Buchbesprechungen
Verstand ons recht!
Kellner, Rolf: Verstand ons recht! Eine Anleitung zur Verständigung zwischen Schwaben und Norddeutschen [Mit Zeichnungen von Uli Gleis]. Tübingen: Silberburg-Verlag: 2003
Fast denkt man bei der Lektüre des ersten Satzes, es habe sich doch da ein Fehler eingeschlichen: „Alle, die…“ – heißt das nicht „Alle, die wo…“? Rolf Kellners „Anleitung zur Verständigung zwischen Schwaben und Norddeutschen“, soviel sei schon verraten, ist nicht das Werk eines Experten für Völkerverständigung. Wer seinem Flensburger Nachbarn in Degerloch eine Freude machen möchte, dürfte mit dem knapp hundert Seiten starken Werk des gebürtigen Ostpreußen Kellner dennoch richtig liegen. Der schmale Band konzentriert sich auf das Missverständliche, darauf, was der Schwabe anders sagt, als es der Reigschmeckte oder gänzlich Fremde versteht. Verschiedentlich aber wirkt das herbeigelachte Missverstehen schon reichlich bemüht. Welcher Hanseat steht denn heute noch rätselnd vor dem Begriff „Maultasche“? Welcher Berliner weiß nicht, dass man im Süden den Sonnabend auch Samstag nennt? Mag manches auch hilfreich sein oder zielgerecht erheitern, wenn das Nordlicht an den Bodensee oder der Schwabe ans Meer zieht – vieles weiß man schon, im Norden wie im Südwesten, und schmunzelt nur so halb, als träfe man kauzige alte Bekannte. Aber nichtsdestoweniger: man fühlt sich unterhalten, mehr will das „Büchlein“ offenkundig nicht: deshalb Kredit für „falsche Freunde“, den „groben Schwaben“ oder die „Schule für Neuschwaben“!
MB, 12.04.2009
Schwäbische Wurzeln
Kübler, Harald: Schwäbische Wurzeln. Leipzig: Engelsdorfer Verlag, 2008
Was dem Erhalt eines lebendigen Gesprächs über das Schwäbische dient, sei begrüßt – wenn es auch der Form nicht genügt! An Harald Küblers „Schwäbische Wurzeln“ wäre vieles auszusetzen, schon das Vorwort röhrt, klappert und schrillt; die Darlegungen über die Schwierigkeit, die Mundart zu verschriften, wirken angesichts einer Jahrzehnte anhaltenden Debatte über dieses Problem reichlich ungelenk. Aus jeder Zeile springt es dem Leser entgegen: Kübler ist kein Professioneller. Damit genug der Kritik – gegen ein Buch, das der Verfasser selbst illustriert und seiner Mutter widmet, kann man ohne schlechtes Gewissen nichts weiter sagen! Der Band ist also kein Werk, er dient der Selbstvergewisserung eines Schwaben und dem dringenden Bedürfnis, etwas Schwindendes für die Nachwelt zu erhalten. Als persönliches Dokument verdient es Respekt. Und: Das Buch unterhält durchaus! Es versammelt Sprichwörter, Spruchweisheiten und Sprüche aus dem schwäbischen Alltag, vornweg aus dem dörflichen. Sprüche, wie man sie vielleicht im Bus zwischen Magstadt und Büsnau mit heimlichem Grausen und unverhohlener Lust anhört – Zeugnisse eines Mutterwitzes, der in seiner Derbheit selbst beim Angestammten Befremden auslöst. Eingeteilt sind sie unsystematisch, nach Lebensbereichen und Textsorten: Kinderverse folgen auf Zahlwörter, Wirtschaftanekdoten gehen dem Kleidungsglossar voraus. Den Abschluss bilden eine Skizze zur Grammatik und ein Vokabular. Wer das Buch in die Hände bekommt, schmökere darin herum – ob er es auch kaufen muss, entscheide der Schwabe nach persönlichem Geiz.
MB, 12.04.2009
Der Schelling und der Hegel...
Ulrike Brommer: "...und Wasser trink ich oft dazu". Das private Leben der großen schwäbischen Dichter. Gerlingen: Bleicher, 2000, 2. verb. Aufl.
Man könnte sie nicht schöner zusammenführen: Nikolaus Lenau zupft sich melancholisch am Bart, Gustav Schwab blättert in einem dicken Wälzer, ein recht beleibter Justinus Kerrner schaut zu Ludwig Uhland hinüber, der in einem Folianten blättert. Inmitten und über der Gesellschaft: Herzog Alexander. Der handkolorierte Holzstich ist treffend gewählt für einen erlauchten Kreis von Biographien, chronologisch geordnet, jeweils versehen mit einer tabellarischen Übersicht der Lebensdaten. Die Autorin, gebürtig im Sudetenland, ist bisher als Autorin von praktischen Handbüchern hervorgetreten - von Kochbüchern, einer "Kulturgeschichte der klassischen Handarbeiten" und Fachbüchern zur Unternehmensberatung. Der Dichterreigen beginnt mit einer Einführung zum kulturellen Rahmen schwäbischer Dichtung, zum Selbstverständnis schwäbischer Dichter - neben den ironischen Versen Eduard Paulus' stehen Verse von Goethe, Scheffel und Uhland. Im Oberschwäbischen, in Biberach, beginnt der eigentliche Lauf: Christoph Martin Wieland macht den Anfang, ätherisch schaut er auf dem Kupferstuch von Lips drein. Dann Schiller, ein Ausschnitt aus dem Simanowitz-Porträt, versonnen - dann, hoffnungsvoll, der junge Hölderlin, der Gegenentwurf zu Schiller. Wie eine Bulldogge nach dem Mittagessen: Justinus Kerner. Ludwig Uhland dagegen eher streng; Mörike sitzt der Schalk hinter dickem Brillengläsern: "Der sanfte Träumer", titelt Ulrike Brommer. Es folgt ein Doppelporträt von Friedrich Theodor Vischer und David Friedrich Strauß, montiert zwar, aber scharfsinnig beide. Hermann Hesse, ein Altersbild von 1951, schließt die Galerie ab. Brauchbar ist der Anhang: eine geographische Übersicht der Dichterorte in Württemberg, die Bibliographie atmet Marbacher Weihrauch. Wer sich auf Dichterspuren begeben möchte, kann das mit Ulrike Brommers Buch in der Hand tun - aber auch als Abendlektüre sind die Lebenszeugnisse vergnüglich.
MB, 18.10.2008
Wonder wa
Ernst und Heinrich (schwäbisch international): Wonder Wa. Eigenproduktion: Reiff und Mantel, 2004
Von gepflegtem Honoratiorenschwäbisch bis zum vermeintlichen Schwäbisch der Texaner - Ernst Mantel und Heiner Reiff haben geschafft: Eine schwäbische Schlachtplatte regionaler Eigenarten, annotiert, mit Fußnoten für die Reigschmeckten! 42 Minuten derber und gefühlvoller Unterhaltung auf Schwäbisch, mal bluesig, mal bluegrasig, dann wieder Reminiszenzen an Reggae ("Wonder wa") und Disco ("Disco"). Aufgenommen wurde das Album in Hagnau, direkt am See, für die Nachbearbeitung im Studio zeichnet Philipp Feldtkeller verantwortlich. Die Anschaffung lohnt, unbedingt! Und die Texte? Durchaus raffiniert: In "Ja des ben i" ein virtuoser Zeilenumbruch: "Dâ hieß es stets, dass i zwar koi guder / Schaffer - doch a guder Esser sei"; in "Baumarkt" herrliche Kataloge schwäbischer Handwerkskunst, dann "Feng Shui" auf den Knui, und jener Hans im Unglück, der es eben nicht im "Gnick" hat sondern "em Greiz"; altenative Kultur im Tätowiersalon ("Tattoo", auch ein Wortspiel) oder liebevoll spöttische Amerikanerei in "Johnny". Die Beilage erfreut mit reichlich Klampfen und noch mehr Selbstironie - schön, dass nach "Was scho vorbei?" noch ein versöhnliches "Wieder weider" auf weitere Alben dieses kauzigen Duos hoffen lässt.
MB, 18.10.2008
Heimatsprache
Karl Häfner: Heimatsprache. Eine Mundartenkunde Südwestdeutschlands. Reutlingen: Knödler, 1981 (ND der Ausg. Muth, Stuttgart 1951)
Zweifellos ist die Wiederbelebung eines schönen Buches aus dem Jahre 1951 ist ein verdienstvolles Philologenstück - rührend, wie der schwere Pädagogenton der frühen Achtziger das Vorwort umkleidet, wie man sich in die Pionierzeit der emanzipatorischen Mundartforschung versetzt fühlt! Warum Häfners Heimatsprache dreißig Jahre nach seinem ersten Erscheinen wieder verlegt wird? Es gebe keine vergleichbar übersichtliche Arbeit zur Mundart im Südwesten, argumentieren die Herausgeber, die einen Vergleich der südwestdeutschen Mundarten erlaube. Häfners Arbeit erhalte eine "klare historische Perspektive", indem sie sich das Mittelhochdeutsche vorsetze. Häfner schreibe "allgemein verständlich" und bemühe sich, "im Blick auf die Bedürfnisse der Unterrichtsarbeit" stets darum, seine Darstellung auf "Grundsätzliches und Exemplarisches" zu beschränken. Häfners sprachpflegerischer Eifer trübe die ansonsten recht ausgewogene Darstellung. Häfners zuweilen urwüchsiges Schuldeutsch liest sich heute ebenso fremdartig wie die engagierte Schreibe der Herausgeber. Viele ernsten Schulschwierigkeiten der Fünfziger und der Achtziger sind seltene Sumpfblüten im Pädagogengeschäft des 21. Jahrhunderts, die man schon der Seltenheit dialektaler Einflüsse wegen schätzt. Aus dreißig Aufsätzen sticht vielleicht einer mit Dialektmerkmalen heraus - und dafür schreibt heute keiner mehr eine Arbeit über "Heimatsprache", über Dialekt und Mundart. Häfner schreibt sie noch aus dringendem Anlass, schreibt sie ganz mit der Liebe zur Sprache, die ihn ständig umgibt, auch in der Schule. Aber nicht nur für Schulleute ist Häfners Buch eine Schatzgrube, aller unbeabsichtiger Komik zum Trotz - jeder, der sich mit Mundart beschäftigt, wird es mit Lust lesen. Das heißt keineswegs, dass Häfners Fibel inhaltlich nichts zu bieten habe - seine orthographischen Überlegungen sind durchaus diskutabel, die zahlreich eingestreuten Wortlisten höchst brauchbar. Die grammatikalischen Kapitel (und einiges sonst) bedürften allerdings eines verständnisvollen Linguisten, der die Arbeit in sprachwissenschaftlich akzeptable Form und auf den Stand der Forschung bringt. Noch immer gibt es nämlich keine ebenso weitgespannte und dennoch lesbare Darstellung der südwestdeutschen Sprachlandschaft. Mag man Häfners Buch auch wissenschaftlich nicht ganz ernst nehmen - es ist ein lehrhaftes Buch, das schwäbisch einsäuselt und schwäbisch dazwischenpoltert, ein Buch mit viel Witz und Leidenschaft, ein lebendiges Zeugnis der Fünfziger.
MB 02.06.2006
Mundartdichtung in Württemberg seit 1945
Mundartdichtung in Württemberg seit 1945. Eine Bestandsaufnahme anläßlich dere Ausstellung in der Landesbibliothek Stuttgart 16.4. bis 2.8.1991, hrsg. v. Norbert Feinäugle und Wilhelm König i. A. der Mundartgesellschaft Württemberg e. V. Reutlingen: Knödler, 1991
"Mundartdichtung in Württemberg seit 1945" - zur modernen Literatur in schwäbischer Mundart bis 1991 gibt es keine handlichere und gründlichere Arbeit als den bei Knödler in Reutlingen verlegten Katalog in unscheinbarem Fichtengrün. Er führt durch eine von Wilhelm König angeregte Ausstellung in der Stuttgarter Landesbibliothek, verzeichnet die Sammelstücke und bettet sie ein in die neuere Kulturgeschichte Württembergs. Unter der Schutzherrschaft des Herzogs, um die man sich in echter Schwabentreue bemüht hat, entfalten die Herausgeber ein fünfteiliges Panorama schwäbischen Literaturlebens. Der erste Teil gehört der lebendigen Tradition von Sebastian Blau zum Mundarttheater der Neunziger. "Neue Wege" beschreitet der Leser in Teil zwei, begegnet Übersetzungen und Vertonungen schwäbischer Dichtung. Der dritte Teil entwirft eine Landkarte württembergischen Mundartschaffens, lockt den Leser von Stuttgart aufs Land, von der Hohenlohe nach Oberschwaben. Einzelnen "Autoren, die Schule gemacht haben", stellt der vierte Teil vor - Gottlob Haag, Georg Holzwarth, Wilhelm König (den Mitherausgeber), Helmut Pfisterer, Peter Schlack, Friedrich E. Vogt. Eine Selbstvorstellung der Mundartgesellschaft schließt den Katalog - es folgt im Anhang ein höchst brauchbares "Verzeichnis der Autoren und ihrer Bücher". Der Band genügt wissenschaftlichen Ansprüchen und zeugt von begeisternder Lust am Vermitteln - die reiche Austattung des Buches lässt erahnen, welches Vergnügen die Ausstellung dem interessierten Laien machen konnte. Wer immer sich einlässt auf moderne Mundartdichtung und Nachforschungen nicht scheut, dem sei der Band empfohlen - wer Württemberg kennt, wird sich über die zarten Verflechtung der Dargestellten mit den Verfassern kaum wundern. Es gibt schlimmere Formen der Vetterleswirtschaft im Lande.
MB 02.06.2006
Geschichte der schwäbischen Dialektdichtung
August Holder: Geschichte der schwäbischen Dialektdichtung. Mit vielen Bildnissen mundartlicher Dichter und Forscher. Offenbarungen eines stammheitlichen Volks und Sprachgeistes aus drei Jahrhunderten. Kirchheim (Teck): Jürgen Schweier, 1975 (Reprographischer Nachdruck der Ausg. Heilbronn: Max Kielmann, 1896)
"Seiner Majestät dem König / Wilhelm II. / von Württemberg / in schwäbischer Treue und tiefer Ehrfurcht / gewidmet". So empfängt Holders Literaturgeschichte seines "Stammes" den Leser, an der winzigen Titelmaxime auf der gegenüberliegenden Seite gleitet sein Blick vorbei: "Zu sein ein Schwabe, / Ist auch eine Gabe." Als Gabe hat wohl auch der altväterlich dreinblickende Holder seine Literaturgeschichte der Mundart verstanden, als Gabe an seine schwäbischen Mitbürger und als Aufgabe an sich selbst. Bescheiden betont er, nur "auf besonderen Wunsch verschiedener Gönner und Freunde" habe er seine Photographie veröffentlicht. Mit strenger Miene und ebso strengem Kragen blickt der Verfasser seinem Leser entgegen, mit einer Würde, die einigen Vaterstolz kündet. Sein Buch ist eine kenntnisreiche Darstellung der Dichtung in schwäbischer Mundart, eine schwungvoll vorgetragene Preisrede auf das Schwäbische und ein Zeitdokument jener Epoche, in der sich der Schwabe noch verpflichtet fühle, dem Kaiserhaus und dem Reich seine Loyalität zu erklären. Wischt man den Staub zwischen den Seiten heraus, enthüllt man eine reizvolle Geschichte der schwäbischen Dichter in Biographien, die Holder, ganz Kind seiner Zeit, mit archivarischer Sorgfalt aus den Zeitungsbeständen und Bibliotheksssammlungen zusammenklaubt. Verblüfft stellt man fest, welche Bedeutung unsere Ur-Urgroßväter der Mundart zugeschrieben haben, wie sehr das Schwäbische im Schwange war, selbst in Stuttgart. So sehr, das selbst eine aus Aachen zugereiste Fabrikantentochter noch eigens das Schwäbische erlernt um darin zu dichten. Holder beginnt im 16. Jahrhundert mit den ersten Bühnenschwaben und endet mit seinen Zeitgenossen - und mit einem nuhn vertrauten Spruch: "Zu sein ein Schwabe, / Ist auch eine Gabe." In drei Anhängen sind wichtige Bemerkungen zu dialektpoetischen Problemen versammelt - auch zur Schreibung. Jedem, der sich die Mühe machen will, die Geschichte der schwäbischen Mundartdichtung zu entziffern und sich am Ton der wilhelmischen Gründerväter nicht stört, der wird dieses Buch, dieses Dokument, mit einigem Gewinn studieren.
MB, 20.12.05
Mein Land hat kleine Städte
Otto Borst: Mein Land hat kleine Städte. Dreißig schwäbische Städteporträts. Stuttgart: Theiss, 2002, 2. Aufl. (EA 1994)
Otto Borsts "schwäbischen Städteporträts" könnte man Fontanes am Schluss des Buches zitierten Satz voranstellen: "Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große, weil ich den Unterschied zwischen klein und groß nicht gelten lasse." Schwaben mit schönen Reden preisend reiht Borst die Perlen auf - mitunter entgleiten sie aber schwer dem Zugriff des unbeschlagenen Lesers, vom Zählen müde stemmt er sich gegen das Wegdämmern. Wer nicht schon viel weiß, wer nicht die von Borst geschilderten Orte kennt, der wird an seinem neckarträg hinfließenden Erzählen nur halbe Freude haben. Borsts Buch ist für Kenner der Landschaft, für Kenner der Städte geschrieben, eher noch: für Kenner ihrer Archive, nicht für den zufällig hereinwehten Besucher. Aus eigener Anschauung erzählt Borst Vergessenes neu, lässt Vergessene reden: in Briefen, Protokollen und Erinnerungen. In 30 Städtebildern stellt Borst Städte von der Ostalb bis zur bayerischen Grenze vor, auch Stuttgart, das Gäu und das Land um Rems und Murr sind mit alten Reichsstädten vertreten. Ausgewählt sind Städte, die sich dem Betrachter nicht anbiedern: Städte mit einem zuweilen gut versteckten Geheimnis. Stuttgart empfängt den Leser, Tübingen verabschiedet ihn. Unterriexingen ist dabei, Bad Wimpfen, Öhringen, Waldenburg, Giengen an der Brenz, Sulz am Neckar, Ruit, Neuffen. Borst hat auswählen müssen: man frage also nicht, weshalb Waiblingen nicht erscheint, wo Winnenden und Herrenberg bleiben. Wer das Land kennt, begnügt sich mit den Städten, die Borst ausgewählt hat. Wer es nicht kennt, der lerne es kennen - und lese dann erst "Mein Land hat kleine Städte".
MB, 13.07.05
Schwabenspiegel
Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1000-1800, hrsg. v. Ulrich Gaier, Monika Küble und Wolfgang Schürle i. A. der Oberschwäbischen Elektrizitätswerken (OWE). Ulm: Oberschwäbische Elektrizitätswerke, 2003. Bd. I: Katalog, Autorenlexikon, Bd. II: Aufsätze [Kat. Ausst. Blaubeuren, Tübingen, Ulm e. a. l.]. - ISBN 3-937184--00-7
Wenn es an den Hochschulen des Landes jemanden gibt, der die Literatur Schwabens für ein weiteres Publikum, "vom Schüler bis zum Akademiker", geöffnet hat, dann ist das unbestreitbar Ulrich Gaier. Im Jahr 2003 hat der Konstanzer Emeritus mit seinen Mitarbeitern und den Oberschwäbischen Elektrizitätswerken in zwei Bänden ein großartiges Panoptikum schwäbischen Schreibens und Darstellens vorgelegt, das auf lange Sicht nicht seinesgleichen haben wird: den "Schwabenspiegel". Das wuchtige Werk, allein mit der Bibliographie könnte man schwäbische Lindwürmer erschlagen, entfaltet weite Felder schwäbischen Lebens, und es spricht nicht gegen Gaier und sein Verfahren, dass die Ährenlese zugleich auch eine Blütenlese sein darf. Zum Aufbau: Suevia steht am Dreiweg, neben ihr schaut der Leser auf Hof und Kloster und hinab in die Stadt. Der Buchdruck entfaltet seine wirkmächtigen weißen Blüten, gedroschen wird im Feld der Reformatoren und ihrer Gegner. Exotica finden sich im nächsten Feld, Schwaben in der Welt, Mutterkorn im nächsten, Pest, Hunger, Krieg. Das Versuchfeld der Universität schließt das Feld gegen ein Gräberfeld vierhundert berühmter Schwaben ab. Letzteres , sensu literae: das Autorenlexikon, schließt eine Lücke in der Forschung, in der geistigen Landkarte des literarischen Schwabens. Erfreulich ist Gaiers Anspruch, auch den "Nebel der Niederungen", die Gebrauchsliteratur über seine Felder wehen zu lassen; wünschenswert wäre gewesen, auch die literarische Welt jenseits des Schönbuch zu erschließen: pragmatische Gründe hätten eine "Begrenzung auf das Verbandsgebiet der OEW" erfordert; nun, ehrlich ist eine solche Begründung zweifellos, ob sie überzeugt, das sei ins Urteil der Leser gestellt. Man darf gespannt sein, ob die großzügige und gar nicht aufdringliche Unterstützung der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke auch andere hoch- und vermögende Werkstätten dazu aufruft, die Pflege des literarischen Schwabens nicht der Politik allein zu überlassen. Weit über 600 Illustrationen und eine vom SWR produzierte CD, besprochen (unter anderen) von Ulrich Gaier und dem Stuttgarter Schauspieler Rudolf Guckelsberger, verleihen dem gedruckten Wort Farbe und Stimme. Der Wert des Katalogs und des Aufsatzbandes ist schwer zu ermessen; auch der größte Entenklemmer wird, so ist zu hoffen, 50 Euro für beide Bände im Schuber verschmerzen können. Denn wer sich ernstlich oder unernst mit schwäbischer Kultur befasst, der kommt um das monumentale Prachtwerk nicht herum. Gaiers versammelte "Schätze" machen die betrachtende Lektüre auch jenem Zeitgenossen zum Vergnügen, der sich vor der "gleichmachenden Globalisierung unserer Lebensverhältnisse" und der abenteuerlichen Spiegel-Allegorie im Vorwort nicht zu fürchten braucht.
MB, 18.05.2005
Die heimlichen Rebellen
Otto Borst: Die heimlichen Rebellen. Schwabenköpfe aus fünf Jahrhunderten. Stuttgart: Theiss, 1980
Die kantig ausgeschnittenen Schwabenköpfe Otto Borsts werfen Schatten auf die schwäbische Landschaft; Schatten, die - etwa im Fall Hesses - die Finsternis mancherlei Verhältnisse deutlich hervortreten lassen. Hesse ist freilich nicht der Einzige, den man in Württemberg geprügelt und gemaßregelt hat. Unters Rad kam auch der Zollreformator des deutschen Bundes, Friedrich List - mit seinem Selbstmord war er - wieder - seiner Zeit voraus. Auch den zwiespältigen Herrenberger Humanisten Johann Valentin Andreae, den nicht minder problematischen Stiftler Hegel, Hölderlin, die Landeskinder Heuss und Schmid - alle kommen in Otto Borsts aufschließender Darstellung zu ihrem Recht. Neben dem in sein Unglück marschierenden Dichter Georg Herwegh aus Stuttgart steht der von Blasen geplagte Vischer, dessen Weggefährte aus Ludwigsburg. Aber auch weniger bekannte Schwaben, heute wenigstens, im deutschen Ausland, kaum bekannte Schwaben stellt der Band mit Einfühlung und Fachverstand vor: Christoph Friedrich Grieb, Gottlieb Rau, Julius Motteler, Christoph Blumhardt. Das Buch zeigt an schwäbischen Exempeln, was es heißt "anderer Leben zu erkennen und anzuerkennen". Man wünscht sich im Lapidarium der Landesgeschichte mehr solcher Büsten, wie sie Borst bei seiner Notgrabung zu Tage gefördert hat.
MB, 14.03.2005
ein Bild der Zeit
Hansgeorg Schmidt-Bergmann u. a. [Literarische Gesellschaft Karlsruhe] (Hg.): ein Bild der Zeit. Literatur in Baden-Württemberg 1952-1970. Karlsruhe: Info, 2000
Im Jahr 2000: ein Band zu zwanzig Jahren schwäbisch-badisch-alemannischer Literaturwirklichkeit ist erschienen. Der Anlass: das fünfzigjährige Jubiläum des Südweststaats. Auf 170 Seiten entfaltet sich eine Zeit, deren hastige Frische sich in Manifesten, Briefen und Photographien zu großem Eindruck überliefert. Begleitet sind die anschaulichen Kapitel von einer in Jahre abgeteilten Zeitleiste, die epochale Wendepunkte in der Politik und den Wandel im Alltag verzeichnet. Gut gewählt sind die Autorenporträts, knapp die Lebensschilderungen, aussagekräftig die dokumentarischen Aufnahmen: Heidegger am Würfelbrunnen, Jünger und Walser beim SDR, die Gruppe 47: schwere Hornbrillen, schwerer Pfeifenqualm, bleischwere Mienen. Politiker allenthalben, beim Händeschütteln, väterlich: die literarhistorische Beschreibung kommt ohne die graumellierten Herren in Schwarzweiß nicht aus, nicht ohne den lächelnden Heuss. Diesen Band schirmt die gabenreiche Hand eines Ministerpräsidenten. Kein Wunder, dass dem schwäbischen Landesherrn die Literatur am Herzen liegt: sie ist unter allen Künsten die sparsamste, blüht auch bei nachlässiger Förderung und schießt wie die bäurische Brennessel auch dort ins Kraut, wo man - aber lassen wir das. 27 bebilderte Aufsätze bestimmen knapp und eindringlich die Lage im literarischen Staat, der sich zum Staat der Politik mitunter in herbem Missverhältnis befindet, zuweilen aber auch Grenzverkehr ermöglicht. Ausführlich kommen die Autoren in Brief und Brandschrift selbst zu Wort, sind nicht anthologienhaft aufgespießt wie Schmetterlinge; sie zetern, spotten und schwärmen. Wer also einen guten Eindruck vom literarischen Leben im jungen Staat gewinnen möchte, der über zahlenmäßige Kenntnisse hinausgeht, dem sei der Band zur Karlsruher Ausstellung empfohlen.
MB, 13.03.2005
Ein bißchen unsterblich
Hermann Bausinger: Ein bißchen unsterblich. Schwäbische Profile. Verlag Schwäbisches Tagblatt, 1996
Ein "bißchen unsterblich" nur sind die meisten jener "'mittleren' Personen", deren Leben Hermann Bausinger studiert und skizziert hat. Einigen jener Schwaben kommt der silberne Lorbeer zu, der das unterhaltende Buch deckt, Uhland, Kerner, Schubart - andere dagegen taumeln umher in der schwäbischen Literatur- und Kulturgeschichteals wie einzelne Lorbeerblätter am sauren Braten. Als Wegweiser: "Streitbare Poeten" gehen den nicht weniger handfesten Dichter "Im Volkston" voraus; Bausinger führt den Leser "Wege der Aufklärung hinauf" und gestattet ihm "Zwischen Mythos und Alltag" eine Rast, bevor "Eigen-Sinn und Poesie" zum abschließenden Kapitel "Geschichte und Geschichten" überleitet: Schubart, Uhland, Vischer; Sailer, Lederer, Weitzmann, Kaiser; Philipp Matthäus Hahn, Ludwig Röder, Friedrich Köhler, Johann Gottfried Pahl; Marianne Ehrmann, Justinus Kerner, Friedrich List; Gräter, Ernst Meier, Angelika Bischoff-Luithlen; Elisabeth Gerdt-Rupp, Casimir Bumiller, Gerd Gaiser; Johann Osiander, Theodor Georgii. Kurzweilig erzählt sind Bausingers Medaillons aus der Geistesgeschichte Schwabens allesamt; es mag der Widersprüchlichkeit schwäbischen Denkens geschuldet sein, dass sich der Leser zuletzt auf einem Friedhof widerfindet. W<ie zwischen Grabsteinen fasst ihn ein Sterben an, das ansteckend scheint: Kerners Tod zieht auch Uhland ins Grab, Hermann Kurz ruft David Friedrich Strauß zu sich. Jenes zuckrige Totengespräch unter Lebenden, das den Band abschließt, hätte Bausinger aber beruhigt weglassen können: Tübinger Lokalheilige gelten schon in Bempflingen nur noch die Hälfte.
MB, 26.02.2005
Anekdoten aus Baden-Württemberg
Richard Carstensen (Hg.): Anekdoten aus Baden-Württemberg. Husum: Husum, 1983
111 Anekdoten versammelt Richard Carstensen in seiner Anekdotensammlung; viele davon allerdings sind gar keine an-ek-dota, nicht einmal im weiteren Sinn. Unter den Quellen: Lattmanns Anekdotenbuch, Memoiren von Rommel, das Badener-Buch von Siebenpunkt. Innerhalb von zwei Stunden ist der dünne Band durchgelesen. Der schwäbische Leser wundert sich, weshalb "Anekdoten aus Baden-Württemberg" ausgerechnet bei Husum Taschenbuch erscheinen, weswegen ein Richard Carstensen den Herausgeber macht. "Gesammelt und niedergeschrieben von Richard Carstensen". Gesammelt hat er ja, aber "niedergeschrieben"? Zweifellos hat Richard Carstensen Verdienste, aber warum hat es denn nun Württemberg sein müssen, weswegen die Schwaben? Man hätte gewiss Anekdoten finden können, die weniger bekannt, aber nicht weniger witzig gewesen wären. Mit einem Rosshaarpinsel aus der Mähne des Pegasus sind diese Lebensbilder nicht gemalt, aber - trotz allen Ungeschicks des indenzenten Herausgebers - witzig sind einige von ihnen dennoch. Wer die beiden schönen Schubart-Anekdoten nicht anderswo findet, der mag sich das Buch anschaffen. Einige Geschichten sind es, wenn auch nicht um des Gesamten willen, wert. Für maches entschädigt Schubarts boshafte Replik auf die Frage eines befreundeten Pfarrers, ob ihn die ländliche Umgebung nicht zu einem Lied inspiriere:"Ich seh hier voll Begaischderung, / viel hundert Häufle Kälblesdung." Und auch die dreiste Antwort auf das ungeschickte Reimpaar einer Verehrerin beim Toast macht vieles wett: "Schau, das freut mich königlich / Daß die Jungfer säuft wie ich." Empfehlenswert ist das Bändchen, im Gegensatz zu Schubarts zu Unrecht verdrängten Schriften, dennoch nicht.
MB, 26.02.2005
Literaturspaziergänge in Stuttgart
Irene Ferchl: Stuttgart: Literarische Wegmarken in der Bücherstadt. Stuttgart: Klett-Cotta, 2000
Irene Ferchl schafft als Herausgeberin des Literaturblatts den Autoren des Landes ein Forum, das zu Erkundungsgängen ins literarische Württemberg einlädt – unverzichtbar für jeden Studierenden, der sich auch nur halbherzig für zeitgenössisches Schreiben öffnet. Bleiben wir beim Bild des schlendernden Germanisten: mit Irene Ferchl verbindet sich in Stuttgart der Begriff des Literaturspaziergangs. Ihr lebendiges Buch "Stuttgart: Literarische Wegmarken in der Bücherstadt", erschienen unter den "Literarischen Reisebegleitern" Klett-Cottas, öffnet auch alteingesessenen Städtern den Blick auf ein anderes, viel zu oft übersehenes Stuttgart: auf das Stuttgart Mörikes, Raabes, Schubarts, Vischers, Becketts und Benses. Acht Spaziergänge entlang der Hänge und durch die Talsohle der Stadt erschließen die Literaturgeschichte einer ganz und gar nicht geistlosen Stadt. Fast gespenstisch mutet es bisweilen an, wie aus dem Nichts der Neckarstraße, aus Baugruben und Banken die Schatten der literarischen Vergangenheit treten – Ferchl schildert historische Orte, zuweilen mit Wehmut, niedlich zwar, nie aber nostalgisch, schildert geschichtliche Orte, weist Spuren auf, die auch dem Unkundigen den Weg zu einer ausgebombten und längst abgerissenen Vergangenheit weisen. Zu Herweghs Geburtshaus etwa: kaum einer, auf Herwegh befragt, kennt den Lyriker, kennt seine garstigen politischen Lieder, so unscheinbar ist die Plakette, an der Tag für Tag viele achtlos vorübergehen. Wer weiß schon, dass Robert Musils "Zögling Törleß" in Stuttgart entstand, dass Alfred Andersch beim SDR Redakteur war, der Arno Schmidt zum Gespräch lud, wie viele andere, die damals noch nicht Rang und Namen hatten? Das Buch durcheilt man rasch und kommt – ungeachtet der Stuttgarter Staffeln – zügig herum in der Stadt, auch dort, wohin kaum je ein Tourist sich verirrt. Auch unsere Universität gibt sich die Ehre, die Universität Fritz Theodor Vischers, Käthe Hamburgers, Fritz Martinis und Max Benses – ein Grund mehr für angehende Germanisten, mit Ferchls Buch in der Hand ein wenig zu flanieren, wo – wer weiß? – in alten Tagen Chopin oder Rimbaud herumspaziert sein mögen. Wer dann noch immer nicht müde ist, der mag auf den Hoppenlau-Friedhof hinübergehen und dort nach einer Höflichkeitsvisite beim alten Cotta, wenn es nicht regnet, oder genau dann, Hauffs Märchen oder Schwabs klassische Sagen zu lesen.
In einem Satz:: Ferchls Buch sei jedem Neuling empfohlen, als brauchbares Lesebuch und freundliches Willkommen, aber auch den Eingesessenen ist es ein veritabler Trost, wenn Heidelberger oder Tübinger sie hänseln...
MB, 07.07.2003
Schreibende Ausländer in Stuttgart
Dichter sehen eine Stadt ; Texte und Bilder aus 250 Jahren, hrsg. v. Horst Brandstätter u. Jürgen Holwein. Stuttgart: Metzler, 1989
Stuttgart rühmt sich ganz zu Recht seiner Internationalität. Dass Stuttgart aber schon eine internationale Residenzstadt war, lange bevor Daimler und die Messe Besucherströme lockten – das belegt Horst Brandstätter und Jürgen Holweins wunderbare Anthologie "Stuttgart. Dichter sehen eine Stadt", vor knapp 15 Jahren bei Metzler erstmals verlegt. Namhafte und weniger berühmte Autoren, darunter auch Nebenberufler wie Chopin und August Bebel, schildern ihre zuweilen befremdlichen Begegnungen mit Stuttgart, breiten Erfahrungen aus, die durch Stiche und Photographien der zunächst langsam wachsenden Großstadt ein Gesicht erhalten. Beschränken wir in diesem Schnelldurchlauf auf ausländische Besucher, und beginnen wir bei einem berühmten Italiener – Giacomo Casanova erlebt Mitte des 18. Jahrhunderts ein glänzendes Stuttgart, eines, dessen Hof Komponisten wie Niccolò Jommelli (1714-1774) und Choreographen wie Jean Georges Noverre (1727-1810) anzog. Casanova hat jedoch wenig Fortune in der beschaulichen Kleinstadt: von Offizieren beim Spiel übertölpelt, bleibt ihm nur die Flucht, um dem Schuldturm zu entgehen. Mit der Hilfe italienischer Landsleute und ausgestopften Bettzeugs täuscht er die schläfrige Wachmannschaft und seilt sich buchstäblich ab – in den Knien bis zum Schlamm, schreibt der Venezianer, watet er der Freiheit entgegen. Ähnliches Ungemach hatte der in Grenoble geborene Franzose Stendhal (Marie Henry Beyle, 1787-1842) zu erleiden: nachdem in Stuttgart offenbar keine Pferde bereitstehen ("Allgemeine Mutlosigkeit und Verzweiflung") sieht sich der Reisende genötigt, die Nacht inmitten "dieser verdrießlichen Federkissen" verwenden, "die in Deutschland als Bettdecke verwendet werden." Stendhal muss sich so gelangweilt haben, dass er noch beim Verlassen der Stadt die Trockenmauern der Weinberge zählt. Eher belustigt dagegen stolpert der Schleswiger Organist Adam Oehlenschläger über deutsche – oder eher: schwäbische – Eigenarten: er hat geschäftlich mit dem alten Cotta zu tun; als dieser penibel jeden Groschen umdreht, wundert sich der Däne dann doch: warum der reiche Verleger so genau nachrechne? Er sei wohl kaum so reich geworden, versetzt Cotta, wenn er nicht so genau "auf die Groschen gesehen". Ein ungleich bekannterer Musiker erreicht Stuttgart im Spätsommer 1831: Frédéric Chopin hat hier seine Freiheits-Etude op. 10, Nr. 12 in c-Moll verfasst. Ausgerechnet in Stuttgart nämlich erreicht den polnischen Pianisten die Nachricht, dass die Truppen des Zaren die Schanzen Warschaus gestürmt haben. Beim Klang der Stuttgarter Turmuhren beklagt er mit dem Schicksal seiner Landsleute sein eigenes: "Und ich bin hier, untätig – und ich, mit leeren Händen, seufze nur dann und wann, ich schütte meine Hoffnungslosigkeit über das Klavier aus. Doch was nützt das? Gott, mein Gott, schüttle die Erde, damit sie die Menschen dieses Jahrhunderts verschlingt..."." Glücklicher waren die Stuttgarter Tage des französischen Schriftstellers und Bibliothekars Xavier Marmier (1809-1892), der 1829 mit Uhland und Schwab "bis zu den hübschen Hügeln von Cannstatt" wandert und im Schatten einer Linde die Stuttgarter bei Bier und Tabak beobachtet. Uhland deklamiert gerade "Der Wirtin Töchterlein", "da zog ein Trupp Studenten, die ebenfalls in Cannstatt gewesen waren, an uns vorbei: Sie sangen ein Lied von Schubert. Ein sanfter Abendwind bewegte die Zweige der blühenden Linden und verbreitete weithin ihren Duft...".Kaum weniger begeistert ist Frances Trollope (1780-1863), die auf ihren Reisen auch in Stuttgart Halt macht – und Württembergs Hauptstadt ihren englischen Lesern wärmstens empfiehlt. Trotz der "offenbaren Gleichgültigkeit gegenüber eingeborenen Talenten" und trotz der damals schon horrenden Kaltmiete ist sie "der Ansicht, daß Personen, die auf dem Kontinent eine bleibende Heimat suchen, in Stuttgart einen so empfehlenswerten Aufenthaltsort finden, wie ich noch keinen fand." Weniger angetan ist Victor Hugo, der das Grün der Bäume für "Stuttgarts ganzen Schmuck" hält und selbst das Schillerstandbild "mittelmäßig" findet – was allerdings auch am kalten Dauerregen gelegen haben mag. Sein Zeitgenosse und Landsmann Hector Berlioz weiß schon vom Weg nach Stuttgart "nichts Interessantes" zu erzählen, trifft "weder Jäger noch Milchmädchen", nur einige "häßliche Bauern, einen großen Dreispitz auf dem Kopf, in einem immensen Gehrock aus ehemals weißer Leinwand, dessen endlose Schöße sich zwischen ihren Beinen verwickeln...". Dass die Streicher vom Hoforchester seine "Phantastique" verpfuschten, wird diesen Eindruck nicht unbedingt korrigiert haben. Hans Christian Andersen, nach Oehlenschläger der zweite berühmte Däne in Stuttgart, dürfte seinen Stuttgartaufenthalt ebenfalls nicht sehr genossen haben: was ausnahmsweise nicht an Stuttgart, sondern an einem historischen Schnupfen lag, den sich der hypochondrische Märchendichter am 27. September des Jahres 1860 auf dem Cannstatter Wasen holte. Länger als Andersen, der nur ein paar Tage verweilte, hielt sich Arthur Rimbaud in Stuttgart auf: jedenfalls lang genug, um nach einer wüsten Prügelei mit Verlaine das Schreiben ganz aufzugeben. Rimbaud, der wie zuvor Victor Hugo "alles ziemlich schäbig" findet ("mit einer Ausnahme: Riessling"), wohnt in der Marienstraße 2 und bringt den Kindern eines gewissen Albrecht Wagner Französisch bei. Rimbaud fiel nicht weiter auf – selbst der Arbeitgeber war höchst erstaunt, als man ihn nach dem weltberühmten Dichter Arthur Rimbaud fragte. In Tuchfühlung mit den gestrengen Sittenhütern geriet jedoch ein gewisser Harris, der den englischen Reiseschriftsteller Jerome Klapka Jerome nach Stuttgart begleitete: er durchquerte (widerrechtlich!) einen Ausgang des Stadtgartens. Ein Schutzmann, der dies beobachtet hatte, forderte ihn auf, sofort über den Zaun zurückzusteigen – angesichts dieses Ordnungswahns entfuhr dem Briten ein "silly ass", das ihn wiederum gut 40 Reichsmark kostete.Wenn schon Briten mit der Staatsmacht in Konflikt geraten – was muss einem russischen Reisenden erst widerfahren? Nichts – wenn man von schwer verdaulichem Schwarzbrot absieht. Avantgarde-Dichter Sergej Tretjakov (1892-1939), der dem Stuttgarter Gesundheitspapst Friedrich Wolf einen Besuch abstattet kann sich bei Brot und Ei über dessen Hygienewahn nur wundern: "Dies ist kein Frühstück, sondern eine Lehrveranstaltung. Ich suche Salz. Vorwurfsvolle Blicke: `Weshalb Salz? Gewöhn dir die barbarische russische Sitte ab, alles zu versalzen. Belaste das Blut nicht. Je weniger Salz, desto besser." Ilja Ehrenburg (1891-1967), ebenfalls Russe, bleibt von derartigen Anmutungen verschont: stattdessen kann er "Jazz im Stadtpark" bewundern, die Schamröte der Stuttgarter Mädchen bei der Sommermodenschau und den Bahnhof als den "Tempel eines unbekannten Kultes". Ehrenburgs Begeisterung über Stuttgarts metaphysisch anmutende Ordnung, über Zifferblätter und die "Phantastik des nächsten Achtstundentraumes" befremdet uns heute – die "religiöse Einstellung zum Fahrplan" ist uns aber sicher vertraut.Hier, in den Zwanzigern, endet diese kleine Geschichte Stuttgart aus den Augen der Fremden. Die Anthologie von Brandstätter und Holwein ist ein großartiger Beitrag zur Archäologie dieser verkannten Literaturstadt.
MB, 07.07.2003