Begriff
Exotik und Exotismus
Exotik
Das griechischstämmige Wort "exotisch" hat eine lange und verwickelte Geschichte: hier sei sie nur im Ansatz erzählt. Exotisch ist für den Griechen all das, was seiner Herkunft nach nicht griechisch ist, der Römer hingegen versteht darunter vornehmlich das, was aus dem Osten übers Mittelmeer kommt. Bei Plautus heißt Großgriechenland "Graecia exotica" (Plaut. Men. 236), Plinius spricht von Salben aus dem Orient, die er "unguenta exotica" nennt. Apulejus schließlich nennt Wein, der nicht aus Attika stammt, "vinum exoticum". Nach verschiedenen Belegen seit der frühen Neuzeit, 1665 als Beiwort fremder Sprachen und 1736 als Beiwort für fremder Gewächse, beginnt das Wort im 19. Jahrhundert gebräuchlich zu werden und vorrangig tropische Pflanzen und Tiere zu bezeichnen. Es währt jedoch noch lange, bis auch die Lexikographen das Wort zu Kenntnis nehmen. Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist es 1862 nicht enthalten, ebenso wenig im gleichnamigen Nachschlagewerk Moriz Heynes von 1905. Dies ändert sich jedoch noch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: Koenigs Großes Wörterbuch von 1913 und das Deutsche Wörterbuch Fr. L. K. Wiegands (1909) verzeichnen es mit der Bedeutung, die auch die Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs angibt: "aus fremden ländern stammend (und daher) weitgehend unbekannt, fremdartig anmutend ["¦]." Es ist sicher kein Zufall, dass in einer Zeit geballter Exotik auch die Sprache das Exotische zu benennen sucht.
Was aber bezeichnet das Wort eigentlich? Beginnen wir mit der Feststellung, dass dem Begriff vom Exotischen die Vorstellung des Fremden zu Grunde liegt. Aber was ist das Fremde? Fremd ist zunächst das Unbekannte, das wir nicht verstehen. Wir scheitern daran, seine Leistung für das Ganze einer gleichfalls unbekannten Ordnung zu erkennen. Sobald jedoch im Fremden das Eigene aufscheint, wird auch das Fremde vertraut. Exotisches ist fremd, weil es in seiner Ordnung unverständlich ist, unverständlich in einer Art, die anzieht oder abstößt, lockt oder schreckt. Was wir nicht verstehen, das können wir nicht benennen. Was wir nicht benennen, das beherrschen wir nicht. Das Exotische verspricht Widerstand und fordert die Unterwerfung. Der Begriff des Exotischen ist dabei dehnbar: exotisch sind ferne Länder dem Daheimgebliebenem, exotisch sind die Arbeiter dem wohlhabenden Bürger, exotisch die verruchte Frau den Männern, exotisch das eigene Ich dem Entfremdeten. Exotisch mag die Vergangenheit Ägyptens sein, exotisch auch die ferne Zukunft, exotisch die Welt der Phantasie und des Wahns. Exotisch war lange Zeit auch die Kunst und der Künstler, exotisch ist letztlich die Sprache selbst, die sich dem Wunsch nach Selbstausdruck verweigert: "toute parole est exotique." Der erste, der sich mit dem Begriff des Exotischen ernsthaft befasst hatte, Victor Segalen, ging sogar so weit, von "universellem Exotismus" zu sprechen, den er bestimmt als "die Fähigkeit anders aufzufassen." Sehr treffend heißt die deutsche Übersetzung seines Essais sur l`éxotisme daher Die Ästhetik des Diversen. Um die Jahrhundertwende ist nicht allein die Fremde Japans und Afrikas neu entdeckt worden, auch Kindheit und Geschichte wurden neu gedeutet. Im Vertrauten entdeckte man das Fremde und eignete es sich an. Franz Marc schreibt 1912 im Subskriptionsprospekt des Almanachs Der blaue Reiter von "feinen Verbindungsfäden [der neuen Kunst] mit der Gotik und den Primitiven, mit Afrika und dem großen Orient, mit der so ausdrucksstarken ursprünglichen Volkskunst und Kinderkunst".
Exotismus
Jünger als das Wort exotisch ist jene Erscheinung, die wir exotistisch nennen. Beide Begriffe werden nicht selten für gleichbedeutend gehalten und laden zur Verwechslung ein. Fremde Gegenstände nennen wir exotisch, exotistisch ist dagegen das Verfahren, das den Eindruck der Fremdheit im Rahmen einer Äußerung bezweckt. Wie jedes künstlerische Verfahren bedient sich exotistisches Schaffen bestimmter Mittel, mit denen seine Gegenstände formt: Exotismus ist die Darstellung des Fremden mit Mitteln, die Befremden auslösen. Diese Mittel haben ihre Eigengesetzlichkeit. Ein Gemälde kann den Eindruck des Exotischen bezwecken, indem es exotische Mittel und Stoffe verwendet, indem es exotische Gegenstände darstellt oder vertraute Gegenstände exotisch auffasst. Die geschriebene Sprache erzeugt den Eindruck des Exotischen durch erlesene Wortwahl, ausgefallene Wortstellung und ungewöhnliche Wortformen. Exotistisches Schreiben ist zugleich darstellend und rückbezüglich, und dies ist der verblüffende Widerspruch im exotistischen Denken. Fremdes erscheint als das ganz Andere und nähert sich zugleich in seiner Beschreibung mit vertrauten Worten dem eigenen Verständnis:
Voilà l`éxotique, l`éxotisme. Et leur paradoxe: l`autre est autre, mais somme toute identifiable. Moyennant des règles de transformation fort simples, je me retrouve en lui."
Wo aber bleibt das Fremde, wenn ich es in eigene Worte fasse? Das Exotische verlangt nach Entdeckung: sobald es entdeckt ist, ist es nicht mehr exotisch.
Einen Begriff des Exotischen, der sich über alle Formen wölbt, die Fremdes in fremdartiger Weise darstellen: es gibt ihn nicht. Stattdessen sehen wir uns umringt von Exotiken und Exotismen, die unterschiedlich Fremdes sehr verschieden behandeln und dabei eigene Verfahren ausbilden. Die geschichtliche Entwicklung der Exotismen ist geprägt vom Wandel ihrer Gegenstände und Mittel. Der indische Exotismus der Alexanderdichtungen geht über in den humanistischen Bildungs- und Neugier-Exotismus: er speist sich aus den Eroberungen der Europäer in fernen Landen. Der barocken Vorliebe für Persisches und die Chinesen folgt die Begeisterung der Aufklärer für den edlen Wilden Amerikas und der Südsee. Indien und der Orient formen dagegen das frühe neunzehnte Jahrhundert. Der französische Japonismus, gepaart mit dem Südsee-Exotismus Gauguins, gelangt um 1880 auch nach Deutschland, Chinasehnsucht und Afrikalust entfalten sich im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts. Immer neue Moden lösen einander in rascher Folge ab und machen wechselseitige Anleihen. Jede Mode hat eigene Mittel und Leitbilder. Chinanovellen spiegeln chinesische Fayencen, Japanerzählungen tragen unverkennbar die Züge des Farbholzschnitts, der Afrikaroman bedient sich kubistischer Formensprache. Gemeinsam haben sie letztlich nur dies: sie tragen Fremdes mit befremdlichen Mitteln vor, so lange, bis das Fremde ein Eigenes ist. Der Erzähler wird zum Übersetzer, der vorgibt, das Fremde zu übersetzen und jene Fremdheit sprachlich aufzuheben, die er doch selbst erzeugt.