Artaud und das Theater der Grausamkeit

Warum Artaud?

Es gibt gute Gründe, sich mit dem Theaterschaffen Artauds auseinanderzusetzen. Dazu gehören…

  • seine Vorreiterrolle für die Performance- und Aktionskunst;
  • die von Artaud geprägte Idee eines nicht-repräsentativen Theaters;
  • sein Einfluss auf Jerzy Grotowski, Rainer Werner Fassbinder und Sarah Kane;
  • seine Bedeutung für die Musik, etwa für den Komponisten Wolfgang Rihm;
  • die Rezeption durch Philosophen wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Michel Foucault und Félix Guattari.

Biographie

1896

4.9.: Antonin Marie Joseph Artaud kommt in Marseille zur Welt.

1901

Eine Gehirnhautentzündung löst ein lebenslanges Leiden aus.

1909

Erste Gedichte entstehen.

1910

Artaud liest Baudelaire und spielt erste Szenen im Kreis der Familie. Er besucht das Gymnasium der Maristenpatres und kommt mit den Formen der katholischen Liturgie in Berührung.

1920

Artaud zieht nach Paris. Versuche, seine Gedichte in der Nouvelle Revue Française zu veröffentlichen, scheitern an deren Chefredakteur Jacques Rivière.

1922

Artaud wird Schüler bei Charles Dullin und spielt im Théâtre de l’Atelier den König Basilius aus Calderons Das Leben ein Traum.

1923

März: Im Märchendrama Huon de Bordeaux von Alexandre Arnoux spielt Artaud Karl den Großen. --- Bei Simon in Paris erscheint Tric Trac du Ciel.

1925

Artaud veröffentlicht bei Gallimard L’Ombilic des limbe. --- Bei Leibovitz in Paris erscheint Le Pèse-nerfs (dt. Die Nervenwaage, 1961).

1926

In Abel Gances Film Napoléon spielt Artaud den Marat.

1929

L’Art et la Mort erscheint im Pariser Verlag Denoël.

1930

Artaud lebt in der Passauer Straße in Berlin. In G. W. Pabsts Verfilmung der Dreigroschenoper tritt Artaud als Bettlerkönig auf.

1932

Okt.: In der Nouvelle Revue Française erscheint Artauds erstes Manifest.

1933

6.4.: Artaud hält an der Sorbonne den Vortrag über Theater und Pest, die gleichermaßen das Scheingebäude der modernen Welt auflösten. --- Mai: Artaud schreibt Théâtre de Cruauté. --- Das zweite Manifest erscheint in Broschur.

1934

Artaud erscheint in Fritz Langs Film Liliom. --- Bei Denoël & Steele in Paris etrscheint Héliogabale ou l’Anarchiste couronné.

1935

Artaud gründet das Théâtre de la Cruauté und führt Cenci auf.

1936

Artaud bereist Irland und Mexiko. In Nordmexiko lebt er bei den Tarahumara-Indianern und experimentiert mit Peyote.

1937

Artauds psychische Erkrankung führt zu wiederholten Einweisungen in psychiatrische Anstalten.

1938

Bei Gallimard erscheint Artauds Le Théâtre et son double (dt.: Das Theater und sein Double, 1969). Als Gegenstück des Theaters erscheinen Metaphysik, Mythos und Grausamkeit.

1943

Aus der Anstalt in Rodez wendet sich Artaud brieflich an Hitler. --- Dort entsteht die Révolte Contre La Poésie.

1946

Freunde treten für Artauds Entlassung aus dem Asile d'aliénés de Paraire in Rodez ein. Die Lettres de Rodez erscheinen.

1947

Das Radiostück Pour en finir avec le jugement de dieu (dt.: Schluss mit dem Gottesgericht) wird ausgestrahlt. --- Artaud prangert in einem Vortrag die Zustände in der Psychiatrie an. --- Ci-gît, précédé de la Culture indienne und Artaud le Mômo erscheinen.

1948

16.1.: Artaud erhält den Prix Sainte-Beuve für Van Gogh le suicidé de la société. --- 4.3.: Der an einem Krebs des Mastdarms erkrankte Artaud stirbt in Paris an der Überdosis eines Medikaments.

Grundprinzipien von Artauds Inszenierungen

  • Artaud setzt sich mit dem Kino auseinander, dessen flächenhafte Bildwirkung er der Raumwirkung seiner Inszenierungen übertreffen möchte;
  • die Handlung soll in einem Sinne „grausam“ sein, dass sie unmittelbar (körperlich) trifft und ergreift, dass sie konsequent die Notwendigkeit einer Sache vorstellt und die Entschlossenheit und Lebensgier dessen, der sie ausführt; mit Blut und Gewalt hat Artauds Begriff von Grausamkeit nichts zu tun;
  • die Stücke werden auf der Bühne entwickelt und erst im Nachhinein aufgezeichnet;
  • das Schauspiel ist als Ritus wichtiger als das Publikum;
  • entwickelt werden sollen Stücke aus folgenden Stoff- und Themenkreisen: Shakespeare und seine Zeitgenossen; die Eroberung Jerusalems; Blaubart, nach den Quellen rekonstruiert; ein Auszug aus dem Zohar; Melodramen der Romantik; eine Erzählung des Marquis de Sade; Woyzeck;
  • die Sujets sollen die Erregtheit der Zeit (der Dreißiger) treffen;
  • dabei soll nicht die Moderne imitiert werden, sondern die kosmologischen Mythen hinduistischen, altiranischen, jüdischen und präkolumbianischen Ursprungs;
  • Traum und Ratio, Vorstellung und Wirklichkeit sollen auf der Bühne gleichrangig sein;
  • Wirkkräfte des Zufalls und des Schicksals, aber auch geschichtliche Prozesse, werden durch Heroen und Götter inkorporiert;
  • Artauds Schauspiel ist synästhetisch: akustische Phänomene sollen auf verwandte optische oder textuelle Phänomene ausstrahlen und diese auslösen;
  • Theater soll nicht elitär sein, sondern den Menschen an sich, in seinen Begierden ansprechen, seine Sensibilität wecken.

Besonderheiten der Theaterkonzeption

  • Bühnenbild: Meterhohe Puppen (nach Artaud: zehn Meter hohe), riesige Masken, überraschend proportionierte und dimensionierte Gegenstände, mannshohe Musikinstrumente, neuartige und verblüffende Gegenstände ohne klar erkennbare Funktion; das Bühnenbild ist im Fluss, verändert sich ständig;
  • Schauspiel: Ein wichtiges Mittel sind rhythmisierte Bewegungen des Körpers, die sich verlangsamen und beschleunigen; Mimik und Gestik soll sich vom psychologischen Ausdruck lösen und katalogisierbar sein; symbolische Gebärden sollen (wie die Sprache) aus Fehlleistungen entwickelt werden; Improvisation und individuelle Interpretation der Rolle ist untersagt, Vorrang hat die Gesamtwirkung des Ensembles;
  • Akustische Ausdrucksmittel: Artaud setzt Klagen, Schreie und abrupte Stille ein, aber auch seltene musikalische Noten; Harmonien können gebrochen werden und durch Dissonanzen ersetzt; auch Vibration und Wiederholung sind bedeutsam; es sollen veraltete (und daher unbekannte) oder neu erfundene Musikinstrumente eingesetzt werden, die mit ihren Kakophonien das Publikum martern – insbesondere Metallophone sind wichtig; insbesondere Raum und Klang sollen ins Verhältnis gesetzt werden – Geräusche (und Handlungen) entstehen plötzlich und setzen sich im Raum fort;
  • Beleuchtung: Typisch für Artauds Theatervorstellungen sind überraschende Lichtwechsel und ein intensives Arbeiten mit der Lichttemperatur; insbesondere die psychologische Wirkung des Lichts muss mitbedacht werden;
  • Kostüm: Bevorzugt werden traditionell Theaterkostüme, die im Ritus ihre „offenbarende“ Wirkung entfalten;
  • Theaterbau: Theater findet in einem profanen Bau (Scheune etc.) statt, der nach den Erfordernissen des Theaters eingerichtet wird; die Zuschauer sitzen auf drehbaren Stühlen in der Mitte, das Schauspiel ereignet sich rund um sie her, teilweise auf Galerien, die den ganzen Raum einrahmen; in den vier Himmelsrichtungen des Raums sind den Schauspielern bestimmte Orte vorbehalten; gespielt wird vor kalkgetünchten Wänden, dass die Lichtwirkung sich besser entfalten kann; in der Mitte ist ein freier Raum der Haupthandlung vorbehalten;
  • Inszenierung: Autorschaft und Regie fallen zusammen; es werden keine als Text vorliegende Stücke gespielt;
  • Sprache: Die Stimme hat Vorrang vor der Sprache; die Bedeutung der Worte soll der der Sprache im Traum gleichen, aufgezeichnet werden soll in Form von Chiffren.

Bibliographie

  • Mattheus, Bernd: Antonin Artaud: 1896 – 1948: Leben und Werk des Schauspielers, Dichters und Regisseurs [anläßlich der Ausstellung „Hommage à Antonin Artaud“, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 7. September bis 17. November 2002]. Wien: Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, 2002 (erw. Neuausg.)
  • Reyer, Sophie: Antonin Artaud: Genie und Abgrund. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020
  • Derrida, Jacques: Artaud Moma: Ausrufe, Zwischenrufe und Berufungen. Wien: Passagen-Verl., 2003
  • Artaud, Antonin: Werke in Einzelausgaben. München: Matthes & Seitz, 1990 u. ö.
  • Mamardašvili, Merab: Die Metaphysik Antonin Artauds. Berlin: Matthes & Seitz, 2018
  • Blüher, Karl Alfred: Antonin Artaud und das „Nouveau Théâtre“ in Frankreich. Tübingen: Narr, 1991 (Acta Romanica; 3)
  • Plocher, Hanspeter: Der lebendige Schatten: Untersuchungen zu Antonin Artauds „Théâtre de la Cruauté“. Bern e. a. l.: Lang, 1974