Juli Zeh: Corpus Delicti

Warum sollte man „Corpus Delicti“ lesen?

  • „Corpus Delicti“ ist thematisch interessant und besonders aktuell. Nicht nur im Pandemie-Zeitalter kann staatliche Gesundheitsfürsorge ein Problem werden, wo sie Gesundheit zum absoluten Wert erhebt und resolut in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen eingreift. „Corpus Delicti“ zeichnet einen Nanny-Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger mit unterschwelligem Druck (Nudging) drangsaliert. Auch die Frage des Datenschutzes hängt damit zusammen: „Corpus Delicti“ zeigt einen Staat, der die Bevölkerung ausspäht und die gewonnenen Daten für oder gegen sie einsetzt, so ähnlich, wie China seine Social-Credit-Systeme nutzt. Daneben wirft „Corpus Delicti“ die Frage auf, wie weit ein Staat gehen darf, um die Sicherheit seiner Bürger vor Terror zu gewährleisten. Mia Holl wird zum Ziel einer Hexenjagd, an der sich auch Nachbarn und Weggefährten beteiligen.
  • „Corpus Delicti“ ist ein facettenreicher und perspektivenreicher Roman, der unterschiedliche Stilhaltungen, Erzählmuster und Textsorten kombiniert. Er verbindet innere Monologe mit Zeitungskommentaren, Manifeste mit Dialogen.
  • „Corpus Delicti“ ist einer der wenigen Romane, zu dem die Autorin selbst einen Kommentar verfasst hat: Juli Zehs „Fragen zu Corpus Delicti“ erschien 2020.
  • „Corpus Delicti“ ist ohne Worterklärungen lesbar, was auf Lektüre in der Kursstufe selten zutrifft. Die Handlung entwickelt sich recht rasch, Juli Zeh gibt szenischem Erzählen den Vorrang vor Beschreibung, Charakterisierung und Erzählerkommentar – das fällt gerade im Vergleich mit dem „Felix Krull“ und dem „Verschollenen“.
  • Im Gegensatz zu vielen Texten, in denen Frauen nur als Assistenzfiguren oder Opfer vorkommen, ist hier die weibliche Protagonistin auch selbstbewusste Akteurin.

Biographie, insbesondere zu „Corpus Delicti“

1974

30. 6.: Juli Zeh kommt als Julia Barbara Finckh in Bonn zur Welt. Sie besucht die private Otto-Kühne-Schule in Bonn. Nach dem Abitur studiert Zeh Rechtswissenschaften mit dem Studienschwerpunkt Völkerrecht in Passau, Krakau, New York und Leipzig.

1996

Zeh beginnt ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig (bis 2000).

1998

Zeh legt in Sachsen das erste Staatsexamen als Jahrgangsbeste ab. Im Anschluss absolviert Zeh ein Praktikum bei der UNO in New York. Es folgt ein juristischer Aufbaustudiengang „Recht der Europäischen Integration“, den sie als Magistra der Rechte (LL.M.Eur.) abschließt.

1999

Juli Zeh erhält den Preis der Zeitschrift Humboldt Forum Recht.

2000

Zeh wird mit dem Caroline-Schlegel-Preis für Essayistik ausgezeichnet.

2001

Bei Schöffling in Frankfurt am Main erscheint Adler und Engel.

2002

Bei Nomos in Baden-Baden veröffentlicht Juli Zeh die juristische Monographie Recht auf Beitritt? Ansprüche von Kandidatenstaaten gegen die Europäische Union. --- Außerdem wird sie mehrfach ausgezeichnet: Deutscher Bücherpreis, Rauriser Literaturpreis des österreichischen Bundeslands Salzburg, Förderpreis des Bremer Literaturpreises.

2003

Juli Zeh erhält den Ernst-Toller-Preis und den Hölderlin-Förderpreis.

2004

Bei Schöffling in Frankfurt am Main erscheint Spieltrieb.

2004

Juli Zeh erhält ein Stipendium als Inselschreiberin von Sylt und gibt bei Schöffling in Frankfurt am Main Ein Hund läuft durch die Republik heraus.

2005

Bei Schöffling erscheint das Sachbuch Kleines Konversationslexikon für Haushunde.

2005

Juli Zeh erhält den Per-Olov-Enquist-Preis und den Literaturpreis der Bonner LESE.

2006

Bei MDR Figaro wird das Hörspiel Adler und Engel ausgestrahlt. --- Die Regisseurin Friederike Heller bittet Juli Zeh um einen Text für die Ruhrtriennale.

2007

Bei Schöffling erscheint Schilf. --- 13.12.:Schilf wird im Münchner Volkstheater uraufgeführt. --- 15.9.: Bei der RuhrTriennale Essen wird Corpus Delicti in der „Zeche Karl“ uraufgeführt. Anne Ratte-Polle spielt Mia Holl.

2008

Bei Schöffling veröffentlicht Juli Zeh das Kinderbuch Das Land der Menschen. --- Der SWR2 strahlt das Hörspiel Unter Glas aus. --- Mit Tilman Spengler konzipiert Juli Zeh Der gläserne Mensch. Das Sachbuch erscheint im Hamburger Zeitverlag Bucerius. --- Für ihre Schauspiele wird Juli Zeh zudem mit dem Jürgen Bansemer & Ute Nyssen-Dramatikerpreis ausgezeichnet und erhält außerdem den Prix Cévennes du roman européen.

2009

Errneut bei Schöffling erscheint Corpus Delicti. Ein Prozess. --- Zehn erhält den Carl-Amery-Literaturpreis, den Solothurner Literaturpreis und den Gerty-Spies-Literaturpreis --- Gemeinsam mit Ilija Trojanow verfasst sie Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. Das Sachbuch erscheint bei Hanser in München.

2010

19.7.: Zeh wird am Europa-Institut bei Torsten Stein an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zum Dr. iur. promoviert. Das Thema der Dissertation ist: Übergangsrecht - zur Rechtssetzungstätigkeit von Übergangsverwaltungen.  --- Der SWR2 strahlt das Hörspiel Blue Mountain aus. --- Mit Gesine Schwan schreibt Zeh Zukunft in Eile: Ein Prozess. Der Band erscheint bei Schöffling in Frankfurt am Main. --- Bei Atlantis in Sofia erscheint eine bulgarische Ausgabe von Corpus Delicti, unter dem Titel: Corpus delicti: Un procès erscheint im Pariser Verlag Actes Sud außerdem eine französische Ausgabe Corpus Delicti. --- Bei Ponte alle Grazie in Mailand erscheint unter dem Titel  Corpus delicti: un processo eine italienische Ausgabe von Corpus Delicti. --- Im selben Jahr hat Juli Zeh die Tübinger Poetik-Dozentur inne und lehrt im Rahmen der Heinrich-Heine-Gastdozentur.

2011

22.4.: 203 wird im Kleinen Haus des Schauspielhauses Düsseldorf uraufgeführt. --- Unter dem Titel El Método erscheint bei Mondadori in Barcelona eine spanische Ausgabe von Corpus delicti.

2012

Bei Schöffling erscheinen die Romane Nullzeit und Alles auf dem Rasen (Untertitel: kein Roman) sowie der Reisebericht Die Stille ist ein Geräusch: Eine Fahrt durch Bosnien. ---In der Hamburg Edition Körber-Stiftung folgt Die Diktatur der Demokraten: Warum ohne Recht kein Staat zu machen ist.

2013

Bei Schöffling erscheint der Dramenband Good Morning, Boys and Girls. Theaterstücke. Der Sammelband enthält: 203; Der Kaktus; Yellow Line; Good Morning, Boys and Girls. --- Unter dem Titel Corpus Delicti: um processo wird bei Record in Rio de Janeiro eine brasilianische Ausgabe von Corpus Delicti veröffentlicht. --- Im Hansischen Druck- und Verlagshaus (edition chrismon) in Frankfurt am Mainerscheint das Kinderbuch Feldmann und Lammer: Eine Geschichte vom verlorenen Schaf und dem reichen Kornbauern. --- Beim SWR2 wird das Hörspiel Nullzeit gesendet. --- Juli Zeh hält die Frankfurter Poetik-Vorlesungen, erschienen als: Treideln: Frankfurter Poetikvorlesungen bei Schöffling in Frankfurt am Main. --- Juli Zeh erhält den Thomas-Mann-Preis.

2014

Mai-Okt.: Juli Zeh schreibt im dreiwöchigen Wechsel mit Jakob Augstein und Jan Fleischhauer die Kolumne Die Klassensprecherin im Spiegel. --- Unter dem Titel The Method:Corpus Delicti erscheint bei Vintage Books in London eine englische Ausgabe von Corpus Delicti. --- 22.4.: In Recklinghausen wird Mutti uraufgeführt. ---Juli Zeh erhält den Hoffmann-von-Fallersleben-Preis --- Bei Schöffling in Frankfurt am Main erscheint der Prosaband Nachts sind das Tiere: Essays und Reden.

2015

Mit Dunja Schnabel veröffentlicht Juli Zeh das Kinderbuch Jetzt bestimme ich, ich, ich! im Hamburger Carlsen-Verlag. --- Unter dem Pseudonym Manfred Gortz erscheint bei Portobello in München das Sachbuch Dein Erfolg. --- Juli Zeh erhält den Kulturgroschen des Deutschen Kulturrates und den Hildegard-von-Bingen-Preis für Publizistik – Bei Linking in Taipei erscheint eine chinesische Ausgabe von Corpus Delicti.

2016

Juli Zeh veröffentlicht bei Luchterhand in München den Roman Unterleuten.

2017

Bei Luchterhand in München erscheint Leere Herzen. Roman. --- Juli Zeh erhält weitere Preise: den Samuel-Bogumil-Linde-Preis; den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch, und zwar den Sonderpreis für ihr bisheriges publizistisches Werk. --- Außerdem wird sie auf die Brüder-Grimm-Professur an der Universität Kassel berufen.

2018

12.12.: Juli Zeh wird auf Vorschlag der SPD-Fraktion vom Brandenburgischen Landtag zur ehrenamtlichen Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt.

2018

Bei Luchterhand in München erscheint Neujahr. Roman. --- Der NDR und rbb senden das Hörspiel Unterleuten. --- Juli Zeh erhält das Bundesverdienstkreuz und den Ernst-Johann-Literaturpreis der Stadt Schifferstadt.

2019

30.1.: Juli Zeh wird als Richterin am Verfassungsgericht im Brandenburger Landtag vereidigt. --- Bei Piper in München erscheint das Sachbuch Gebrauchsanweisung für Pferde. --- Juli Zeh erhält den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln.

Erzähltechnik

  • Zeitgestaltung: Die Erzählung spielt im Jahr 2043, was sich aus Mias Geburtsjahr (2009) und ihrem Alter (34) ergibt. Sie verläuft auf zwei zeitlichen Ebenen: die Moritz-Handlung, die zudem im Präteritum erzählt wird, beginnt sechs Monate vor Mias Vorladung und endet etwa vier Wochen vor diesem Ereignis. Der Haupterzählstrang, die Mia-Handlung, ist unbestimmter Dauer und reicht von der ersten Vorladung zu ihrer Begnadigung. Unterbrochen wird der Zeitlauf der Erzählung durch eingeschobene Dokumente (Mias Manifest, Kramers Kommentar).
  • Raum des Erzählens: Schauplatz der Handlung ist ein zukünftiges Deutschland, das offenbar als Nationalstaat noch zu existieren scheint. Als Herausgabeorte von Kramers Methodenkommentar werden zudem konkrete Orte genannt: München, Berlin und Stuttgart. Allerdings bleibt der genaue Schauplatz des Geschehens ungefähr, er ist jedoch, wie wir früh erfahren, städtisch. Zentrale Handlungsräume sind durch Mia als Protagonistin verbunden. Die Handlung beginnt im Gerichtssaal, wo Mia mehrfach erscheint; auch das Gefängnis, dessen Lage unbestimmt bleibt, mag man sich damit in Zusammenhang denken. Schutz- und Rückzugsraum ist für Mia ihre Wohnung, wo auch die „ideale Geliebte“ erscheint – und zwar ausschließlich dort. Sie ist in das „Wächterhaus“ integriert, das außer Mia auch Driss, Lizzie und die Pollsche bewohnen. Der dritte wichtige Handlungsraum ist die „Kathedrale“, ein verwunschener Freiheitsort in einer Flussaue, von der Methode abgesperrt, wo Moritz angelt und Zeit mit Mia verbringt. Unweit davon, an einer Brücke, verabredet sich Moritz mit seinen Geliebten – hier wird auch die ermordete Sibylle aufgefunden.
  • Erzähltechnik: Im Roman mischen sich mehrere Erzählperspektiven und Erzählsituationen, die oft inmitten des Kapitels wechseln. Recht häufig wechselt dabei auch die Perspektivfigur: Das Kapitel beginnt aus der Sicht einer Nebenfigur (etwa Driss oder Sophie), ehe wir im folgenden Abschnitt Mias Perspektive einnehmen. Die eingeschobenen Textblöcke (Urteilstexte, Mias Manifest, etc.) entwickeln ihren eigenen auktorialen Erzähler, der die Stimme der jeweiligen Autoren vertritt. Sonst schwankt die Erzählsituation zwischen dem personalen Erzählen aus der Sicht Mias und auktorialem Erzählen, bei dem es vereinzelt zur Leseranrede kommt (Kap. 3 und 15). Insgesamt dominiert szenisches Erzählen, aber es gibt auch ausführliche innere Monologe, kürzere Beschreibungen, Erzählerkommentare (etwa zur Welt des Methodenstaats) und verschiedene andere Erzählformen.

Quellen

  • Die wichtigste Vorlage für Juli Zehs Roman ist ihr zuvor aufgeführtes Theaterstück desselben Titels, das unter der Regie von Anja Gronau uraufgeführt wird. Es besteht zunächst aus einer Mischung von „Prosafragmenten, durchmischt mit Dialogen“ (Zeh 2020, S. 26).
  • Ähnliche Themen greift Juli Zeh in anderen Romanen auf, in denen sie vergleichbare Figuren entwickelt. Juristisches findet sich in „Adler und Engel“, „Spieltrieb“ und „Nullzeit“.
  • Zuvor hat sich Juli Zeh außerdem mit Fragen der Biopolitik befasst. Sie erwähnt insbesondere „Homo sacer“ von Giorgio Agamben (Zeh 2020, S. 901 f.).
  • Zur vorbereitenden Lektüre gehört Juli Zeh zufolge auch Thomas Manns „Der Zauberberg“, der sich intensiv mit der Deutung des Krankseins für den Menschen befasst.

Gattungselemente

  • Science Fiction: Obgleich „Corpus Delicti” eine mögliche Zukunft zeigt, fehlen charakteristische Merkmale des SciFi-Romans. Zum einen geht Zeh kaum auf die technischen Umstände ein, die das Leben der Protagonisten prägen. Zwar sind die dargestellten Nova (Neuentwicklungen) plausibel, ihre Entwicklung und Funktionsweise spielt ebenso wenig eine tragende Rolle wie ihre naturwissenschaftliche Erklärbarkeit.
  • Utopie: Eine Utopie ist „Corpus Delicti“ nur dann, wenn man einzelne Lebensbereiche in den Blick nimmt, das Ganze der Handlung jedoch vernachlässigt. Ziel der Utopie ist es, Fehlentwicklungen im Jetzt hervorzuheben, indem man ihre Beseitigung in einer zukünftigen (oder fernen) Gesellschaft zeigt. Die Probleme, um die es in „Corpus Delicti“ geht, sind aber gerade nicht beseitigt, sondern gesteigert worden: die Aufhebung des Datenschutzes, Kontrolle aller Lebensverhältnisse, manipulative Medien, Konformität und Anpassungsbereitschaft.
  • Dystopie: Der Roman trägt unverkennbar dystopische Züge. Ähnliche Motive gibt es in klassischen Dystopien der Moderne: Totale Überwachung („1984“) und Verlockung zur Willensaufgabe („Brave New World) Als vollkommene Dystopie erscheint die Gesellschaft, in der sich Mia Holl bewegt, zunächst jedoch nicht. Die Überfürsorglichkeit des Staats und die strenge Ausrichtung an der Vernunft lassen zunächst nicht den Eindruck entstehen, es handle sich um ein dystopisches Gemeinwesen. Abschreckend wird sie erst durch die Durchsetzung der gesellschaftlichen Regeln mit Lüge und Gewalt.
  • Justizroman: Juli Zeh hat selbst die Nähe ihres Romans zum Gerichtsdrama hervorgehoben. Der Rahmen der Handlung ist in der Tat eine Gerichtsverhandlung, deren Kern der Terrorvorwurf gegen Mia Holl bildet. Sowohl die Formen juristischen Handelns als auch das Personal rücken den Roman in die Nähe des Justizromans (Bell, der Staatsanwalt; Sophie, die Richterin; Rosentreter, der Anwalt). Allerdings ist der Prozess lediglich das Symptom einer fehlgeleiteten Entwicklung der Gesellschaft; es geht nicht vorrangig um Kritik am juristischen System der Gegenwart.

Zusammenfassung

  1. Das Vorwort (S. 7-8): Das Vorwort ist ein fiktives Zitat aus dem Hauptwerk von Mia Holls Gegenspieler, Heinrich Kramer: Es handelt sich um die Definition der Gesundheit, wie sie im Methodenstaat angewandt wird. Dabei handelt es sich weniger um eine exakte Definition, vielmehr entwickelt Kramer eine wertende Umschreibung.
  2. Das Urteil (S. 9-10): Das Kapitel „Das Urteil“ gibt vor, der Anfang einer gerichtlichen Urteilsschrift zu sein, wie sie bei der Urteilsverkündung verlesen wird. Es geht um „Mia Holl, deutsche Staatsbürgerin, Biologin“. Angeklagt wird sie wegen fiktiver Verbrechen, die sich aus ihrem Widerstand gegen den Methodenstaat ergeben. Verurteilt wird sie zum „Einfrieren auf unbestimmte Zeit“. Das Dokument bricht ab, bevor die Urteilsbegründung einsetzt.
  3. Mitten am Tag, in der Mitte des Jahrhunderts (S. 11-19): Das Kapitel beginnt mit dem Panorama einer zukünftigen Welt, die strenger Rationalität unterworfen ist. Diese Zukunft lässt sich auf die Zeit um das Jahr 2043 festlegen – 34 Jahre alt ist damit die Hauptfigur, Mia Holl. (Dass sie 2009 zur Welt gekommen ist, ist ein Spiel mit Fiktionalität: „Corpus Delicti“ ist 2009 erschienen.) Zunächst fällt der Blick auf das Gerichtsgebäude. Die junge Richterin Sophie bespricht mit dem Staatsanwalt Bell zunächst den Fall eines Vaters, der staatliche Pflichten der Gesundheitsfürsorge vernachlässigt haben soll. Dann betritt als Vertreter der Medien Heinrich Kramer den Raum, Rechtswissenschaftler und Journalist. Auffällig rasch einigen sich Bell als „Vertreter des öffentlichen Interesses“ und der nachgiebige Strafverteidiger Rosentreter als „Vertreter des privaten Interesses“. Dann wird der Fall der alleinstehenden Biologin Mia Holls verhandelt, die ihre Pflichten gegenüber dem Gesundheitsstaat zunehmend vernachlässigt. Kramer scheint interessiert, er kennt die Angeklagte allem Anschein nach und deutet an, die Richterin kenne sie ebenfalls.
  4. Pfeffer (S. 20-24): Der Schauplatz der folgenden Szene ist das Wohnhaus Mia Holls, ein „Wächterhaus“, wo der Gesundheitsstatus aller Bewohner systematisch erfasst wird. Drei Bewohnerinnen, Lizzie, die Pollsche und Driss, unterhalten sich amüsiert über ihre Kinder, die sich mit Pfeffer zum Niesen gebracht und „Krankheit“ gespielt hätten. Dann tritt Kramer auf und erkundigt sich nach Mia Holl. Offenbar will Kramer die Beschuldigte aufsuchen.
  5. Die ideale Geliebte (S. 25-28): Mia Holl sitzt unterdessen am Schreibtisch und macht sich Notizen über ihren verstorbenen Bruder Moritz, während sie mit ihrer (fiktiven) „idealen Geliebten“ spricht, die ihrerseits auf dem Sofa zu sitzen scheint. Mit zwei Aussagen ihres Bruders hadert Mia besonders. Zum einen habe Moritz behauptet, beim Blickkontakt zweier Liebender handle es sich lediglich um „Materie, die sich selbst anglotzt“ (S. 26); zum anderen habe er festgestellt: „Das Leben ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.“
  6. Eine hübsche Geste (S. 29-32): Kramer steht nun vor Mias Tür. Sie erkennt ihn wieder, lässt ihn aber trotz seiner Mitschuld am Tod ihres Bruders ein. Kramer bietet seinen ganzen Charme auf, um mit Mia ins Gespräch zu kommen. Kramer deutet dabei an, Mia könne den Suizid ihres Bruders ermöglicht haben, indem sie ihm in der Haft eine Angelschnur verschafft habe. Nun wird Mia von Erinnerungen an Moritz überwältigt und sinkt in die Knie. Kramer hilft ihr auf – eine „hübsche Geste“.
  7. Genetischer Fingerabdruck (S. 33-35): Ein erläuternder Rückblick setzt ein, den erst das Kapitelende als Bericht Kramers identifiziert: Moritz habe bei einer Verabredung die Frau bereits tot aufgefunden. Allerdings habe man an ihr Sperma gefunden, das seinen genetischen Fingerabdruck trage. Beim Prozess, der die Bevölkerung polarisiert, weist er die Schuld von sich. Kramers Berichterstattung trägt zur Verurteilung bei. Währenddessen ist auch Mia, die nachts ihren Bruder in der Haft besucht, in den Sog der Medien geraten.
  8. Keine verstiegenen Ideologien (S. 36-43): Während Kramer sich um Mia kümmert, führen sie einen Dialog über den Konflikt von wissenschaftlicher Objektivität und subjektivem Empfinden, den die „ideale Geliebte“ mit Einwürfen vorantreibt, gewissermaßen als Mias innere Stimme: Mia fühlt, dass ihr Bruder unschuldig ist; Kramer vertritt dagegen die Methode, die technisch unfehlbar sei und deshalb das Vertrauen der Bürger verdiene. Auch Mia will er zum Methodenstaat zurückführen, um mit einem journalistischen Porträt im „Gesunden Menschenverstand“ das erschütterte Vertrauen der Bevölkerung wiederherzustellen.
  9. Durch Plexiglas (S. 44-46): Im Rückblick wird ein Besuch Mias bei Moritz im Gefängnis erzählt, vier Wochen vor Kramers Besuch bei Mia und sechs Monate nach dem Prozess: Die Geschwister sehen sich durch Plexiglas: Mia erhält im Austausch für eine Angelschnur, an der sich Moritz später erhängen wird, dessen „ideale Geliebte“.
  10. Eine besondere Begabung zum Schmerz (S. 47-48): Der Blick wendet sich nun wieder Mia zu: Ihr Alltag entgleitet ihr zunehmend, so groß ist ihr Schmerz, so sehr entfremdet sie sich ihrem Leben. Die „idealer Geliebte“ spiegelt Mias Sicht auf Kramer, dessen Rationalität sie anerkennt. Gleichwohl erweckt er den Anschein, ein Fanatiker zu sein.
  11. Bohnendose (S. 49-50): Die Handlung vollzieht einem Zeitsprung: Mia wird von zwei Sicherheitswächtern dem Amtsarzt zugeführt, der sie ausführlich untersucht – wie eine gescannte Bohnendose kommt sie sich vor. Körperlich kann er nichts feststellen, ihr seelisches Leiden zieht er nicht in Betracht.
  12. Saftpresse (S. 51-54): Richterin Sophie, deren Perspektive wir zunächst einnehmen, hat Moia zur Anhörung geladen. Sie will klären, weswegen Mia die vorgeschriebenen Routinen nicht einhält. Mia, zu deren Sicht das Kapitel dann umschwenkt, versucht ihr Verhalten zu erläutern und verweist dabei auf die Komplexität der menschlichen Existenz. Menschen funktionierten eben nicht wie „Saftpressen“. Ihr Schmerz sei für andere nicht nachzuvollziehen. 
  13. Nicht dafür gemacht, verstanden zu werden (S. 55-56): Aus dem eben geschilderten Gespräch mit der Richterin springt die Erzählung in eine imaginierte Szene. Der Erzähler lädt das Publikum dazu ein, sich Folgendes vorzustellen: Mia steht im Morgengrauen auf, dreht die Musik laut und zerschlägt das Wohnzimmerfenster, ehe sie in die Splitter greift. Dann wird deutlich, dass nichts von all dem geschieht. Es handelt sich um eine Fiktion.
  14. Privatangelegenheiten (S. 57-59): Nach dieser Unterbrechung wird Mias Dialog mit Sophie wieder aufgenommen. Mia bittet um Zeit und beteuert, mit dem Grundgedanken staatlicher Gesundheitsfürsorge einverstanden zu sein. Eine „Methodenfeindin“ sei sie keineswegs. Daraufhin verzichtet Sophie darauf, sie einer staatlichen Maßnahme zu unterwerfen, unter der Voraussetzung, dass Mia nicht wieder auffalle.
  15. Fell und Hörner, erster Teil (S. 60-63): Nun beginnt ein Rückblick im Präteritum, der dem Leser eine Erzählszene zwischen Mia und Moritz ermöglicht. Sie gehen gemeinsam zur „Kathedrale“, einer eigentlich gesperrten Lichtung im Auwald. Moritz spricht über sein Verständnis von Lebensgenuss, dass intensive Lust und Risiken einschließt. Die Keimangst des Methodenstaats hält er für unsinnig, Bakterien stellt er als Wesen mit „Fell und Hörnern“ dar. Mia verwahrt sich gegen seine radikalen Ideen. Zuletzt zündet er sich eine Zigarette an, ein Tabu in der Gesundheitsdiktatur.
  16. Rauch (S. 64-65): In der folgenden Szene begleitet Driss den Leser. Ihre Vorstellungen kreisen schon lange um Mia, Kramers Besuch regt ihre Phantasie an. Als sie durch das Treppenhausfenster Rauch riecht, schlägt sie Feueralarm. Mia indessen raucht auf dem Sofa, um ihrem toten Bruder nah zu sein.
  17. Keine Güteverhandlung (S. 66-69): Wegen ihres Nikotinkonsums steht Mia erneut vor Gericht. Sophie, ihre Richterin, fühlt sich hintergangen und ist äußerst erbost über Mias Rückfall. Dennoch weist sie den Vertreter des öffentlichen Interesses, Bell, in seine Schranken. Mia wird zu einer Geldbuße verurteilt und erhält einen Pflichtverteidiger gestellt, den Anwalt Rosentreter.
  18. Ein netter Junge (S. 70-76): Im Gespräch wird Rosentreter offenbart ihr jungenhaft wirkender Verteidiger, dass Moritz auf der „Schwarzen Liste“ gestanden habe. Mia kann Rosentreter nicht ernstnehmen und weist ihn zunächst ab. Als er jedoch seine Prozessstrategie offenlegt und das Urteil anfechten will, weil bei Mias Zustand eine Härtefallregelung greife, lässt sie sich auf Rosentreters vorgehen ein.
  19. Wächter (S. 77-78): Als Mia zurückkehrt, wird sie von ihren Nachbarinnen empfangen. Diese verwahren sich dagegen, sie denunziert zu haben. Driss entschuldigt sich. Da die drei jedoch auf den Status ihres „Wächterhauses“ verweisen und Mia drängen, sich an die Regeln zu halten, stürmt diese zwischen ihnen hindurch. Lizzie rempelt sie dabei an, sie stürzt die Treppe hinab.
  20. In der Kommandozentrale (S. 79-82): Sophie war offenbar beim Einkaufen und hat den Vorsatz, sich künftig an ihre Gesundheitsvorgaben zu halten. Sie setzt sich auf den Hometrainer. Allerdings macht ihr die „ideale Geliebte“ klar, dass ihre Anstrengungen vergeblich sind; das Ich, die „Kommandozentrale“, kann dem Körper Befehle erteilen, aber unmöglich sich selbst. Der Schmerz, Moritz verloren zu haben, ist nur zum Teil die Ursache für Mias Leiden. Ein weiterer Grund ist die Überfürsorglichkeit des totalitären Gesundheitsstaats, der persönliche Entscheidungen zugunsten der allgemeinen Wohlfahrt minimiert.
  21. Recht auf Krankheit (S. 83-89): Das folgende Kapitel springt in medias res in eine Talkshow, Der Gast ist Heinrich Kramer, moderiert wird die Sendung von einem aufstrebenden Journalisten mit dem sprechenden Namen Würmer. Kramer äußert sich zu „R.A.K.“ („Recht auf Krankheit“), das er als Netzwerk von Widerständlern gegen die Methode deutet. Erst im Verlauf des Gesprächs wird deutlich, dass Mia der Sendung auf dem Sofa folgt (und mit ihr die „ideale Geliebte“). Kramer zufolge beruht der Widerstand der R.A.K. auf einem fehlgehenden Freiheitsdenken. Man verweigere sich dem Gemeinwohl, das sei reaktionär, könne sich letztlich zum Terror auswachsen und gehöre bekämpft. Gelinge es nicht, die vermeintlichen Terroristen in ihre Schranken zu weisen, drohe ein Rückfall ins dunkle 20. Jahrhundert. Bei seinen Ausführungen bedient er sich zur Veranschaulichung Mias Geschichte, ohne seine Gegenspielerin zu nennen.
  22. Das Ende vom Fisch (S. 90-97): Eine erneute Rückblende zeigt uns Moritz und Mia auf dem Weg in die „Kathedrale“. Dort will Moritz intensiv sein Freiheitsgefühl ausleben und angelt. Mia hält ihm vor, er tue das mit der Rückversicherung, die ihm der Methodenstaat biete. Moritz hingegen betont seine persönliche Entscheidungsfreiheit. Er deutet an, demnächst Sibylle treffen zu wollen, seine künftige Geliebte, die ähnlich denke wie er selbst.
  23. Der Hammer (S. 98-104): Mitten in diese Szene aus der Vergangenheit verlagert sich das Geschehen in den Gerichtssaal. Sophie, deren Standpunkt wir anfangs einnehmen, soll über Mias Härtefallantrag entscheiden. Wieder fühlt sie sich von Rosentreter und der Angeklagten düpiert, war die zuvor ausgesprochene Strafe doch „äußerst milde“; zudem bedrängt sie der Staatsanwalt Bell. Angesichts von Mias Weigerung, dem Gericht entgegenzukommen, verhängt sie eine zweijährige Bewährungsstrafe und kündigt an, nun werde „routinemäßig“ der Methodenschutz informiert.
  24. Which side are you on (S. 105-111): Mit dem Titel der amerikanischen Gewerkschaftshymne „Which side are you on“ ist das dieses Kapitel überschrieben. Rosentreter und Mia besprechen sich nach der Verhandlung in Mias Wohnung. Noch immer will Mia ihren Pflichtverteidiger loswerden, unterstellt ihm, sie mit seinen taktischen Manövern zu „foltern“ und beharrt darauf, keinen weiteren Widerstand zu leisten. Rosentreter jedoch scheint überzeugt, Mias Mandat fortführen zu müssen. Seine Emotionalität beim Reden über den Methodenstaat macht Mia stutzig. Sie fragt nach dem Grund für seine Radikalität und erfährt, Rosentreter sei ein „Unglücklicher“.
  25. Unzulässig (S. 112-115): Es stellt sich heraus, dass Rosentreter sich in eine genetisch nicht kompatible Frau verliebt hat. Eine Verbindung wäre damit unzulässig. Deswegen versucht er, dem Methodenstaat entgegenzutreten. Das ist möglich, wenn es Rosentreter gelingt, im Fall von Mias Bruder das System eines Fehlers zu überführen. Widerstrebend lässt sich Mia auf Rosentreters Strategie ein, angefeuert durch die „ideale Geliebte“.
  26. Schnecken (S. 116-125): Noch während Rosentreter bei Mia verweilt, tritt wie zufällig Kramer herein. Rosentreter weicht vor Kramer zurück, der ihm offensichtlich gefährlich werden kann. Kramer, der die Unterhaltung dominiert, unterstellt dem Anwalt Interesse an Moritz Holl und versucht einen Keil zwischen Mia und Rosentreter zu treiben. Letztlich soll Mia erläutern, wie ihr Bruder wirklich war. Infolgedessen stellt sich heraus, dass er aus „Liebe zum Leben“ oder „Liebe zur Natur“ Schnecken gehalten habe. Mia verrät, dass Moritz eine lebensgefährliche Krankheit gehabt habe - Leukämie. Dies will Kramer in die künftige Berichterstattung einfließen lassen.
  27. Ambivalenz (S. 126-129): Eine Reflexion eröffnet den nächsten Abschnitt: Mias Verhältnis zu Kramer ist ambivalent. Zum einen fühlt sie sich angezogen vom Charisma des Journalisten, dessen Entschiedenheit und Rationalität sie an sich selbst wiedererkennt. Zum anderen ist Kramer möglicherweise nur „eine lächerliche Figur“, ein „Schnüffler“. Die „ideale Geliebte“, die Mias Gedanken mithört, wirft Mia vor, weder „Frau“ noch „Mensch“ zu sein. Indessen erblickt Mia in ihrem Bücherregal Werke, die ihr zumindest teilweise ihr Bruder vermacht hat: Rousseau, Dostojewski, Musil, Kramer, Agamben.
  28. Ohne zu weinen (S. 130-134): Eine Rückblende führt zurück zur Tatnacht. Moritz sucht seine Schwester auf, um ihr zu berichten, was er erlebt hat. Am verabredeten Treffpunkt findet er Sibylle. Obgleich sie tot ist, fühlt er sich ihr nah. Als Moritz erwähnt, er habe mit der Polizei gesprochen, will Mia wissen, weshalb. Moritz hat den Eindruck, auch Mia verdächtige ihn des Mordes. Er verlässt daraufhin, empört wie er ist, fluchtartig die Wohnung.
  29. Unser Haus (S. 135-137): Plötzlich klingelt es an der Tür. Die drei Nachbarinnen werfen Mia vor, sie habe das gemeinsame Haus in Verruf gebracht. Während Driss sie aufgrund eines Artikels aus Kramers Hand bewundert, drängen sie Lizzie und die Pollsche zum Auszug. Als Mia auf sie zugeht, bleibt die Zeitung „Der Gesunde Menschenverstand“ zurück.
  30. Bedrohung verlangt Wachsamkeit (S. 138-140): Das Kapitel wird ganz von Kramers Artikel „Bedrohung verlangt Wachsamkeit“ im „Gesunden Menschenverstand“ eingenommen, der auf den 14. Juli datiert (dem Tag des Sturms auf die Bastille). Nach allgemeinen Bemerkungen über methodenfeindliche Umtriebe orakelt Kramer über einen bevorstehenden Angriff. Moritz stellt er auf der Grundlage von Mias Aussagen als Terroristen dar und zitiert den Satz: „Ihr opfert mich auf dem Altar eurer Verblendung“.
  31. Die Zaunreiterin (S. 141-146): Die „ideale Geliebte“ fordert energisch von Mia, sich gegen Kramer zur Wehr zu setzen. Dann konfrontiert sie Mia mit ihrer Unentschiedenheit und vergleicht sie mit einer Hexe, die sie etymologisch als „Zaunreiterin“ erklärt. Sie wirft ihr also vor, sie könne sich nicht entscheiden und lasse damit Moritz im Stich. Mia soll begreifen, dass sie Wahl hat – sie kann „Opfer“ sein oder „Täter“.
  32. Fell und Hörner, zweiter Teil (S. 147-150): Nun kehrt der Erzählgang wieder zurück in die „Kathedrale“: Moritz und Mia sitzen beieinander, und Moritz versucht Mia begreiflich zu machen, worin für ihn der Wert der persönlichen Freiheit bestehe. Daraufhin teilt sich das Gebüsch und Moritz wird verhaftet – wegen Mordes an seiner Geliebten Sibylle Meiler.
  33. Das Recht zu schweigen (S. 151-152): Nun springt die Erzählung wieder in die Gegenwart: Mia hat erneut die „Kathedrale“ aufgesucht und denkt rauchend an Moritz zurück. In einer Parallelszene zur Verhaftung ihres Bruders wird sie nun ebenfalls festgenommen. Sie sei der „methodenfeindlichen Umtriebe“ verdächtig; außerdem habe sie das Recht zu schweigen.
  34. Der Härtefall (S. 153-168): Es kommt zum Prozess. Nun ist in Gestalt des Richters Weber auch der Methodenschutz anwesend. Nachdem Staatsanwalt Bell die Anklage verlesen hat, kann sich Mia ausführlich zu den Vorwürfen äußern. Sie erklärt, aus ihrer Sicht seien Revolutionen vollkommen sinnlos. Ihr Weltbild gleicht jenem Gedanken aus dem „Leviathan“, mit der Thomas Hobbes die menschliche Gesellschaft einem Wolfsrudel gleichsetzt (homo hominis lupus). Sie führt aus, dass ihre Rationalität von ihr einen Staat verlange, der „das persönliche und das allgemeine Wohl zur Deckung“ bringe. Dieser Staat müsse unfehlbar sein. Nun ergreift Rosentreter das Wort. Obgleich Bell und schließlich auch Kramer intervenieren, erbringt er den Beweis, dass Moritz nicht notwendigerweise Sibylles Mörder gewesen sein müsse. Im Falle einer Stammzellentransplantation kommt auch ein gewisser Walter Hannemann in Frage. Die Verhandlung endet im Tumult.
  35. Das ist die Mia (S. 169-170): Das folgende Interview mit Mia wird im Fernsehen übertragen, wodurch auch die drei Nachbarinnen davon erfahren. Während Lizzie und die Pollsche an ihrer Ablehnung Mias festhalten, bittet Driss erneut um Verzeihung. Rosentreter und Mia eilen an ihnen vorbei in Mias Wohnung.
  36. Der größtmögliche Triumph (S. 171-176): Rosentreter feiert den Triumph mit Champagner. Mia blickt nach draußen, wo ein Sturm aufzieht und ihre Radikalisierung atmosphärisch begleitet. Sie beschließt, gegen den Protest der „idealen Geliebten“, dem Kampf gegen die Methode als „Galionsfigur“ zu dienen. Daraufhin jagt sie Rosentreter und die „ideale Geliebte“ davon, um Kramer anzurufen.
  37. Die zweite Kategorie (S. 177-185): Die hier einsetzende Erzählszene wird ganz von Mia dominiert: Sie ist es, die Kramer heißes Wasser zubereitet und die Fäden des Gesprächs in der Hand hält. Nach einem Vorgespräch zu Fragen des Lebenssinns und zum Aufruhr, den der Prozessverlauf genommen hat, entlarvt Mia Kramer als Fanatiker, als „Partisan der Methode“. Sie betont, sie könne nun mit dem Herzen denken und weist Kramers Festhalten an der Methode als bester Regierungsform zurück. Sie drängt Kramer, sich zum Diktat bereitzumachen.
  38. Wie die Frage lautet (S. 186-187): Mias Manifest stellt in 21 Maximen fest, welchen gesellschaftlichen Institutionen Mia das Vertrauen entzieht. Auch sich selbst hält sie nicht mehr für vertrauenswürdig.
  39. Vertrauensfrage (S. 188-191): Mit Mias Manifest in der Hand, das ihm nun gute Dienste leisten soll, verlässt Kramer die Wohnung. Sein Ziel ist es, die Methode einer Vertrauensfrage zu unterwerfen, während Mia sich der Freiheit ergeben kann. Auch die „ideale Geliebte“ sieht ihren Auftrag erfüllt und verabschiedet sich von Mia, die nun die Aussicht auf ein Martyrium hat.
  40. Sofakissen (S. 192-194): Plötzlich bricht der Methodenschutz die Tür zu Mias Wohnung auf. Mia soll festgenommen werden, wehrt sich jedoch erbittert, als kämpfe sie um ihr Sofakissen, an dem sie sich festkrallt. Sie wird überwältigt, mit einer Spritze ruhiggestellt und aus dem Haus getragen. Driss, die ihr zur Hilfe kommt, wird beiseitegeschoben.
  41. Freiheitsstatue (S. 195-198): Rosentreter besucht Mia in der Haft und berichtet ihr von Solidaritätskundgebungen. Die Methode scheint unter Druck geraten, und Mia deutet sich als „Freiheitsstatue, geformt aus Fleisch und Knochen“.
  42. Der gesunde Menschenverstand (S. 199-201): Heinrich Kramer spricht anstelle von Würmer in „Was alle denken“. Seine zwanzigminütige Ansage ist ein Plädoyer für die Methode und eine Kampfansage an Mia.
  43. Geruchlos und klar (S. 202-213): Bald erscheint Kramer bei Mia in der Haft. Ihr wird klar, dass sie schon lange überwacht wird und dass man das belastende Material gegen sie einsetzen wird. Der Journalist überreicht ihr ein fingiertes Geständnis, das Mia und Moritz zum Kopf der Verschwörergruppe „Die Schnecken“ macht. Der Justizirrtum der Methode wird darin als raffiniert eingefädeltes Komplott dargestellt, der wahre Mörder Hannemann erscheint als Werkzeug der Methodenfeinde. Ihr Mittelsmann sei Würmer, der mittlerweile von seiner medialen Machtposition entfernt wurde. Mia weigert sich, das Geständnis zu unterzeichnen.
  44. Würmer (S. 214-219): Richter Hutschneider, der die gescheiterte Sophie ersetzt, fährt zu einer Gegenüberstellung ins Gefängnis, die Mias Position schwächen soll. Der Kronzeuge, der offenkundig unter Druck steht, ist „Niemand“ (im Original kursiv) und stellt sich als der Journalist Würmer heraus. Er wird befragt und belastet Mia als vermeintliche Komplizin und Teilnehmerin an einem konspirativen Treffen. Hutschneiders Protokoll ignoriert Mias Einwände und kommt zum erwünschten Ergebnis: die Anti-Methodistin ist schuldig. Auch ihr Appell an Würmer, die Wahrheit zu bekennen fruchtet nichts. Dabei bezeichnet sich Mia als „Corpus Delicti“.
  45. Keine Liebe der Welt (S. 220-228): Rosentreter sucht Mia als seine Mandantin im Gefängnis auf. Mittlerweile hat sich der Prozess durch zahlreiche fingierte Beweise gegen Mia gedreht. Auch Kramer hat dabei mitgewirkt: Mia sei die Spitze einer Verschwörung, die mit Botulinusgift einen Massenmord verüben wolle. Als falsche Zeugen wurden ihre Nachbarinnen und ein Mitarbeiter gewonnen. Obgleich der Härtefallantrag abgewiesen ist und der Fall nicht mehr zu gewinnen, kann Rosentreter, der sich von seiner Geliebten getrennt hat, sein Mandat über die „Terroristin“ nicht niederlegen. Im Gehen überreicht er Mia diskret eine lange Nadel.
  46. Mittelalter (S. 229-236): Kramer erscheint erneut; Mias wütender Angriff fällt in sich zusammen. Wieder drängt er Mia zur Kooperation. Um den Methodenstaat zu stabilisieren, soll sie zum einen selbst ein Schuldgeständnis ablegen und sich zum anderen von Moritz lossagen. Für den Fall des Mitwirkens signalisiert Kramer Entgegenkommen, für den Fall einer Verweigerung droht er Folter an – wie im Mittelalter, wie Mia sarkastisch bemerkt. Mia entscheidet sich für die Folter und bittet um Kramers Anwesenheit.
  47. ‚Es‘ regnet (S. 237-241): Während Mia mit Elektroschocks gefoltert wird, gehen ihr Fetzen von Gesprächen mit Moritz durch den Kopf.
  48. Dünne Luft (S. 242-249): Als Mia nach der Folterung erwacht, ist Kramer dabei, ihr die Stirn mit Essig zu reinigen. Sie bittet ihn, ihr die zuvor versteckte Nadel zu reichen. Sie hält ihm die Nadel vors Auge, verzichtet aber darauf, zuzustoßen. Im Gespräch versuchen nun beide, ihre moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Dabei bezeichnet Mia ihren Gegenspieler, der sie unablässig verhöhnt, als einen „Fanatiker, der sich seines Fanatismus schämt“: Er sei abhängig von der Methode. Kramer muss mitansehen, wie sie in ihrem Oberarm nach dem Implantat sucht, das zu ihrer totalen Überwachung beiträgt, wie bei allen Bewohner des Methodenstaats. Kramer nimmt den Chip entgegen.
  49. Siehe oben (S. 250-259): Mia wird unbestimmte Zeit später in einem Käfig zur Verhandlung gebracht. Der Saal ist gut gefüllt, als eine umfangreiche Anklage verlesen wird, die Mia zur Methodenfeindin erklärt. Noch während zuerst Kramer und dann die drei Nachbarinnen in den Zeugenstand treten, um Mia zu belasten, droht Richter Hutschneider die Verhandlung zu entgleiten. Immer wieder werden Stimmen laut, die den Prozess als Farce kritisieren. Die Kritiker werden niedergebrüllt, niedergeschlagen und aus dem Saal geschleift. Schließlich hält Mia eine letzte Ansprache, in der sie die Gesellschaft auffordert, entweder zu schweigen oder zu töten. Hutschneider verurteilt sie daraufhin „zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit“.
  50. Zu Ende (S. 260-264): Mia ist nun zum Einfrieren bereit. Kramer und Hutschneider sind anwesend, als sich die Apparatur schließt. Der Einfriervorgang ist gerade in Gang gesetzt, als Bell atemlos Mias Begnadigung verkündigt, „auf Antrag der Verteidigung und nach Wunsch von höchster Stelle“. Die fassungslose Mia erfährt von Kramer, dass die Methode sie nicht zur Märtyrerin werden lasse. Stattdessen soll sie nun dem Methodenstaat wieder einverleibt werden. Mia erkennt, dass nun „wirklich alles zu Ende“ ist.

Kommentar zu „Corpus Delicti“

Corpus Delicti (Titel, S. 218): In der frühneuzeitlichen Rechtordnung des 16. Jh.s bezeichnet der juristische Fachbegriff „corpus delicti“– der „Körper zur Tat“ – die äußeren Merkmale der Tat, die zur Ergreifung des Täters führen, insbesondere die Tatwaffe. Im Hinblick auf den Roman ist der Titel zweiteilig: Zum einen verweist er auf den „Körper“ (lat. corpus), zum anderen auf ein „Verbrechen“ (lat. delictum). Damit eröffnet der Titel zwei wesentliche Themen des Romans: das Thema des Körpers, der den Täter überführt: durch die Vernachlässigung von Gesundheitspflichten). Zum anderen verweist er auf die rechtliche Dimension des Werks: Ein Vergehen ist strafbar, setzt eine geltende Rechtsordnung voraus.

Ein Prozess (Untertitel): Der Titel ist mehrdeutig. Zum einen ist jeder Roman ein Prozess, der zur Änderung des Protagonisten oder zum Handlungsumschwung führt. Zum anderen ist der Gegenstand des Romans ein gerichtlicher Prozess, der über die Beschuldigung zur Anklage, zur Verurteilung und Strafe führt, die durch eine Begnadigung aufgehoben wird. Drittens schildert der Roman auf der Ebene unserer Wirklichkeit einen schleichenden Prozess, der über Gesundheitsprävention zur Gesundheitsdiktatur führt. Viertens, auf intertextueller Ebene, sind Bezüge zu Kafkas „Der Proceß“ naheliegend. Juli Zeh (Zeh 2020, S. 89 f.) nennt für die Wahl des Titels drei Gründe: Zum einen ist sie studierte Juristin, was ihr die Wahl des Stoffs nahelegt; zum anderen verweist sie auf Parallelen zwischen einem juristischen Prozess und Werken der Literatur; drittens sei durch das Motiv der Hexenjagd das Prozessuale vorgegeben.

Vorwort: Das Vorwort des Romans gibt vor, ein Auszug aus Heinrich Kramers (fiktivem) Grundlagenwerk „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“. Es liefert eine beschreibende Definition des Begriffs „Gesundheit“ durch die Nennung einzelner Merkmale. Die Definition ist zugleich persuasiv, soll den Leser von ihrer Richtigkeit überzeugen.

Gesundheit: Gesundheit ist in „Corpus Delicti“ weit mehr als ein bloßes Gefühl des Wohlseins oder als ein Freisein von Krankheit. Ihre Bedeutung geht weit darüber hinaus, einen Organismus als funktionstüchtig zu beschreiben. Leibliche und seelische Gesundheit ist im Methodenstaat zugleich das überprüfbare Zeichen, das sich jemand der Staatsräson (der „Methode“) unterordnet. Gesundheit ist jedoch nicht nur von sozialer Bedeutung, sie entscheidet nicht nur über Akzeptanz und Integration, ihre Erhaltung ist zugleich eine staatlich verordnete Pflicht. Das Individuum soll funktionieren, damit das Gemeinwesen funktioniert. Zur Sanktionierung dieser Pflicht wird Gesundheit zum Wert erhoben, zur höchsten Norm. Dabei stellt die Methode an den Auswirkungen des Krankseins für andere in den Vordergrund: Wer krank ist, schadet dem Gemeinwesen, indem er dessen Funktionsweise beeinträchtigt. Es liegt nahe, Gesundheit als physiologische Grundlage für Glück zu begreifen: Ziel des Methodenstaats ist es, die Bürger von allen Sorgen zu befreien, die vom Körper ausgehen. Letztlich wird dabei die Dichotomie von Leib und Seele geleugnet: Der Mensch ist nicht mehr als ein kontrollierbarer Organismus. Juli Zeh spricht sich auch an anderer Stelle (Zeh 2020, S. 92) gegen die „Körperfixiertheit“ aus und sieht Gesundheits-, Schönheits- und Fitnesswahn als Weg in eine inhumane und unsolidarische Gesellschaft.

Kramer, Heinrich: Heinrich Kramer heißt nicht zufällig so. Sein Namensvorbild ist der aus Schlettstadt im Elsass stammende Inquisitor und Verfasser des „Hexenhammers“. Der Dominikaner darf wie sein Namensvetter aus „Corpus Delicti“ als skrupelloser Fanatiker gelten. Sein Kommentar konnte nur deswegen den Rang eines kirchlichen „Hexengesetzbuches“ für Strafrichter erhalten, weil er sowohl eine von ihm selbst verfasste päpstliche Bulle angliederte als auch gefälschte Approbationen Kölner Professoren. Ähnlich verfährt Kramer in „Corpus Delicti“, wenn er gefälschte Beweise konstruiert. Die damals hohe Auflage des „Hexenhammers“ von etwa 30.000 Exemplaren entspricht der Verbreitung des Rechtswerks des fiktiven Kramer. Ganz wie Juli Zehs Heinrich Kramer setzt der historische Henricus Institoris (so der latinisierte Namen Kramers) auf Verschwörungstheorien, auf eine scheinbar lückenlose Beweiskette, auf die Autorität einer unfehlbaren Instanz (des Papsts) und auf sein persönliches Charisma. Sowohl der Dominikaner als auch der fiktive Journalist sind zu haltlosen Verdächtigungen bereit, säen Zwietracht und bedienen sich der Folter. 

Würmer: Der ambitionierte Journalist, der für einen kurzen Augenblick die Methode herausfordert, unterliegt ihr zuletzt. Man mag an den intriganten Sekretär Wurm aus Schillers „Kabale und Liebe“ denken, der mit seinen Ränkespielen zum tragischen Ende beiträgt. Denkbar ist auch, dass Würmer mit seinem sprechenden Namen den gleichfalls wirbellosen „Schnecken“, der fiktiven Widerstandsgruppe zugeordnet wird.

Freiheitsstatue (S. 198): Mia sieht sich vor Gericht als „Freiheitsstatue, geformt aus Fleisch und Knochen“. Sie versteht sich als Identifikationsfigur, wie sie die Allegorie der Freiheit auf Liberty Island für viele Amerikaner darstellt. Im Gegensatz zur Freiheitsstatue, die auf Flüchtige, Glückssucher und Vertriebene wirkt, die New York mit dem Schiff erreichen, wird sie zum Symbol der Revolution. Die gestische Selbstdarstellung als Freiheitstatue schafft unmittelbar den Bezug zu ihrer Freiheitssymbolik – zur Fackel der Aufklärung, zur zerbrochenen Kette und zur Tabula ansata mit dem Datum der Unabhängigkeitserklärung.

Gesunde Menschenverstand, Der (S. 42): Heinrich Kramers Journal „Der gesunde Menschenverstand“ bezieht sich zum einen auf die Vorstellung volkstümlicher Rationalität, die auch im Rechtswesen eine wichtige Rolle spielt. Die Formel ist das Ergebnis einer langen Begriffsgeschichte, die mit Aristoteles einsetzt und bei Kant ihren Höhepunkt erreicht. Er sieht den gesunden Menschenverstand als Korrektiv des Expertenwissens. Allerdings unterliegt der gesunde Menschenverstand auch Trugschlüssen, wenn das Augenscheinliche über das Wahre erhoben wird. Das der Titel zudem ein Wortspiel ist, liegt auf der Hand: Natürlich sollte in der Gesundheitsdiktatur das Urteilsvermögen auch „gesund“ sein – eine Forderung, die bereits Kant erhebt.

Menschenkenntnis (S. 51). Sophie, die Richterin, interpretiert bei Mias Anhörung deren Gesichtszüge. Der Erzähler fügt ironisch hinzu: „Sophie hält große Stücke auf ihre Menschenkenntnis“ (ebd.). Zeh greift hier auf die volkstümliche Form von Lavaters Physiognomik zurück, die äußerlichen Merkmalen (der großen Nase) charakterliche Eigenschaften zuschreibt (Sturheit). Noch zu Lebzeiten Lavaters wurde die Theorie vielfach zurückgewiesen und zum Gegenstand der Satire, etwa bei Georg Christoph Lichtenberg im „Fragment von den Purschenschwänzen“. Dass Sophie Mias Sturheit physiognomisch erkennt, aber wenig später nicht richtig einschätzt, ist ein Mittel dramatischer Ironie.

Deep throat (S. 61). Claudia, eine von Moritzens Freundinnen, beherrscht die Technik des Deep throat – hier führt einer der Geschlechtspartner den Penis bis zum Rachen in die Mundhöhle ein. Diese Sexualpraxis verstärkt in Mias Augen (und in der Perspektive des Lesers) den Eindruck, der Grenzen überschreitende, experimentierfreudige Moritz sei auch bereit, die Grenzen des Systems auszureizen. Man denke daran, dass Bürger des Methodenstaats ein Rachenspray verwenden, um die Infektionsgefahr zu minimieren (S. 66).

Paragraph 124. Einen Paragraphen 124 gibt es im Sozialgesetzbuch, wo es um Fragen der Abrechnung ärztlicher Leistungen geht. Der §124 des BGB regelt die Anfechtungsfrist für eine Willenserklärung. Der §124 StGB befasst sich mit dem schweren Hausfriedensbruch („Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und in der Absicht, Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen mit vereinten Kräften zu begehen“). Keiner dieser Paragraphen steht im Zusammenhang mit dem „Missbrauch toxischer Substanzen“. Hier wäre am ehesten noch an §29 aus dem „Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln“ zu denken, das sich auf illegale Drogen bezieht.

Chip. Die bereits heute verbreitete Technik, mit der persönliche Daten auf Chip-Implantaten gespeichert werden, ist im Methodenstaat offenbar zwingend vorgeschrieben. Mia trägt den Chip im Oberarm, im Gerichtssaal werden ihre Daten ausgelesen (S. 66). Ein Staat, der unter die Haut geht: Wie Gefängnisinsassen oder KZ-Häftlinge können die Bürgerinnen und Bürger des Methodenstaats markiert, erfasst und verwaltet werden. Gegen diesen staatlichen Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit wehrt sich Mia, als sie sich zuletzt mit ihrer Nadel den Chip (und damit die staatliche Verfügungsgewalt über ihre Identität) aus dem Oberarm gräbt (S. 248).

Gesundheitsordnung (S. 67). Während eine Verordnung sich in der Bundesrepublik Deutschland auf ein parlamentarisch verabschiedetes Gesetz stützt, das als Ermächtigungsgrundlage dient, ist die „Gesundheitsordnung“ offenbar eine einseitige Verordnung der Regierung (des Methodenrats), die im Roman diffus bleibt, dem Staat aber fast unbegrenzte Mittel zur Kontrolle und Unterdrückung der Bürger an die Hand gibt.

Mia Holl: Juli Zeh hat in ihrem Kommentarband (S. 32 f.) ein Namensvorbild für ihre Protagonistin benannt. Die erfolgreiche Wirtin Maria Holl wurde 1563 in Nördlingen als Hexe in Haft genommen und überstand 62 Folterungen, ohne sich schuldig zu bekennen. Ihr Fall führte dazu, dass die Hexenverfolgungen in Nördlingen beendet wurden. Ähnlich widerständig ist Mia Holl. Sie übersteht Elektrofolter und ist wie ihr historisches Vorbild unschuldig. Der Name Mia war 2009, als der Roman entstand, zudem der am häufigsten vergebene Mädchenname – was angesichts von Mias Geburtsjahr zur Plausibilität beiträgt.

Gesundheitsstrafprozessordnung (S. 68, 103). Die fiktive GStPO, die sich im Methodenstaat aus der StPO entwickelt hat, dient weniger der Regulierung des Gerichtsverfahrens als der Unterdrückung der Angeklagten. So gibt es einen §12, der eine Ermahnung wegen einer „Beleidigung des Gerichts“ zulässt und später den Wortlaut einer „Missachtung des Gerichts“ hat (S. 103). Entsprechendes gibt es in der StPO nicht.

Sekundärliteratur

Sekundärliteratur zu Juli Zeh

  • Schönfellner, Sabine: Die Perfektionierbarkeit des Menschen? Posthumanistische Entwürfe in Romanen von Juli Zeh, Kaspar Colling Nielsen und Margaret Atwood. Berlin: Weidler Buchverlag Berlin, 2018 (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft; 197)
  • Franzobel, Arno Geiger, Katja Lange-Müller, Antje Rávic Strubel, Juli Zeh: Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist marginal: Werkstattgespräch mit Juli Zeh. Oldenburg: Fruehwerk-Verl., 2008
  • Mogendorf, Christine: Von „Materie, die sich selbst anglotzt“: postmoderne Reflexionen in den Romanen Juli Zehs. - Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2017 (Chironeia; Band 9)

Sekundärliteratur zu „Corpus Delicti“

  • Ehm, Matthias: Juli Zeh, Corpus Delicti: Interpretation. Hallbergmoos: Stark, 2018
  • Leis, Mario; Rieker, Sabine: Juli Zeh, Corpus Delicti. Stuttgart: Reclam, 2016 (Reclams Universal-Bibliothek; Nr. 15447. Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler)
  • Flad, Helmut: Juli Zeh, Corpus Delicti: Unterrichtsmodelle mit Kopiervorlagen. Berlin: Cornelsen, 2011
  • Möbius, Thomas: Textanalyse und Interpretation zu: Juli Zeh, Corpus Delicti, ein Prozess. Hollfeld Bange Verlag, 2016 (Königs Erläuterungen; Band 317)
  • Müller-Dietz, Heinz: Strafrecht im Zukunftsstaat? Zur negativen Utopie in Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“. In: Festschrift für Klaus Geppert zum 70. Geburtstag am 10. März 2011. - Berlin [u.a.]: de Gruyter. - 2011, S. 423-439
  • Hayer, Björn: Die Überwachungsgesellschaft: Juli Zeh: „Corpus Delicti“. Aachen: Bergmoser und Höller, 2015 (Deutsch betrifft uns; 2015, 6)

Musteraufsatz: Juli Zeh: Corpus Delicti

Beispielaufgabe

Corpus Delicti möchte die Leser auffordern, sich zu fragen, was ihnen wirklich wichtig ist, was sie zu Menschen macht, was ihre Identität bestimmt und wie das „gute Leben“ für sie aussehen könnte. Weiterhin möchte der Roman zeigen, dass Risikofreiheit niemals ein politisches Versprechen sein kann und dass man „Sicherheit“ nicht als vorrangiges politisches Ziel installieren darf, auch wenn das dem aktuellen Bedürfnis der Bürger zu entsprechen scheint.“

Aus: Juli Zeh: Fragen zu Corpus Delicti München: btb, 2020, S. 103f.

  • Arbeiten Sie aus dem vorliegenden Textauszug heraus, worin Juli Zehs das Ziel ihres Romans sieht!
  • Erörtern Sie, inwiefern sich diese Absicht im Werk selbst nachweisen lässt!

Überschrift

Sicherheit und Selbstbild als Ziele von „Corpus Delicti“: Literarische Erörterung

Einleitung

Ist Sicherheit die erste Pflicht jedes Staats? Oder muss der Staat vor allem Garant der Freiheit seiner Bürger sein? In Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ wird dieser Konflikt am Beispiel eines dystopischen Methodenstaats veranschaulicht. Dieser totalitäre Staat erhebt die Gesundheit zum obersten Staatsziel und bestimmt fast lückenlos das Leben seiner Bürger. „Corpus Delicti“ stellt sich dabei auf die Seite der Freiheit, verkörpert durch die Naturwissenschaftlerin Mia Holl. Sie dient Juli Zeh als Perspektivfigur, durch die wir die rationale Gnadenlosigkeit einer Gesundheitsdiktatur miterleben. Zehs Roman entstand aus dem gleichnamigen Theaterstück von 2007 und wurde 2009 bei Luchterhand in München veröffentlicht.

Einführung ins Werk

Der Roman ist in fünfzig kurze Kapitel eingeteilt und folgt der Dramaturgie eines Gerichtsverfahrens. Gleich zu Beginn wird Mia Holl, die Protagonistin, wegen einer Bagatelle vorgeladen. Schon dieses Verfahren offenbart ihre innere Distanz zum Methodenstaat: Der Selbstmord ihres Bruders Moritz lässt sie ihre Gesundheitspflichten versäumen. Der Rechtswissenschaftler und Journalist Heinrich Kramer ist als Vertreter der „Methode“ ihr Gegenspieler. Er versucht, Mia zu einem Werkzeug zu machen, das er im Meinungskampf gegen aufrührerische Bürger einsetzen kann. Als angebliche Methodenfeindin findet sie sich deshalb erneut vor Gericht. Mit der Unterstützung ihres Anwalts Lutz Rosentreter kann Mia in der Hauptverhandlung jedoch zeigen, dass der Methodenstaat keineswegs unfehlbar ist. Ihr Bruder wurde wegen einer falsche DNS-Probe irrtümlich einer Vergewaltigung bezichtigt. Sein Selbstmord ist also die Folge eines Systemfehlers. Bevor das Bekanntwerden dieses Irrtums den Staat destabilisieren kann, schlägt die „Methode“ zu: Mia Holl wird verleumdet, gefoltert und zuletzt kaltgestellt.

Analyse des Außentexts

In Juli Zehs Kommentar zu ihrem Roman, „Fragen zu Corpus Delicti“, 2020 in München erschienen, legt Juli Zeh dar, welche Absichten sie mit „Corpus Delicti“ verfolgt. Zwei Hauptziele sind ihr dabei wichtig. Zum einen will sie Leser dazu auffordern, sich Gedanken über ihr Selbstbild zu machen. Zum Selbstbild gehören für Zeh die Prioritäten der Leser, also das, was „ihnen wirklich wichtig ist“ (Z. 1). Außerdem sollen die Leser ihr Menschenbild in Frage stellen (vgl. Z. 1 f.), zugleich aber Einflüsse auf ihre „Identität“ als Person ermitteln (Z. 2) und ihr Bild eines gelungenen Lebens problematisieren (vgl. Z. 2). Zehs zweites Hauptanliegen ist ein kritischer Blick auf die Gesellschaft und den Staat. Der Roman soll zeigen, dass Sicherheit kein „vorrangiges politisches Ziel“ sein kann (Z. 4). Der Verlauf der Handlung legt nahe, dass „Risikofreiheit“ (Z. 3) in die Unmündigkeit führt. Eine gesellschaftspolitische These schließt sich an: Sie unterstellt, die „Bürger“ (Z. 5) gäben im Zweifelsfall der Sicherheit den Vorzug, zumindest zum Zeitpunkt des Erscheinens. Gegenüber aktuellen Entwicklungen ist Juli Zeh also skeptisch. Inwiefern lässt sich Zehs Einschätzung der Ziele ihres Romans im Werk selbst nachweisen?

Hauptteil: Erörterung und Anwendung der Analyseergebnisse

Juli Zehs erstes Ziel ist es, Lesern einen kritischen Blick auf ihre Prioritäten nahezulegen. Im Roman gibt es vor allem eine Figur, die sich als Perspektivfiguren eignet und die ihre Prioritätensetzung überdenkt: Mia Holl. Wer sich mit Mia Holl identifizieren kann, wird ihren Loyalitätskonflikt nachvollziehen: Soll sie bei ihrer Methodentreue bleiben oder ihrem toten Bruder nachfolgen? Vernünftig wäre, sich dem Staat zu unterwerfen; Mia setzt ihre Prioritäten jedoch anders und denkt – wie Moritz – mit dem Herzen (S. 183). Sie entscheidet sich für Freiheit, wo Unterordnung bequemer wäre. Damit hat Zeh recht: Wer „Corpus Delicti“ liest, muss sich der Frage stellen, welche Prioritäten man hat.

Auch hinsichtlich des zweiten Aspekts lässt sich Juli Zehs Einschätzung nachvollziehen: Die Frage, was uns zu Menschen macht, begleitet den Leser durch den ganzen Roman. Eine Antwort darauf ist die menschliche Freiheit, sich so oder anders zu entscheiden. Als ihr Fürsprecher tritt Moritz auf. Er ist bereit, Risiken in Kauf zu nehmen, wenn er seine Sinnlichkeit auslebt. Moritz betritt verbotenes Gelände, raucht, verstößt gegen Hygieneregeln und gegen das Gebot, mit immunkompatiblen Partnern zu verkehren. Gerade dadurch wirkt er menschlich. Insofern kann man Zeh beipflichten: Schon am Beispiel von Mias Bruder Moritz wird deutlich, wie gelungenes Menschsein aussehen kann.

Dass sich die Leser auch Einflüssen stellen müssen, die ihre Identität beeinflussen, zeigt das Beispiel der Nebenfigur Driss, als Mia in ihre Wohnung zurückkehrt. Mias Nachbarin Driss bewundert offenbar Mias unnachgiebige Haltung, ist aber nicht in der Lage, sich gegenüber den anderen Bewohnerinnen des Wächterhauses durchzusetzen. Anstelle ihrem Mitgefühl gemäß zu handeln, wird sie von ihren Mitbewohnerinnen zurückgedrängt und übertönt (vgl. S. 137). Unabhängig davon, ob charakterliche Faktoren oder sozialer Druck entscheidend sind: Die Figur der Driss wirft die Leser in diesem Augenblick auf die Frage zurück, was uns als Personen ausmacht und unser Dasein bestimmt. Wie hätten wir gehandelt? Auch deswegen ist „Corpus Delicti“ ein Roman, der Identitätsfragen aufwirft.

Richtig ist auch Zehs Aussage, der Roman ziele auf eine Neudefinition eines „guten“ Lebens. Wie sieht ein gelungenes Leben aus? Das beschützte, ereignisarme Leben im Methodenstaat kann es kaum sein. Eher kommt das Leben in Frage, das Moritz lebt: Ein selbstbestimmtes Leben, das Risiken zulässt und Sinnesgenuss (vgl. S. 92). Moritz ist radikal und liebt seine Mitmenschen, schenkt Vertrauen und erhält Zuneigung. Er wirkt dabei glücklich, ganz im Gegensatz zu allen anderen Bewohnern des Methodenstaats, einschließlich Mia. Damit ist klar: Ein „Dahinvegetieren im Zeichen einer falsch verstandenen Normalität“ (S. 93) ist kein gelungenes Leben. Wenn Moritz ein Sprachrohr des Romans an sich ist, trifft Juli Zehs Argument also zu: „Corpus Delicti“ stellt den Leser vor die Frage nach der richtigen Lebensführung.

Juli Zeh bleibt nicht beim privaten Lebensglück, wenn sie Sicherheit als Staatsziel für problematisch hält. Sie steht dabei unter dem Einfluss des amerikanischen Kriegs gegen den Terror und seine Folgen. Aber geht aus dem Roman tatsächlich hervor, dass Sicherheit kein legitimes Staatsziel ist? Alle Organe des Methodenstaats zielen auf den Gesundheitsschutz: Das körperliche und seelische Wohlbefinden wird dabei objektiv vorgegeben. Der Einzelne hat nicht mehr die Möglichkeit, zu einer eigenen Definition seines Wohlbefindens zu kommen. Dies wird deutlich an Mia und Moritz, aber auch an Mias Anwalt Rosentreter. Sein Unglück ergibt sich aus einer Sicherheitsmaßnahme: Er darf nicht lieben, weil er immunologisch nicht mit seiner Geliebten kompatibel ist (S. 112). Diese und andere Sicherheitsvorkehrungen richten sich also nicht nur gegen gesundheitliche Gefahren. Sie richten sich letztlich gegen alle Bedrohungen des allgemeinen Wohlbefindens – und dazu gehört im Methodenstaat unter Umständen die Liebe. Die Leser erleben mit Entsetzen einen dystopischen Zwangsstaat, der für die Sicherheit jede Freiheit opfert. Damit hat Juli Zeh also Recht: Aus ihrem Roman geht hervor, dass Sicherheit nicht die erste und einzige Priorität staatlichen Handelns sein darf.

Schluss

Insgesamt ist Juli Zehs Einschätzung, welche Ziele ihr Roman verfolgt, unbedingt nachvollziehbar. „Corpus Delicti“ ist ein Plädoyer für die Menschlichkeit und eine Absage an den Sicherheitsstaat. Aus der Handlung geht unmissverständlich hervor, dass eine Gesundheitsdiktatur unsere Menschlichkeit gefährdet. Methodisch wird diese Erkenntnis durch das Erzählverhalten gefördert. Nur gelegentlich schaltet sich der auktoriale Erzähler kommentierend ins Geschehen ein, oft blicken wir durch die Augen Mia Holls und anderer Perspektivfiguren in die dystopische Welt des Methodenstaats. Wir erhalten dadurch einen tiefen Einblick ins Empfinden der Hauptfigur, die an der Willkür einer fragwürdig gewordenen Herrschaft zerbricht. Juli Zehs pessimistische Sicht auf „die Bürger“ ist deshalb unbegründet: In Krisenzeiten mögen Grundrechte zeitweise eingeschränkt sein, es scheint jedoch wenig plausibel, man könne eine lebendige Demokratie in einen totalitäre Sicherheitsstaat umwandeln. Auch „aktuell“ wird die Einsicht, mit der „Methode“ sei kein Staat zu machen, von der großen Mehrheit aller Menschen geteilt. Dennoch ist „Corpus Delicti“ ein wichtiges Manifest für die Freiheit. Nicht nur in Zeiten der Pandemie müssen wir immer wieder prüfen, wie weit wir für die Sicherheit aller gehen dürfen, wenn wir individuelle Freiheiten beschneiden. Wir spüren in „Corpus Delicti“ das Leid der Hauptfiguren, vollziehen das Experiment eines totalitären Staats mit und erleben eine dystopische Zukunft. Weshalb? Damit wir selbst nicht in die Gefahr kommen, uns im Namen der Vernunft unseres Menschseins zu entäußern.