich um die Vision des zeit- und ortlosen, jedenfalls paradiesischen Atlantis: Anselmus hat sich mit Serpentina verbunden, im goldenen Topf blüht die Lilie. Die Schau ins Paradies endet mit den Worten: „wie Glaube und Liebe ist ewig die Erkenntnis“ (S. 101, 14-15). Erschüttert von der Einsicht, anders als Anselmus aus der Utopie wieder ins Leben zurückkehren zu müssen, überkommt den Erzähler erneut tiefe Melancholie. Trost spendet der Archivarius: „Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?“. Mit dieser rhetorischen Frage endet das Märchen.
In der Literatur behandelte Prüfungsaufgaben
Die Darstellung von Krankheit und Gesundheit analysieren |
KÖNIGS 103 |
Die Darstellung von Bürgertum und Künstlertum erarbeiten Konrektor Paulmann und Veronika charakterisieren und als Vertreter des Bürgertums bestimmen Analysieren des Anfangs der 2. Vigilie, Darstellung der „alltagsbürgerlichen Welt“ berücksichtigen |
KÖNIGS 106 KLETT 101 SCHÖNINGH 155 |
Hoffmanns Erzählkonzept erarbeiten Analysieren und interpretieren der 4. Vigilie / Erzähltechnik + Traum |
KÖNIGS 109 KLETT 99 |
Anselmus’ Entwicklung und dabei wirksame Kräfte darstellen Analysieren und interpretieren der 1. Vigilie / Anselmus’ Charakter Das Ende der 9. Vigilie analysieren und die Entwicklung Anselmus’ berücksichtigen |
KÖNIGS 112 KLETT 96 SCHÖNINGH 148 |
Bedeutung der Magie erörtern |
KLETT 105 |
Analysieren und interpretieren der 10. Vigilie (Anfang): Gefangenschaft des Anselmus in der Flasche |
KLETT 106 |
· Das Verhältnis von Realität und Phantasie analysieren Das Ende der 9. Vigilie analysieren und die Darstellung der „märchenhaft-wunderbaren Welt“ berücksichtigen |
KLETT 107 SCHÖNINGH 148 |
Lektürehilfen
- KLETT: Fellenberg, Monika; Küster, Nadine: T. A. Hoffmann: Der goldene Topf. Für Oberstufe und Abitur. Stuttgart: Klett, 2017, 1. Auf. (Klett Lerntraining)
- SCHÖNINGH: Zurwehme, Martin: T. A. Hoffmann: Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit … verstehen. Braunschweig u. a.: Schöningh, 2016
- KÖNIGS: Grobe, Horst: Textanalyse und Interpretation zu E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf. Hollfeld: Bange, 2011 (Königs Erläuterungen; 474)
Bibliographie
- E. T. A. Hoffmann: Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Mit einem Kommentar von Peter Braun. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2015, 6. Aufl. (Suhrkamp BasisBibliothek; 31)
- E. T. A. Hoffmann: Fantasiestücke in Callot’s Manier [Werke 1814]. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2: 1. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1993
- Safranski, Rüdiger: E. T. A. Hoffmann : das Leben eines skeptischen Phantasten. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verl., 2014 (Fischer;14301)